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Strafklageverbrauch bei Brandstiftung: Keine erneute Verfolgung nach Drogenurteil

Ein Jugendlicher gestand vor dem Amtsgericht Reutlingen die versuchte Brandstiftung, trotzdem stellte das Gericht das Verfahren ein. Grund dafür: Die schwere Tat galt rechtlich als einheitlicher Lebensvorgang mit seiner früheren Verurteilung wegen Drogenbesitzes.

Zum vorliegenden Urteil Az.: 5 Ds 57 Js 5986/24 jug | Schlüsselerkenntnis | FAQ  | Glossar  | Kontakt

Das Wichtigste in Kürze

  • Gericht: Amtsgericht Reutlingen
  • Datum: 28.02.2025
  • Aktenzeichen: 5 Ds 57 Js 5986/24 jug, 5 Ds 57 Js 25800/24 jug, 5 Ds 57 Js 26504/24 jug, 5 Ds 57 Js 2357/25 jug
  • Verfahren: Jugendstrafverfahren
  • Rechtsbereiche: Strafrecht, Jugendstrafrecht

  • Das Problem: Ein junger Mann wurde wegen versuchter schwerer Brandstiftung, Sachbeschädigung und mehrfachem Schwarzfahren angeklagt. Die Brandstiftung war zeitlich eng mit Drogenbesitz verbunden, für den er bereits früher verurteilt wurde.
  • Die Rechtsfrage: Darf die Staatsanwaltschaft die Brandstiftung und die Sachbeschädigung verfolgen, wenn ein früherer Prozess wegen Drogenbesitzes bereits den gesamten einheitlichen Lebensvorgang abdeckte?
  • Die Antwort: Nein. Die Verfolgung der Brandstiftung und Sachbeschädigung musste eingestellt werden. Das Gericht sah den Drogenbesitz und die Brandlegung als einen einzigen Lebensvorgang an, der bereits rechtskräftig abgeurteilt war.
  • Die Bedeutung: Das grundgesetzliche Verbot der Doppelbestrafung schützt Bürger davor, wegen Teilen eines Geschehens erneut angeklagt zu werden, wenn der gesamte Zusammenhang bereits in einem früheren Urteil berücksichtigt wurde.

Warum eine Brandstiftung trotz Geständnis nicht bestraft werden durfte: Der Grundsatz des Strafklageverbrauchs

Ein junger Mann legt ein Geständnis ab: Er hat nachts Müllsäcke neben einem Wohnhaus angezündet und dabei billigend in Kauf genommen, dass die Flammen auf das Gebäude übergreifen. Ein klarer Fall von versuchter schwerer Brandstiftung, so scheint es.

Zwei junge Männer entzünden in der dunklen Gasse Müllsäcke, deren helle Flammen schnell an der steinernen Hausfassade emporsteigen.
Strafklageverbrauch verhinderte Ahndung der Brandstiftung trotz Geständnis des Angeklagten. | Symbolbild: KI

Doch das Amtsgericht Reutlingen sprach in seinem Urteil vom 28. Februar 2025 (Az. 5 Ds 57 Js 5986/24 jug u.a.) kein Urteil für diese Tat, sondern stellte das Verfahren ein. Der Grund liegt in einem fundamentalen Prinzip des deutschen Rechtsstaats, das mächtiger ist als jedes Geständnis: dem Verbot der Doppelbestrafung. Der Fall entfaltet die komplexe Frage, wann zwei scheinbar unterschiedliche Straftaten – Drogenbesitz und Brandstiftung – juristisch als ein einziges, untrennbares Ereignis gelten und was das für die Strafverfolgung bedeutet.

Was war genau geschehen?

Der Angeklagte, ein junger Mann ohne abgeschlossene Ausbildung und seit kurzem arbeitslos, war der Justiz bereits bekannt. Am 24. November 2023 war er wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln verurteilt worden. Die nun verhandelten Vorwürfe umfassten zwei unterschiedliche Komplexe. Zum einen wurde ihm vorgeworfen, zwischen Dezember 2023 und September 2024 viermal beim Schwarzfahren in Reutlinger Bussen erwischt worden zu sein. Diese Taten, das sogenannte Erschleichen von Leistungen, räumte er umgehend ein.

