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Abwägung der Meinungsfreiheit mit Persönlichkeitsrecht: Wann ist Kritik strafbar?

Die strafrechtliche Verfolgung wegen der Bezeichnung „Volksverräter“ erforderte eine Abwägung der Meinungsfreiheit mit dem Persönlichkeitsrecht. Das Urteil der Vorinstanz war ein Freispruch, doch dieser wurde kassiert – gerade weil die notwendige Abwägung fehlte.

Zum vorliegenden Urteil Az.: 205 StRR 162/22 | Schlüsselerkenntnis | FAQ  | Glossar  | Kontakt

Das Wichtigste in Kürze

  • Gericht: Bayerisches Oberstes Landesgericht
  • Datum: 09.08.2022
  • Aktenzeichen: 205 StRR 162/22
  • Verfahren: Revision im Strafverfahren
  • Rechtsbereiche: Strafrecht, Meinungsfreiheit, Persönlichkeitsrecht

  • Das Problem: Ein Bürger wurde wegen Beleidigung durch ein politisches Flugblatt („Volksverräter“) freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft hielt diesen Freispruch für juristisch fehlerhaft.
  • Die Rechtsfrage: Ist ein Freispruch zulässig, wenn ein Gericht bei politisch scharfer Kritik nicht konkret abwägt, ob die Meinungsfreiheit den Schutz der Ehre überwiegt?
  • Die Antwort: Nein. Das höhere Gericht hat den Freispruch aufgehoben. Das Landgericht hat die notwendige, grundrechtlich geforderte Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz unterlassen.
  • Die Bedeutung: Der Schutz der Meinungsfreiheit rechtfertigt beleidigende Äußerungen nicht automatisch. Richter müssen in jedem Fall sorgfältig und detailliert prüfen, ob die Äußerung strafbar ist oder nicht.

Meinungsfreiheit: Ist „Volksverräter“ strafbar?

Die Bezeichnung „Volksverräter“ ist eines der schärfsten Worte im politischen Arsenal. Doch wann überschreitet sie die Grenze von zulässiger Kritik zur strafbaren Beleidigung? Ein Freispruch des Landgerichts München I in einem solchen Fall wurde nun vom Bayerischen Obersten Landesgericht (BayObLG) gekippt. In seinem Beschluss vom 9. August 2022 (Az. 205 StRR 162/22) stellten die Richter klar, dass der Verweis auf die Meinungsfreiheit allein nicht ausreicht, um eine ehrverletzende Äußerung zu rechtfertigen. Es bedarf einer sorgfältigen Abwägung, die das Landgericht unterlassen hatte.

Wann führt ein Flugblatt zu einer Anklage wegen Beleidigung?

Ein Mann verteilte ein Flugblatt, das unter anderem die Bezeichnung „Volksverräter“ enthielt. Das Amtsgericht München sah darin eine strafbare Beleidigung und verurteilte ihn am 21. Juni 2021 zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen zu je 40 Euro.

In einer Fußgängerzone wird ein zerknittertes Flugblatt mit dem beleidigenden Begriff „Volksverräter“ an einen Passanten überreicht.
BayObLG kippt Freispruch: Meinungsfreiheit rechtfertigt nicht jede ehrverletzende politische Äußerung. | Symbolbild: KI

Der Angeklagte legte Berufung ein, und das Landgericht München I sprach ihn am 25. Januar 2022 frei. Die Begründung der zweiten Instanz: Die Äußerung sei zwar ehrverletzend, aber im Rahmen des politischen Meinungskampfes von der Meinungsfreiheit nach Artikel 5 des Grundgesetzes gedeckt. Es handle sich nicht um reine Schmähkritik, bei der die Diffamierung der Person im Vordergrund stehe.

