Im brisanten Prozess gegen einen Staatsanwalt forderte der Zeugenbeistand Akteneinsicht für die aussagenden Kriminalhauptkommissare des LKA. Obwohl die korrekte Vorbereitung der Polizeibeamten als essenziell galt, standen die Rechte des Zeugenbeistands ohne Aktenkenntnis plötzlich infrage.
Übersicht
- Das Wichtigste in Kürze
- Darf ein Zeugenbeistand die Ermittlungsakte einsehen?
- Welche Voraussetzungen gelten für die Akteneinsicht nach § 475 StPO?
- Warum wurde der Antrag auf Akteneinsicht abgelehnt?
- Wie weit reichen die Befugnisse des Zeugenbeistands?
- Die Urteilslogik
- Benötigen Sie Hilfe?
- Experten Kommentar
- Häufig gestellte Fragen (FAQ)
- Habe ich als Zeuge in einem Strafverfahren Anspruch auf Akteneinsicht?
- Wann bekommt mein Zeugenbeistand Akteneinsicht in die Ermittlungsakte?
- Was bedeutet das „berechtigte Interesse“ für meine Akteneinsicht als Zeuge?
- Wie schützt mich der Zeugenbeistand vor Selbstbelastung ohne Aktenkenntnis?
- Wie unterscheidet sich die Rolle des Zeugenbeistands vom Strafverteidiger?
- Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
- Das vorliegende Urteil
Zum vorliegenden Urteil Az.: 2 Ws 203/25 | Schlüsselerkenntnis | FAQ | Glossar | Kontakt
Das Wichtigste in Kürze
- Gericht: Oberlandesgericht Celle
- Datum: 05.08.2025
- Aktenzeichen: 2 Ws 203/25
- Verfahren: Beschwerde gegen die Ablehnung von Akteneinsicht im Strafverfahren
- Rechtsbereiche: Strafprozessrecht, Akteneinsichtsrecht, Zeugenrecht
- Das Problem: Kriminalbeamte, die als Zeugen geladen sind, wollten über ihren Anwalt Einblick in die Verfahrensakten nehmen. Dies sollte eine sachgerechte Beratung vor der Vernehmung ermöglichen. Die zuständige Strafkammer hatte die Akteneinsicht abgelehnt.
- Die Rechtsfrage: Haben Zeugen oder ihre Anwälte automatisch ein Recht auf Einsicht in die gesamten Akten, nur weil sie für eine Vernehmung optimal vorbereitet sein wollen?
- Die Antwort: Nein. Das Oberlandesgericht wies die Beschwerde als unbegründet ab. Die Richter sahen kein ausreichendes berechtigtes Interesse für die Akteneinsicht.
- Die Bedeutung: Die bloße Rolle als Zeuge oder die Notwendigkeit der Vorbereitung begründet kein automatisches Recht auf Akteneinsicht. Die gesetzlichen Rechte des Zeugenbeistands müssen auch ohne Aktenkenntnis wahrgenommen werden können.
Darf ein Zeugenbeistand die Ermittlungsakte einsehen?
Es ist ein Szenario, das die Justiz immer wieder vor eine Zerreißprobe stellt: Ein hochrangiger Ermittler gerät selbst ins Visier der Justiz, und seine ehemaligen Kollegen sollen gegen ihn aussagen. Genau dieser Konflikt beschäftigte das Oberlandesgericht Celle im August 2025. Im Zentrum stand ein Verfahren vor dem Landgericht Hannover, das seit dem 23. April 2025 für Schlagzeilen sorgte. Einem Staatsanwalt, der zuvor in der Zentralstelle für Betäubungsmittelstrafsachen tätig war, wurden schwere Vorwürfe gemacht: Bestechlichkeit, Verletzung des Dienstgeheimnisses und Strafvereitelung. Ihm zur Seite saß ein Mitangeklagter, dem Beihilfe zur Bestechung vorgeworfen wurde.
Die Brisanz des Falls zeigte sich, als drei Kriminalhauptkommissare des Landeskriminalamts Niedersachsen als Zeugen geladen wurden. Diese Beamten waren im betreffenden Zeitraum selbst an Rauschgiftermittlungen beteiligt gewesen. Um sich nicht selbst zu belasten oder in Widersprüche zu verwickeln, engagierten sie einen Rechtsanwalt als sogenannten Zeugenbeistand. Dieser Anwalt stellte am 1. Juli 2025 einen weitreichenden Antrag: Er forderte Einsicht in die Anklageschrift, den Haftbefehl sowie alle Aktenbestandteile, die seine Mandanten betrafen. Sein Argument war simpel: Ohne diese Unterlagen seien die Zeugen „orientierungslos“ und könnten ihre Rechte nicht wahrnehmen. Das Landgericht lehnte ab, der Fall landete beim OLG Celle (Beschluss vom 05.08.2025, Az. 2 Ws 203/25). Der Streitwert lässt sich hier nicht in Euro beziffern, es ging vielmehr um die prozessuale Waffengleichheit und die Integrität der Wahrheitsfindung.