Im Zentrum des Verfahrens stand jedoch eine Nacht im Juli des Vorjahres. Am 19. Juli 2023, kurz nach Mitternacht, zündete der Angeklagte zusammen mit einem Komplizen in Eningen mehrere Müllsäcke an, die direkt an der Fassade eines Wohn- und Geschäftsgebäudes abgestellt waren. Er war sich der Gefahr bewusst, dass das Feuer auf das Haus übergreifen könnte. Nur durch das schnelle Eingreifen der Feuerwehr wurde eine Katastrophe verhindert. Dennoch entstand durch Hitze und Ruß ein erheblicher Sachschaden von über 7.000 Euro an Fassade, Fenster und Gehweg.

Kurz nach der Tat wurde der Angeklagte von der Polizei in der Nähe des Brandortes kontrolliert. Bei der Durchsuchung fanden die Beamten bei ihm nicht nur ein Feuerzeug, sondern auch etwas mehr als drei Gramm Marihuana. Genau dieser Drogenfund sollte sich als der juristische Dreh- und Angelpunkt des gesamten Falles erweisen.

Welches juristische Prinzip stand im Zentrum der Entscheidung?

Das Herzstück dieser Gerichtsentscheidung ist ein eher selten in der Öffentlichkeit diskutiertes, aber für den Rechtsstaat elementares Prinzip: der Strafklageverbrauch. Er wurzelt direkt im Grundgesetz, genauer in Artikel 103 Absatz 3, der besagt: „Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.“ Dieser Grundsatz, auch bekannt als „ne bis in idem“ (nicht zweimal in derselben Sache), schützt den Einzelnen davor, dass der Staat ihn für ein und dasselbe Verhalten immer wieder zur Rechenschaft zieht.

Doch was ist „dieselbe Tat“? Das Strafprozessrecht definiert diesen Begriff in § 264 der Strafprozessordnung (StPO) sehr weit. Eine „Tat im prozessualen Sinne“ ist nicht nur die einzelne, im Gesetz beschriebene Handlung (wie Diebstahl oder Brandstiftung). Sie umfasst vielmehr den gesamten zusammenhängenden Lebensvorgang, der einem einheitlichen kriminellen Verhalten zugrunde liegt. Man kann es sich als ein einzelnes Kapitel im Leben des Täters vorstellen. Wenn die Justiz über einen Teil dieses Kapitels bereits rechtskräftig geurteilt hat, ist das gesamte Kapitel für eine weitere Strafverfolgung tabu. Die Strafklage ist dann „verbraucht“. Genau diese Frage musste das Gericht für die Ereignisse der Brandnacht klären.

Warum sah das Gericht hier eine einzige Tat – und nicht zwei getrennte?

Die Staatsanwaltschaft vertrat die naheliegende Position: Brandstiftung und Drogenbesitz sind zwei völlig unterschiedliche Delikte. Das eine gefährdet Leben und Eigentum, das andere verstößt gegen das Betäubungsmittelgesetz. Sie sah daher zwei getrennte Taten, die auch getrennt verfolgt werden könnten. Das Gericht folgte dieser Argumentation jedoch nicht und begründete seine Sichtweise mit einer Kette von logischen Schritten.

Der unauflösliche zeitliche und räumliche Zusammenhang

Für das Gericht war entscheidend, dass der Drogenbesitz und die Brandstiftung nicht nur zufällig am selben Abend stattfanden. Der Angeklagte hatte das bei ihm gefundene Marihuana bereits bei sich, als er die Müllsäcke anzündete. Die Richter schlossen es als lebensfremd aus, dass er sich die Drogen erst in der kurzen Zeitspanne zwischen der Tat und der Polizeikontrolle besorgt haben könnte, zumal er beobachtet wurde. Der Drogenbesitz war also kein nachträgliches, isoliertes Ereignis, sondern begleitete die Brandlegung von Anfang an. Dieser enge zeitliche und örtliche Zusammenhang war der erste Baustein für die Annahme eines einheitlichen Lebensvorgangs.

Die innere Verbindung: Wie der Drogenkonsum die Tat mitverursachte

Das Gericht ging aber noch einen entscheidenden Schritt weiter. Es sah nicht nur eine äußere, sondern auch eine innere, motivierende Verknüpfung. Gestützt auf forensische Erkenntnisse zur Wirkung von Cannabis führte das Gericht aus, dass der Konsum typischerweise zu psychischer Enthemmung und einer veränderten Risikowahrnehmung führen kann. Das ziellose Umherstreifen und das gedankenlose „Zündeln“ des Angeklagten passten genau in dieses Bild. Der Drogenbesitz war demnach nicht nur ein passiver Zustand, sondern der Drogenkonsum war eine wahrscheinliche Mitursache für die brandgefährliche Tat. Dieser funktionale Zusammenhang schweißte beide Verhaltensweisen endgültig zu einer prozessualen Einheit zusammen.