Mit diesem Freispruch gab sich die Staatsanwaltschaft München I nicht zufrieden. Sie legte Revision ein, ein Rechtsmittel, das nicht den Sachverhalt neu aufrollt, sondern das vorangegangene Urteil ausschließlich auf Rechtsfehler prüft. Die Anklagebehörde argumentierte, das Landgericht habe zwar den beleidigenden Charakter des Flugblatts erkannt, aber die entscheidende Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit des Angeklagten und dem Persönlichkeitsrecht der betroffenen Person versäumt. Das Urteil sei daher rechtlich lückenhaft und müsse aufgehoben werden.

Wie schützt das Grundgesetz die Meinungsfreiheit?

Das Grundgesetz schützt in Artikel 5 Absatz 1 die Freiheit, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern. Gerade im politischen Diskurs ist dieser Schutz besonders weitreichend, denn eine lebendige Demokratie lebt von der Auseinandersetzung, auch mit scharfer und polemischer Kritik. Dieses Grundrecht ist jedoch nicht schrankenlos. Artikel 5 Absatz 2 GG bestimmt, dass es seine Grenzen in den allgemeinen Gesetzen findet, zu denen auch die Strafgesetze zum Schutz der persönlichen Ehre gehören.

Hier kommt das Strafgesetzbuch ins Spiel. § 185 StGB stellt die Beleidigung unter Strafe. Gleichzeitig sieht § 193 StGB eine wichtige Ausnahme vor: Tadelnde Urteile über politische Leistungen oder ähnliche Äußerungen sind gerechtfertigt, wenn sie der „Wahrnehmung berechtigter Interessen“ dienen. Diese Vorschrift ist letztlich die strafrechtliche Ausprägung der Meinungsfreiheit. Der Kernkonflikt in solchen Fällen ist also immer die Frage: Welches Recht wiegt im konkreten Fall schwerer – das Recht auf freie Meinungsäußerung oder der Schutz der persönlichen Ehre?

Warum wurde der Freispruch wegen Beleidigung aufgehoben?

Das Bayerische Oberste Landesgericht schloss sich der Argumentation der Staatsanwaltschaft an und hob das Urteil des Landgerichts auf. Die Richter kritisierten nicht die Fakten, die das Landgericht festgestellt hatte, sondern die rechtliche Schlussfolgerung, die es daraus zog. Der Freispruch basierte auf einem fundamentalen Rechtsfehler: dem Fehlen einer nachvollziehbaren Abwägung der kollidierenden Grundrechte.

Fehlte die notwendige Abwägung der Grundrechte?

Das Landgericht hatte seine Entscheidung im Wesentlichen damit begründet, dass die Äußerung im politischen Kontext gefallen und keine sogenannte Schmähkritik sei. Aus dieser Einordnung schloss es, die Tat sei automatisch von der Meinungsfreiheit gedeckt und damit gerechtfertigt. Genau dieser automatische Schluss war für das BayObLG der entscheidende Fehler. Ein Gericht, das jemanden aus rechtlichen Gründen freispricht, muss seine Entscheidung gemäß § 267 der Strafprozessordnung (StPO) erschöpfend begründen. Es muss darlegen, warum es unter Berücksichtigung aller rechtlich relevanten Aspekte zu dem Ergebnis kommt, dass die Tat nicht strafbar ist.

Der pauschale Verweis auf die Meinungsfreiheit reicht nicht

Der Knackpunkt der Entscheidung liegt in der Logik der Grundrechtsprüfung. Dass eine Äußerung in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit fällt, ist nur der erste Schritt der Analyse, nicht deren Ende. Weil die Meinungsfreiheit mit dem ebenfalls grundrechtlich geschützten Persönlichkeitsrecht kollidiert, muss eine Abwägung stattfinden. Das Gericht muss prüfen, ob die Meinungsfreiheit im konkreten Fall hinter dem Ehrenschutz zurücktreten muss.

Das BayObLG verwies auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das klare Kriterien für diese Abwägung entwickelt hat. Zu berücksichtigen sind Inhalt, Form, Anlass und Wirkung der Äußerung. Auch die Person des Äußernden und des Betroffenen spielen eine Rolle. Das Landgericht hatte diese Abwägung schlicht nicht vorgenommen. Es hatte sich mit der Feststellung begnügt, die Äußerung sei nicht die eng definierte „Schmähkritik“, bei der es nur um die persönliche Herabwürdigung geht. Das allein genügt aber nicht für einen Freispruch.