Welche Voraussetzungen gelten für die Akteneinsicht nach § 475 StPO?

Um die Entscheidung des Senats zu verstehen, muss man den rechtlichen Rahmen betrachten, der hier kollidiert. Anders als der Verteidiger eines Angeklagten, der ein uneingeschränktes Recht auf Akteneinsicht hat, steht dem Zeugen oder seinem Anwalt dieses Recht nicht automatisch zu. Die Spielregeln definiert hier § 475 der Strafprozessordnung (StPO). Diese Norm erlaubt Privatpersonen oder sonstigen Beteiligten die Akteneinsicht nur unter einer strengen Bedingung: Sie müssen ein „berechtigtes Interesse“ darlegen.
Ein solches Interesse liegt nicht schon deshalb vor, weil man neugierig ist oder sich allgemein auf einen Termin vorbereiten möchte. Der Gesetzgeber verlangt mehr. Der Antragsteller muss schlüssig erklären, warum er ohne die Aktenkenntnis einen konkreten Nachteil erleiden würde oder seine Rechte nicht effektiv wahrnehmen kann. Hier prallt das Informationsbedürfnis des Zeugen auf den Grundsatz der Wahrheitsfindung. Wenn ein Zeuge den genauen Akteninhalt kennt, besteht die Gefahr, dass er seine Aussage – bewusst oder unbewusst – an den Akteninhalt anpasst, statt aus seiner freien Erinnerung zu berichten. Das Gericht muss also abwägen: Wie viel Wissen braucht der Zeuge für seine Sicherheit, und wie viel Unwissen braucht das Gericht für eine authentische Aussage?
Warum wurde der Antrag auf Akteneinsicht abgelehnt?
Der Senat des Oberlandesgerichts Celle bestätigte die ablehnende Haltung der Vorinstanz und wies die Beschwerde als unbegründet zurück. Die Richter zerlegten die Argumentation des Zeugenbeistands Punkt für Punkt und stellten klar, dass im vorliegenden Fall die hohen Hürden des § 475 StPO nicht übersprungen wurden.
Sind Zeugen ohne Aktenkenntnis orientierungslos?
Das zentrale Argument der Polizisten war ihre angebliche Orientierungslosigkeit. Sie argumentierten, ohne Kenntnis der Vorwürfe gegen den angeklagten Staatsanwalt könnten sie nicht sinnvoll aussagen. Das Gericht wies dies entschieden zurück. Zunächst verwies der Senat auf objektive Umstände, die gegen eine Ahnungslosigkeit sprachen. Als Angehörige des Landeskriminalamts und aufgrund der breiten medialen Berichterstattung seien die Zeugen über die Grundzüge des Verfahrens sehr wohl im Bilde. Zudem hatte der Zeugenbeistand selbst bereits Interviews im Fernsehen und in Zeitungen gegeben, was seine Behauptung, er und seine Mandanten tappten im Dunkeln, unglaubwürdig erscheinen ließ. Ergänzend führte das Gericht an, dass die Vorsitzende Richterin zugesagt hatte, die Zeugen vor ihrer Vernehmung über den Gegenstand der Befragung zu informieren. Damit sei dem Informationsbedürfnis Genüge getan, ohne die Akten herausgeben zu müssen.
Rechtfertigt die Sorge vor Selbstbelastung die Einsicht?
Ein weiteres Schwergewicht in der Argumentation der Beschwerdeführer war die Furcht vor eigenen strafrechtlichen Konsequenzen. Sie gaben an, der angeklagte Staatsanwalt habe sie namentlich des Geheimnisverrats bezichtigt. Um zu entscheiden, ob sie von ihrem Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO Gebrauch machen müssten, sei die Aktenkenntnis unabdingbar. Auch hier folgte das OLG der Argumentation nicht. Die Richter stellten klar, dass die Frage, ob man auf eine konkrete Frage antwortet oder schweigt, in der Regel vom eigenen Wissen des Zeugen abhängt und nicht von dem, was in der Akte steht. Der Vorwurf des Geheimnisverrats sei rechtlich und tatsächlich nicht so komplex, dass er nur durch ein Studium der Ermittlungsakten verstanden werden könne. Der Beistand könne seine Aufgabe, nämlich vor unzulässigen Fragen zu schützen oder das Schweigen zu empfehlen, auch durch seine bloße Anwesenheit und Ad-hoc-Beratung in der Hauptverhandlung erfüllen (§ 68b StPO).
Hilft die dienstliche Vorbereitungspflicht?