Warum die materielle Unterscheidung der Delikte nicht zählte

Die Staatsanwaltschaft hätte einwenden können, dass Brandstiftung und Drogenbesitz materiell-rechtlich völlig unterschiedliche Unrechtstatbestände sind. Juristisch spricht man hier von Realkonkurrenz. Doch das Gericht stellte klar, dass diese materiell-rechtliche Einordnung für die prozessuale Frage unerheblich ist. Unter Berufung auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und anderer Obergerichte (u.a. BGH, Beschl. v. 09.11.2022 – 2 StR 386/21) gilt: Selbst völlig verschiedene Delikte können eine einzige prozessuale Tat bilden, wenn sie durch die Umstände des Einzelfalls so eng miteinander verwoben sind, dass eine getrennte Betrachtung künstlich und unnatürlich wäre.

Die Verfassung als unüberwindbare Schranke

Da der Angeklagte bereits am 24. November 2023 wegen unerlaubten Drogenbesitzes verurteilt worden war und dieser Tatzeitraum den Vorfall vom 19. Juli 2023 umfasste, war ein Teil des einheitlichen Lebensvorgangs bereits rechtskräftig abgeurteilt. Damit trat die Sperrwirkung des Art. 103 Abs. 3 GG ein. Der Staat hatte seine eine Chance zur Strafverfolgung dieses „Kapitels“ bereits genutzt. Eine erneute Anklage – selbst für den ungleich schwerwiegenderen Vorwurf der versuchten Brandstiftung – war damit ausgeschlossen. Das Verfahren musste zwingend eingestellt werden. Das Gericht handelte also nicht aus Milde, sondern aus verfassungsrechtlicher Notwendigkeit.

Für die vier Fälle des Schwarzfahrens galt dies nicht. Sie stellten eigenständige Lebensvorgänge dar und wurden daher geahndet. Der Angeklagte wurde schuldig gesprochen und erhielt nach Jugendstrafrecht (§ 105 JGG) erzieherische Weisungen, darunter eine Betreuungsweisung, die Auflage, eine Ausbildung zum „Brandhelfer“ zu absolvieren, sowie 300 Stunden gemeinnützige Arbeit.

Welche Lehren lassen sich aus diesem Urteil ziehen?

Dieses Urteil illustriert eindrücklich den fundamentalen Unterschied zwischen dem alltäglichen Verständnis einer „Tat“ und dem juristischen Konzept der „Tat im prozessualen Sinne“. Für die Justiz ist nicht die einzelne strafrechtliche Etikettierung entscheidend, sondern der zusammenhängende Lebenssachverhalt. Das Rechtssystem betrachtet ein Geschehen als Ganzes und verbietet es dem Staat, sich einzelne, besonders anklagenswerte Aspekte herauszupicken, nachdem über einen anderen Teil desselben Vorgangs bereits entschieden wurde. Dies schützt den Bürger vor einer Zermürbung durch wiederholte Verfahren.

Die Entscheidung offenbart zudem die weitreichenden und manchmal paradoxen Konsequenzen eines rechtskräftigen Urteils. Eine Verurteilung, selbst für ein auf den ersten Blick geringeres Delikt wie den Besitz einer kleinen Menge Drogen, kann eine unüberwindbare prozessuale Hürde für die Verfolgung weitaus schwererer Verbrechen schaffen, wenn diese aus demselben Lebensvorgang stammen. Es unterstreicht die enorme Verantwortung der Staatsanwaltschaften, von Anfang an einen Sachverhalt in seiner Gesamtheit zu erfassen und anzuklagen, denn eine zweite Chance gibt es laut Verfassung nicht.

Die Urteilslogik

Der Grundsatz des Strafklageverbrauchs schützt den Bürger, indem er die Macht der Verfassung über die Schwere des tatsächlichen Verbrechens stellt.