Die Argumente für den Freispruch und ihre Schwäche

Die Verteidigung und das Landgericht hatten argumentiert, dass im politischen Meinungskampf auch übersteigerte Kritik erlaubt sein müsse. Diese Position ist grundsätzlich richtig. Das BayObLG stellte jedoch klar, dass diese Feststellung die notwendige Einzelfallabwägung nicht ersetzen kann. Ein Gericht kann sich nicht auf eine „hinreichend bekannte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“ berufen, ohne die dort entwickelten Grundsätze auf den konkreten Fall anzuwenden und dies in den Urteilsgründen nachvollziehbar darzulegen. Das Urteil des Landgerichts war somit „lückenhaft“ und konnte einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht standhalten.

Das Urteil ist lückenhaft – zurück an den Start

Da das Urteil an einem wesentlichen Rechtsfehler litt, konnte das BayObLG nicht ausschließen, dass das Landgericht bei korrekter Rechtsanwendung zu einem anderen Ergebnis – also einer Verurteilung – gekommen wäre. Gemäß § 337 StPO war das Urteil daher aufzuheben. Die Sache wurde nach § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO an eine andere Strafkammer des Landgerichts München I zurückverwiesen. Diese muss den Fall nun vollständig neu verhandeln und dabei die rechtlichen Vorgaben des BayObLG beachten.

Was müssen Gerichte bei Beleidigung im politischen Kontext prüfen?

Mit diesem Beschluss schärft das Bayerische Oberste Landesgericht die Anforderungen an Urteile in Beleidigungsfällen mit politischem Bezug. Es stellt fest, dass Gerichte einen Freispruch nicht pauschal mit dem Verweis auf die Meinungsfreiheit begründen dürfen. Stattdessen ist eine detaillierte und dokumentierte Abwägung zwingend erforderlich.

Für das neue Verfahren gab das Gericht der neuen Strafkammer konkrete Prüfaufträge mit auf den Weg. Diese muss nun prüfen, ob die Bezeichnung „Volksverräter“ im konkreten Kontext vielleicht sogar die Menschenwürde antastet oder als „Formalbeleidigung“ zu werten ist – also als ein von der Gesellschaft allgemein als ehrenrührig angesehener Begriff. Selbst wenn eine dieser Ausnahmekonstellationen vorliegt, muss eine am Einzelfall orientierte Abwägung stattfinden. Das neue Urteil wird also eine wesentlich tiefere Auseinandersetzung mit den Grenzen der Meinungsfreiheit erfordern und zeigen, wo genau die rote Linie im politischen Meinungskampf verläuft.

Die Urteilslogik

Die freie Meinungsäußerung im politischen Diskurs findet ihre unabdingbare Grenze dort, wo der Schutz der persönlichen Ehre eine umfassende rechtliche Abwägung erfordert.

  • Abwägung von Grundrechten: Kollidiert die Meinungsfreiheit mit dem Schutz der persönlichen Ehre, ersetzt ein pauschaler Verweis auf den politischen Meinungskampf niemals die zwingende Einzelfallprüfung der widerstreitenden Grundrechte.
  • Grenze zur Schmähkritik: Wer feststellt, dass eine Äußerung keine reine Schmähkritik darstellt, beendet damit die juristische Prüfung nicht, sondern muss die umfassende Abwägung von Inhalt, Form, Anlass und Wirkung nachholen.
  • Anforderungen an die Urteilsbegründung: Spricht ein Gericht einen Angeklagten frei, muss es vollständig und nachvollziehbar begründen, warum die ehrverletzende Äußerung trotz ihres Charakters durch die Meinungsfreiheit gedeckt wird.

Gerichte müssen die Balance zwischen polemischer Kritik und Ehrenschutz sorgfältig austarieren, um die Fundamente einer lebendigen Demokratie zu sichern.


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Sind Ihre politischen Äußerungen strafbar oder noch von der Meinungsfreiheit gedeckt? Gewinnen Sie Klarheit und fordern Sie eine unverbindliche Ersteinschätzung Ihrer Situation an.


Experten Kommentar

Viele meinen, im politischen Schlagabtausch sei fast alles erlaubt, solange es nicht reine Schmähkritik ist. Das Gericht hat hier jedoch eine klare rote Linie gezogen: Der pauschale Verweis auf die Meinungsfreiheit reicht für einen Freispruch nicht mehr aus und wird als fundamentaler Rechtsfehler gewertet. Für jeden, der die Grenzen der politischen Auseinandersetzung sucht, bedeutet das: Gerichte müssen jetzt wirklich ins Detail gehen und genau abwägen, wie Form, Anlass und Wirkung der Beleidigung konkret zu bewerten sind. Wer zukünftig wegen scharfer politischer Äußerungen freigesprochen werden will, braucht eine sauber dokumentierte juristische Begründung, nicht nur ein allgemeines Bekenntnis zur Demokratie.


Symbolische Grafik zu FAQ - Häufig gestellte Fragen aus dem Strafrecht" mit Waage der Gerechtigkeit und Gesetzbüchern im Hintergrund

Häufig gestellte Fragen (FAQ)

Wann ist eine scharfe politische Äußerung wie „Volksverräter“ noch von der Meinungsfreiheit gedeckt?

Scharfe politische Kritik ist nur gedeckt, wenn die gerichtliche Abwägung dem politischen Diskurs Vorrang vor dem Schutz der Ehre einräumt. Der pauschale Verweis auf Artikel 5 des Grundgesetzes (Meinungsfreiheit) reicht nicht aus, um eine ehrverletzende Äußerung zu rechtfertigen. Gerichte müssen stets die kollidierenden Grundrechte im Einzelfall sorgfältig prüfen.

Der Schutz der Meinungsfreiheit ist im politischen Meinungskampf zwar weitreichend, er lebt von der polemischen Auseinandersetzung und der Übertreibung. Die juristische Toleranz endet jedoch, wenn die Äußerung den Rahmen der reinen Sachkritik verlässt und die Grenze zur sogenannten Schmähkritik überschreitet. Schmähkritik liegt vor, wenn die Diffamierung der Person selbst im Vordergrund steht und die Auseinandersetzung mit der Sache gänzlich fehlt. Auch wenn keine reine Schmähkritik vorliegt, ist die Kritik nicht automatisch zulässig.

Ein Gericht muss immer eine detaillierte Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit (Art. 5 GG) und dem Ehrenschutz, also dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen, vornehmen. Relevant sind dabei der konkrete Inhalt, die Form, der Anlass und die Wirkung der Äußerung. Das Bayerische Oberste Landesgericht hob einen Freispruch wegen der Bezeichnung „Volksverräter“ auf, weil der Rechtsfehler im Fehlen dieser notwendigen Abwägung der kollidierenden Grundrechte lag.

Dokumentieren Sie Inhalt, Form und den konkreten Anlass Ihrer Kritik, um im Falle einer Anklage die Grundlage für die notwendige Abwägung zugunsten des politischen Diskurses zu liefern.


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Welche Grenzen hat meine Meinungsfreiheit, wenn ich Politiker im politischen Kampf kritisiere?

Die Meinungsfreiheit ist im politischen Kampf zwar besonders geschützt, sie ist jedoch nicht schrankenlos. Das Grundgesetz bestimmt, dass dieses Recht seine Grenzen in den allgemeinen Gesetzen findet (Art. 5 Abs. 2 GG). Hierzu zählen vor allem die Strafgesetze, die die persönliche Ehre schützen. Die entscheidende strafrechtliche Grenze stellt die Beleidigung nach § 185 StGB dar.