  • [Die Prozessuale Tat definiert den Lebensvorgang]: Das Strafverfahren fasst mehrere materiell verschiedene Delikte zu einer einzigen prozessualen Tat zusammen, wenn diese durch einen engen zeitlichen, räumlichen und motivationalen Zusammenhang als unauflösliches Ereignis erscheinen.
  • [Vorverurteilung erzeugt Sperrwirkung]: Hat der Staat einen Teil eines einheitlichen Lebensvorgangs rechtskräftig abgeurteilt, tritt der Strafklageverbrauch für den gesamten Vorgang ein; die Verfassung schließt selbst die Verfolgung schwerwiegenderer, unentdeckter Delikte unwiderruflich aus.

Der Rechtsstaat bindet die Justiz an das Verbot der Doppelbestrafung und zwingt die Staatsanwaltschaft, einen Sachverhalt von Beginn an in seiner vollen, prozessualen Breite zu erfassen.


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Experten Kommentar

Die Justiz hatte hier eine Chance, und sie hat sie vertan. Der Fall zeigt glasklar, dass man als Strafverfolger einen Sachverhalt von Anfang an in seiner gesamten Breite beurteilen muss. Weil der Drogenbesitz zur gleichen Zeit und im selben Kontext stattfand und sogar die Brandstiftung mitverursachte, wurden beide Taten juristisch zu einem unteilbaren Lebensvorgang verschmolzen. Sobald der Staat einen kleinen Teil dieses Vorgangs bereits rechtskräftig aburteilt, ist das gesamte Kapitel verbraucht – selbst wenn die viel schwerere Brandstiftung noch offen war. Das ist die unerbittliche Konsequenz des Doppelbestrafungsverbots: Einmal verurteilt, gibt es keine zweite Chance für die Verfolgung desselben Ereignisses.


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Häufig gestellte Fragen (FAQ)

Wann schützt mich das Doppelbestrafungsverbot vor einer weiteren Anklage?

Das Doppelbestrafungsverbot schützt Sie, sobald die Justiz über den gesamten, zusammenhängenden Lebensvorgang rechtskräftig entschieden hat. Dieser Schutz basiert auf Art. 103 Abs. 3 des Grundgesetzes („ne bis in idem“) und verhindert, dass der Staat Sie für dieselbe Tat mehrmals zur Rechenschaft zieht. Entscheidend ist dabei die prozessuale Definition der Tat, nicht die materiell-rechtliche Schwere der Delikte. Der Staat hat nach der Rechtskraft des ersten Urteils seine Chance zur Verfolgung dieses gesamten Sachverhalts verbraucht.

Die verfassungsrechtliche Garantie bindet die Justiz, nachdem ein Urteil in einem Fall unwiderruflich geworden ist. Juristisch relevant ist die sogenannte „Tat im prozessualen Sinne“ (§ 264 StPO). Diese umfasst nicht nur das spezifisch angeklagte Delikt, sondern den gesamten Lebensvorgang, der einem einheitlichen kriminellen Verhalten zugrunde liegt und zeitlich sowie räumlich eng verbunden war. Die Justiz muss diesen gesamten Sachverhalt erfassen; eine spätere, separate Anklage ist dann unzulässig.

Die Sperrwirkung tritt selbst dann ein, wenn die Staatsanwaltschaft bei der ersten Anklage nur einen geringeren Aspekt des gesamten Geschehens verfolgte. Nehmen wir an, eine Verurteilung wegen eines kleinen Drogenbesitzes ist rechtskräftig. Gehörte dieser Drogenfund zum selben engen Lebensvorgang wie eine zeitgleiche, aber viel schwerere Straftat (wie Brandstiftung), dann ist die Strafklage für die Brandstiftung ebenfalls verbraucht. Die unterschiedliche materielle Bezeichnung der Delikte verhindert den Schutz in diesem Fall nicht.

Fordern Sie sofort eine Kopie des rechtskräftigen Urteils oder des Einstellungsbeschlusses der ersten Verurteilung an und markieren Sie das dort genannte Tatdatum und den präzisen Sachverhalt.


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Wann gelten meine unterschiedlichen Straftaten als einheitlicher Lebensvorgang?

Die Justiz betrachtet mehrere Straftaten dann als einheitlicher Lebensvorgang (oder prozessuale Tat), wenn sie so eng miteinander verknüpft sind, dass eine getrennte Betrachtung künstlich wäre. Entscheidend ist nicht nur die zeitliche und räumliche Nähe, sondern vor allem die innere, funktionale Verbindung zwischen den Delikten. Diese juristische Einheit ist die zwingende Voraussetzung für den Schutz vor Doppelbestrafung.

Die Basis bildet stets der unauflösliche zeitliche und räumliche Zusammenhang. Die Handlungen müssen kurz hintereinander und am selben oder einem sehr nahegelegenen Ort stattgefunden haben. Die entscheidende Hürde ist jedoch die innere Verbindung, bei der Gerichte einen kausalen oder motivierenden Zusammenhang feststellen müssen. Es geht darum, ob das eine Verhalten, wie beispielsweise der Drogenkonsum, das andere Delikt, wie die anschließende Brandstiftung, mitverursacht oder zumindest begleitet hat.

Konkret: Im Fall des Gerichts Reutlingen sahen die Richter Drogenbesitz und Brandstiftung als prozessuale Einheit an, weil der Drogenbesitz direkt am Brandort stattfand. Das Gericht argumentierte, dass der Konsum die Enthemmung des Täters verstärkte und somit eine wahrscheinliche Mitursache für das gedankenlose Zündeln war. Weil der gesamte Sachverhalt juristisch als ein einziges Kapitel gilt, muss ausgeschlossen werden, dass zwei getrennte Verfahren unnatürlich erscheinen.

Dokumentieren Sie bei strittigen Vorfällen die exakte Abfolge, Uhrzeiten und räumliche Distanzen, um den zusammenhängenden Lebensvorgang zu beweisen.


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Wie stoppt eine Vorverurteilung die spätere Anklage wegen eines schwereren Delikts?

Sobald eine frühere Verurteilung rechtskräftig ist und den Tatzeitpunkt sowie den Tatort des schwereren Delikts abdeckt, tritt die sogenannte Sperrwirkung ein. Diese Vorverurteilung verbraucht die gesamte Strafklage für diesen Lebensvorgang. Der Staat hat damit seine Chance verpasst, das Verbrechen in seiner vollen Tragweite zu verfolgen. Dies verhindert eine zweite Anklage, selbst wenn das ursprüngliche Urteil nur eine Bagatelle betraf.

Das Strafprozessrecht betrachtet eine Tat nach § 264 StPO nicht nur als einzelnes Delikt, sondern als einen einheitlichen Lebensvorgang. Über diesen gesamten Vorgang muss die Justiz grundsätzlich in einem einzigen Verfahren entscheiden. Wurde bereits über einen Teil dieses Vorgangs – etwa wegen eines geringfügigen Drogenbesitzes – rechtskräftig geurteilt, ist die Strafklage für alle anderen dazugehörigen Aspekte unwiderruflich verbraucht. Dies schließt auch die Verfolgung schwerwiegenderer Verbrechen ein, die zeitgleich stattfanden oder ursächlich mit dem ersten Delikt verbunden waren.

Die Konsequenz dieser Regel ist oft paradox und scheint auf den ersten Blick ungerecht. Nehmen wir an, ein Angeklagter wird zunächst nur wegen Drogenbesitzes verurteilt. Stellt sich später heraus, dass er zeitgleich auch eine versuchte Brandstiftung begangen hat und beide Taten innerlich verknüpft waren, muss das neue Verfahren zwingend eingestellt werden. Die frühere, vielleicht unvollständige Anklage bindet die Justiz. Die paradoxe Konsequenz ist, dass der Staat ein Verbrechen nicht mehr verfolgen kann, auch wenn die Beweislage später erdrückend ist.

Um sich erfolgreich zu verteidigen, vergleichen Sie die Sachverhaltsbeschreibung der neuen Anklage präzise mit dem bereits ergangenen Urteil, um die Überschneidung im Lebensvorgang nachzuweisen.


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Was tun, wenn die Staatsanwaltschaft den Strafklageverbrauch ignoriert?

Wenn Sie trotz eines rechtskräftigen Urteils erneut wegen desselben Sachverhalts angeklagt werden, müssen Sie sofort handeln. Der Strafklageverbrauch ist ein zwingendes Verfahrenshindernis, das die Justiz nicht ignorieren darf. Ihr Rechtsanwalt muss diesen Umstand unverzüglich bei Gericht geltend machen. Das Gericht ist aufgrund des Grundgesetzes (Art. 103 Abs. 3 GG) verfassungsrechtlich zur Einstellung des Verfahrens verpflichtet.