Die juristische Herausforderung liegt im Konflikt zwischen der freien Meinungsäußerung und dem Persönlichkeitsrecht der kritisierten Person. Der Ehrenschutz gemäß § 185 StGB verbietet Äußerungen, welche die persönliche Achtung verletzen. Allerdings existiert eine wichtige Rechtfertigung: § 193 StGB schützt tadelnde Urteile über politische Leistungen, solange diese der Wahrnehmung berechtigter Interessen dienen. Diese Vorschrift bestätigt, dass scharfe Kritik an der politischen Leistung eines Amtsträgers grundsätzlich erlaubt ist.

Der Kernkonflikt muss immer durch eine gerichtliche Abwägung gelöst werden. Das Gericht prüft im Einzelfall, welches Recht schwerer wiegt: die freie politische Auseinandersetzung oder der Ehrenschutz der Person. Scharfe Polemik ist zulässig, solange sie sich auf die Sache bezieht. Wenn die Diffamierung des Menschen selbst in den Vordergrund rückt und die Kritik an der Leistung völlig überlagert, tritt die Meinungsfreiheit hinter dem Persönlichkeitsrecht zurück. Die Gerichte fordern gerade bei Amtsträgern eine strenge, dokumentierte Einzelfallprüfung.

Prüfen Sie Ihre Äußerung daraufhin, ob sie tatsächlich eine sachliche Kritik an einer politischen Entscheidung darstellt, anstatt nur die Person zu verunglimpfen.


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Wie wird juristisch entschieden, ob mein Spruch Schmähkritik ist oder noch erlaubt ist?

Die Schmähkritik ist der engste und schärfste Ausnahmefall, der niemals von der Meinungsfreiheit gedeckt wird. Juristen wenden diesen Begriff nur an, wenn die Diffamierung der Person im absoluten Vordergrund steht und jegliche sachliche Auseinandersetzung vollständig fehlt. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat jedoch klargestellt, dass die Feststellung „keine Schmähkritik“ nicht automatisch einen Freispruch bedeutet.

Um eine zulässige Kritik von einer unzulässigen Beleidigung abzugrenzen, müssen Richter in jedem Fall eine detaillierte Abwägung vornehmen. Sie stellen die Meinungsfreiheit (Art. 5 GG) dem Schutz der persönlichen Ehre (Persönlichkeitsrecht) gegenüber. Dabei wenden sie die klaren Kriterien der BVerfG-Rechtsprechung an: Sie prüfen Inhalt, Form, Anlass und Wirkung der konkreten Äußerung. Diese sorgfältige Prüfung ist notwendig, weil selbst scharfe politische Polemik strafbar sein kann, wenn sie unverhältnismäßig in das Persönlichkeitsrecht eingreift.

Der entscheidende Rechtsfehler, der in solchen Verfahren oft auftritt, liegt im Unterlassen dieser Abwägung. Das Bayerische Oberste Landesgericht (BayObLG) hob einen Freispruch auf, weil das Landgericht sich lediglich darauf beschränkt hatte, es liege keine Schmähkritik vor. Die vollständige, dokumentierte Abwägung aller kollidierenden Grundrechte ist aber zwingend erforderlich. Ein Gericht darf den Prozess nicht mit der Feststellung beenden, dass die strengste Form der Ehrverletzung nicht erfüllt wurde.

Wenn Sie in einem Verfahren stehen, fordern Sie Ihren Anwalt auf, die Kriterien Inhalt, Form, Anlass und Wirkung des BVerfG explizit auf Ihren Fall anzuwenden.


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Welche Strafe droht mir konkret, wenn meine Äußerung nicht mehr von Art. 5 GG gedeckt ist?

Wenn eine Äußerung die Grenze der Meinungsfreiheit überschreitet und eine strafbare Beleidigung (§ 185 StGB) darstellt, droht in der Regel eine Geldstrafe. Die tatsächliche Höhe ist nie pauschal festlegbar, weil sie von der Schwere der Schuld und Ihrer persönlichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit abhängt. Im konkreten Fall der „Volksverräter“-Äußerung verhängte das Amtsgericht München eine Strafe von 80 Tagessätzen, was insgesamt 3.200 Euro ergab.