Der Grundsatz des „ne bis in idem“ schützt Bürger wirksam vor der Zermürbung durch wiederholte staatliche Verfolgung. Der Strafklageverbrauch stellt ein absolutes Verfahrenshindernis dar, welches das Gericht in jedem Verfahrensstadium von Amts wegen prüfen muss. Die Staatsanwaltschaft mag die prozessuale Einheit der Taten verneinen, aber das Gericht muss die Rechtskraft des früheren Urteils anerkennen. Die Verfassung erzwingt in diesem Fall die Einstellung des Verfahrens; es handelt sich nicht um eine Frage des richterlichen Ermessens.

Konkret müssen Sie beweisen, dass die neue Anklage denselben Lebensvorgang betrifft, der bereits abgeurteilt wurde. Übermitteln Sie Ihrem Verteidiger die vollständige Anklageschrift und das rechtskräftige Urteil der ersten Verurteilung. Ihr Anwalt rügt das Verfahrenshindernis dann formal und beantragt die Einstellung. Steht die prozessuale Einheit der Tat im Sinne des § 264 StPO fest, muss das Gericht die neue Anklage zwingend zurückweisen, selbst wenn es sich um ein ungleich schwereres Delikt handelt.

Übermitteln Sie Ihrem Rechtsanwalt unverzüglich alle Dokumente der ersten Verurteilung, damit dieser das Verfahrenshindernis formal bei Gericht geltend machen und die Einstellung beantragen kann.


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Kann eine kleine Verurteilung mich später vor der Strafe für ein schwereres Verbrechen schützen?

Ja, diese paradoxe Situation kann eintreten. Der Schutz ergibt sich aus dem Prinzip des Strafklageverbrauchs. Sobald über einen Teil eines zusammenhängenden Geschehens rechtskräftig entschieden wurde, gilt der gesamte Sachverhalt juristisch als abgeurteilt. Selbst wenn die Justiz nur ein Bagatelldelikt verurteilte, verhindert dies die Verfolgung eines später entdeckten, schwereren Verbrechens.

Dieser weitreichende Schutz fußt auf Verfassungsrecht, konkret auf Art. 103 Abs. 3 GG, der eine Doppelbestrafung verbietet. Die Rechtssicherheit des Bürgers hat dabei Vorrang vor der Schwere des zunächst unentdeckten Delikts. Gerichte prüfen, ob die geringere Tat und das schwere Verbrechen einen sogenannten einheitlichen Lebensvorgang bildeten. Dies erfordert neben einem engen zeitlichen und räumlichen Rahmen oft eine funktionale Verknüpfung, bei der das eine Delikt ursächlich zur Begehung des anderen beitrug.

Nehmen wir an, der Besitz kleiner Mengen Drogen führte zur Enthemmung, welche die anschließende Brandstiftung mitverursachte. In diesem Fall verbrauchte das Urteil wegen des Drogenbesitzes die gesamte Strafklage für die Nacht. Trotz erdrückender Beweislage für die Brandstiftung darf der Staat diese nicht mehr ahnden. Das Rechtssystem betrachtet ein Geschehen als Ganzes und verbietet es, nur die besonders anklagenswerten Aspekte herauszupicken.

Bewerten Sie kritisch, welche Delikte in Ihrer Akte das Gericht als ‚eigenständige Lebensvorgänge‘ und welche als unauflöslichen Zusammenhang einstufen muss, um die Grenzen des Schutzes zu definieren.


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Hinweis: Bitte beachten Sie, dass die Beantwortung der FAQ Fragen keine individuelle Rechtsberatung darstellt und ersetzen kann. Alle Angaben im gesamten Artikel sind ohne Gewähr. Haben Sie einen ähnlichen Fall und konkrete Fragen oder Anliegen? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren. Wir klären Ihre individuelle Situation und die aktuelle Rechtslage.


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Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt

Doppelbestrafungsverbot (ne bis in idem)

Das Doppelbestrafungsverbot, juristisch als „ne bis in idem“ bekannt, ist eine verfassungsrechtliche Garantie, die sicherstellt, dass niemand wegen desselben Sachverhalts mehrmals strafrechtlich verfolgt oder bestraft wird. Dieser Artikel 103 Absatz 3 des Grundgesetzes schützt den Bürger vor einer zermürbenden, unendlichen Verfolgung durch den Staat, sobald ein Urteil rechtskräftig geworden ist.