Die Höhe der Strafe wird durch das sogenannte Tagessatzsystem bestimmt. Richter bestimmen zuerst die Anzahl der Tagessätze, welche die Schuld des Täters bemessen und zwischen 5 und 360 Tagen liegen können. Anschließend legen sie die Höhe des einzelnen Tagessatzes fest, der sich in der Regel aus dem monatlichen Nettoeinkommen des Verurteilten, geteilt durch 30, berechnet. Das Gericht stellte im zitierten Urteil fest, dass der Angeklagte wirtschaftlich in der Lage war, 40 Euro pro Tagessatz zu zahlen.

Wichtig ist zu wissen, dass dieser Fall noch nicht abgeschlossen ist. Obwohl das Amtsgericht München 3.200 Euro verhängte, hob das Bayerische Oberste Landesgericht (BayObLG) den späteren Freispruch auf. Eine neue Strafkammer muss den Fall nun vollständig neu verhandeln, wobei sie die strengeren Rechtsvorgaben des BayObLG beachten muss. Das neue Gericht kann theoretisch zu einem härteren oder auch zu einem milderen Urteil kommen, wenn es die notwendige Abwägung der Grundrechte vornimmt.

Sollten Sie wegen Beleidigung angeklagt werden, berechnen Sie anhand Ihres monatlichen Nettoeinkommens sofort Ihren theoretischen Tagessatz, um das finanzielle Risiko präziser abschätzen zu können.


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Wann gilt eine politische Äußerung als Formalbeleidigung oder Angriff auf die Menschenwürde, die nie zulässig ist?

Die Grenze der Meinungsfreiheit liegt dort, wo Äußerungen den Kern der Persönlichkeit treffen. Zwei Kategorien von Beleidigungen sind jenseits jeder Abwägung absolut unzulässig. Hierzu zählen Angriffe auf die Menschenwürde sowie die sogenannte Formalbeleidigung. Solche Äußerungen genießen keinen Schutz durch Artikel 5 GG, selbst wenn sie im hitzigen politischen Meinungskampf fallen.

Der Angriff auf die Menschenwürde gemäß Artikel 1 GG stellt die härteste juristische Grenze dar. Solche Äußerungen entziehen dem Betroffenen den Wert als gleichberechtigte Person im Staat. Eine Formalbeleidigung liegt vor, wenn eine Vokabel aufgrund ihrer gesellschaftlichen Bedeutung stets als ehrenrührig gilt. Ihr beleidigender Charakter ist derart schwerwiegend, dass der spezifische Kontext oder Anlass keine Rolle mehr spielt. Das Bayerische Oberste Landesgericht (BayObLG) hat diese absolute Tabu-Zone in seiner aktuellen Rechtsprechung hervorgehoben.

Im aktuellen Fall um die Bezeichnung „Volksverräter“ muss die neu zuständige Strafkammer genau diese Kriterien prüfen. Sie klärt, ob der Begriff aufgrund seiner historischen Konnotationen und seiner extrem negativen gesellschaftlichen Wertung als Formalbeleidigung eingestuft werden muss. Fällt eine Äußerung in diesen absoluten Tabu-Bereich, entfällt die sonst notwendige Güterabwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht sofort.

Verwenden Sie Begriffe, die extreme negative oder historische Konnotationen tragen, sollten Sie umgehend anwaltlichen Rat konsultieren, da hier das höchste juristische Risiko besteht.


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Hinweis: Bitte beachten Sie, dass die Beantwortung der FAQ Fragen keine individuelle Rechtsberatung darstellt und ersetzen kann. Alle Angaben im gesamten Artikel sind ohne Gewähr. Haben Sie einen ähnlichen Fall und konkrete Fragen oder Anliegen? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren. Wir klären Ihre individuelle Situation und die aktuelle Rechtslage.


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Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt

Abwägung

Die Abwägung ist der juristische Prozess, bei dem kollidierende Rechte, wie die Meinungsfreiheit und der Schutz der persönlichen Ehre, gegeneinander aufgewogen werden. Das Gericht muss mithilfe dieser Methode feststellen, welches Grundrecht im Einzelfall den höheren Stellenwert besitzt. Die detaillierte Prüfung aller Umstände sichert die Verhältnismäßigkeit staatlicher Eingriffe.