Beispiel:
Selbst wenn die Staatsanwaltschaft neue Beweise findet, kann sie den Angeklagten wegen der bereits abgeurteilten Tat im prozessualen Sinne aufgrund des Doppelbestrafungsverbots nicht erneut anklagen.

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Erschleichen von Leistungen

Juristen bezeichnen mit dem Erschleichen von Leistungen (§ 265a StGB) die Inanspruchnahme einer Dienstleistung – typischerweise die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel oder von Einrichtungen – ohne dafür die vorgeschriebene Gegenleistung zu erbringen. Das Gesetz definiert diese Handlung als Straftat, um die Leistungsbereitschaft und das Vertrauen in funktionierende Dienstleistungssysteme wie den öffentlichen Nahverkehr zu schützen.

Beispiel:
Die viermalige Fahrt mit dem Bus in Reutlingen ohne gültigen Fahrschein stellte für den Angeklagten den Tatbestand des Erschleichens von Leistungen dar, welcher als eigenständiger Lebensvorgang separat geahndet wurde.

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Realkonkurrenz

Realkonkurrenz beschreibt die Situation, in der ein Täter durch mehrere voneinander unabhängige Handlungen mehrere unterschiedliche Straftatbestände verwirklicht, beispielsweise einen Einbruch und eine anschließende Körperverletzung an verschiedenen Orten. Das Strafrecht nutzt diese Einordnung, um bei der Strafzumessung zu berücksichtigen, dass der Täter durch sein Verhalten mehrere unterschiedliche Unrechtsnormen verletzt hat.

Beispiel:
Die Staatsanwaltschaft argumentierte zunächst, dass Brandstiftung und Drogenbesitz zwei getrennte, in Realkonkurrenz zueinander stehende Delikte seien, da sie unterschiedliche materielle Rechtsgüter verletzten.

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Sperrwirkung

Die Sperrwirkung ist die unmittelbare rechtliche Konsequenz des Strafklageverbrauchs: Sie blockiert unwiderruflich jede weitere Strafverfolgung durch den Staat für den gesamten, bereits rechtskräftig abgeurteilten Lebensvorgang. Diese unüberwindbare rechtliche Hürde zwingt die Justiz, ein Verfahren einzustellen, selbst wenn die neue Anklage ein ungleich schwereres Verbrechen betrifft.

Beispiel:
Nachdem das Urteil wegen des Drogenbesitzes rechtskräftig geworden war, trat die Sperrwirkung ein und verhinderte die Verfolgung der zeitgleich stattgefundenen versuchten schweren Brandstiftung.

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Strafklageverbrauch

Juristen nennen es Strafklageverbrauch, wenn die Strafverfolgungsbehörden nach einem rechtskräftigen Urteil ihre Befugnis, einen bestimmten Lebensvorgang anzuklagen, endgültig verloren haben. Dieses elementare Prinzip sorgt für Rechtssicherheit und beendet die Möglichkeit der Justiz, über einen einmal abgeschlossenen Sachverhalt erneut zu urteilen, da der Staat seine eine Chance zur Verfolgung genutzt hat.

Beispiel:
Der richterliche Beschluss zur Einstellung des Brandstiftungsverfahrens am Amtsgericht Reutlingen basierte direkt auf dem festgestellten Strafklageverbrauch, da die Tat bereits durch die frühere Drogenverurteilung abgegolten war.

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Tat im prozessualen Sinne

Die Tat im prozessualen Sinne ist der umfassende juristische Begriff, der nicht nur das einzelne Delikt, sondern den gesamten zusammenhängenden Lebensvorgang meint, der einem einheitlichen kriminellen Verhalten zugrunde liegt. Das Strafprozessrecht (§ 264 StPO) weitet den Begriff der Tat bewusst aus, um sicherzustellen, dass das Doppelbestrafungsverbot den Bürger umfassend vor einer künstlichen Aufsplitterung des Geschehens schützt.

Beispiel:
Das Gericht sah den Drogenbesitz und die Brandstiftung als eine einzige Tat im prozessualen Sinne an, da sie räumlich, zeitlich und funktional unauflöslich miteinander verwoben waren.

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Das vorliegende Urteil


AG Reutlingen – Az.: 5 Ds 57 Js 5986/24 jug, 5 Ds 57 Js 25800/24 jug, 5 Ds 57 Js 26504/24 jug, 5 Ds 57 Js 2357/25 jug – Urteil vom 28.02.2025


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