Beispiel: Das Bayerische Oberste Landesgericht kritisierte, dass das Landgericht die notwendige Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit des Angeklagten und dem Persönlichkeitsrecht der betroffenen Person unterlassen hatte.

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Formalbeleidigung

Eine Formalbeleidigung beschreibt extrem ehrenrührige Begriffe, deren beleidigender Charakter so schwer wiegt, dass sie unabhängig vom Kontext oder Anlass niemals zulässig sind. Juristen haben diese Kategorie geschaffen, um bestimmte Vokabeln, die gesellschaftlich als absolut inakzeptabel gelten, sofort vom Schutz der Meinungsfreiheit auszuschließen. Hier entfällt die sonst notwendige Güterabwägung.

Beispiel: Die neu zuständige Strafkammer muss nun prüfen, ob die Bezeichnung „Volksverräter“ aufgrund ihrer extrem negativen Konnotation als strafbare Formalbeleidigung zu werten ist.

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Persönlichkeitsrecht

Das Persönlichkeitsrecht schützt in Deutschland die persönliche Ehre und den Kern der Identität eines Menschen vor unberechtigten Eingriffen und gehört zu den grundrechtlich geschützten Positionen. Dieses Recht gewährleistet, dass jeder Mensch in seiner sozialen Geltung respektiert wird und bildet das notwendige Gegengewicht zur Meinungsfreiheit. Nur dadurch kann der Staat die Würde seiner Bürger schützen.

Beispiel: Im Beleidigungsfall kollidierte das Persönlichkeitsrecht des kritisierten Politikers mit der Meinungsfreiheit des Mannes, der das Flugblatt verteilte.

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Rechtsfehler

Ein Rechtsfehler liegt vor, wenn ein Gericht bei der Anwendung oder Auslegung geltender Gesetze Fehler begeht, obwohl es den Sachverhalt zuvor korrekt festgestellt hat. Die Revision ist das Rechtsmittel, das Urteile ausschließlich auf diese Fehler überprüft; sie dient dazu, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu gewährleisten und eine korrekte Rechtsanwendung sicherzustellen.

Beispiel: Das Bayerische Oberste Landesgericht stellte fest, dass der Freispruch des Landgerichts auf einem fundamentalen Rechtsfehler beruhte, da die notwendige Abwägung der kollidierenden Grundrechte fehlte.

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Schmähkritik

Juristen nennen Schmähkritik die engste Form der unzulässigen Ehrverletzung, bei der die Diffamierung der Person im absoluten Vordergrund steht und eine sachliche Auseinandersetzung gänzlich fehlt. Selbst im hitzigsten politischen Meinungskampf wird Schmähkritik nie durch die Meinungsfreiheit gedeckt, weil sie nicht mehr der politischen Auseinandersetzung, sondern nur noch der reinen Herabwürdigung dient.

Beispiel: Das Landgericht hatte angenommen, die Äußerung sei keine Schmähkritik, aber das BayObLG stellte klar, dass diese Feststellung allein für einen Freispruch wegen Beleidigung nicht ausreicht.

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Tagessatzsystem

Beim Tagessatzsystem handelt es sich um die gesetzliche Methode zur Bemessung von Geldstrafen in Deutschland, die die Schuld des Täters und seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit kombiniert. Dieses System stellt sicher, dass Geldstrafen Täter mit unterschiedlichem Einkommen gleich hart treffen, indem zunächst die Anzahl der Tagessätze (Schuld) und dann deren Höhe (Einkommen) festgelegt wird.

Beispiel: Das Amtsgericht München verurteilte den Angeklagten zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen zu je 40 Euro, was eine Gesamtstrafe von 3.200 Euro ergab.

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Das vorliegende Urteil


BayObLG – Az.: 205 StRR 162/22 – Urteil vom 09.08.2022


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