Schließlich versuchten die Zeugen, über ihre dienstlichen Pflichten eine Hintertür zur Akteneinsicht zu öffnen. Sie argumentierten, zwei von ihnen hätten Teile der Ermittlungsakten selbst erstellt und seien dienstlich verpflichtet, sich anhand dieser Unterlagen vorzubereiten. Das Gericht ließ dieses Argument ins Leere laufen. Eine dienstliche Vorbereitungspflicht beziehe sich nur auf Unterlagen, die dem Beamten ohnehin zugänglich sind („ohne Weiteres zugänglich“). Daraus lässt sich kein prozessualer Anspruch gegen das Gericht ableiten, gesperrte oder fremde Aktenteile herauszugeben. Der Senat hatte die betreffenden Aktenteile zudem selbst geprüft und keine Anhaltspunkte gefunden, die ein Abweichen von der strengen Linie gerechtfertigt hätten. Interessant ist hierbei auch der Hinweis des Gerichts auf die Gefahr für die Beweisaufnahme: Wenn ein Anwalt mehrere Zeugen aus demselben Komplex berät und vorab Akteneinsicht erhält, könnte dies die Aussagen untereinander abstimmen und den Prozess massiv gefährden.
Wie weit reichen die Befugnisse des Zeugenbeistands?
Das Urteil zieht eine klare Grenze für die anwaltliche Vertretung von Zeugen im Strafprozess. Die Entscheidung verdeutlicht, dass die Rolle des Zeugenbeistands nicht mit der eines Strafverteidigers gleichzusetzen ist. Ein „berechtigtes Interesse“ an Akteneinsicht wird nur in absoluten Ausnahmefällen bejaht, etwa bei komplexen wirtschaftsstrafrechtlichen Zusammenhängen, die ein Laie unmöglich überblicken kann, oder wenn die persönliche Sicherheit des Zeugen konkret gefährdet ist.
Für die Praxis bedeutet der Beschluss vom 5. August 2025: Der Zeugenbeistand muss seine Arbeit primär im Gerichtssaal leisten. Seine Werkzeuge sind die Wachsamkeit während der Vernehmung, das Beanstanden unzulässiger Fragen und der rechtliche Rat in der Situation, nicht aber das vorgelagerte Aktenstudium. Die Kosten des erfolglosen Beschwerdeverfahrens tragen gemäß § 473 Abs. 1 StPO die Beschwerdeführer selbst. Eine weitere Beschwerde gegen diese Entscheidung ist nach § 304 Abs. 4 StPO ausgeschlossen. Damit bleibt es dabei: Der Zeuge ist Beweismittel, nicht Prozesspartei, und sein Wissen soll aus der Erinnerung kommen, nicht aus dem Papier.
Die Urteilslogik
Das Gericht zieht eine klare Grenze zwischen der prozessualen Rolle des Angeklagten und der des Zeugen und definiert die strengen Anforderungen an das Informationsrecht Dritter.
- Akteneinsicht setzt konkreten Nachteil voraus: Ein Zeuge beansprucht die Akteneinsicht nur erfolgreich, wenn er schlüssig darlegt, dass er seine Rechte oder die Wahrnehmung berechtigter Interessen ohne Aktenkenntnis konkret und unmittelbar nicht effektiv wahrnehmen kann.
- Wahrheitsfindung dominiert das Informationsbedürfnis: Die Integrität der Beweisaufnahme genießt Vorrang, da die Kenntnis der Ermittlungsakten die Gefahr birgt, dass Zeugen ihre Aussagen bewusst oder unbewusst an den Akteninhalt anpassen und so die Authentizität verfälschen.
- Die Befugnisse des Beistands sind auf den Gerichtssaal beschränkt: Die zentrale Aufgabe des Zeugenbeistands liegt in der unmittelbaren Ad-hoc-Beratung des Zeugen und der Rüge unzulässiger Fragen während der Hauptverhandlung, nicht in einer vorgelagerten strategischen Vorbereitung durch Aktenstudium.
Im Strafprozess bleibt der Zeuge primär ein Beweismittel der Justiz, dessen Aussagen zwingend aus der freien Erinnerung schöpfen müssen.
Benötigen Sie Hilfe?
Wurde Ihnen als Zeugenbeistand die Akteneinsicht verwehrt? Kontaktieren Sie uns für eine unverbindliche Ersteinschätzung Ihres Sachverhalts.
Experten Kommentar
Ein Anwalt im Strafverfahren hat gewaltige Rechte, doch dieses Urteil zeigt, dass das Mandanten-Schild Zeuge prozessual viel dünner ist als das Schild Angeklagter. Das Gericht erteilt der Vorstellung eine klare Absage, dass Zeugen oder ihre Beistände vollen Zugriff auf die Ermittlungsakten brauchen, nur um sich vorbereitet zu fühlen. Wer als Zeugenbeistand Akteneinsicht beantragt, muss sich auf eine extrem hohe Hürde einstellen; die bloße Sorge vor möglicher Selbstbelastung reicht nicht aus, um die Integrität der Beweisführung zu gefährden. Praktisch bedeutet dies, dass die Arbeit des Beistands fast vollständig auf den Schutz und die Ad-hoc-Beratung im Gerichtssaal reduziert wird – das Aktenstudium bleibt die Ausnahme.
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Habe ich als Zeuge in einem Strafverfahren Anspruch auf Akteneinsicht?
Als Zeuge in einem Strafverfahren haben Sie kein uneingeschränktes Recht auf Akteneinsicht, anders als der Angeklagte. Ihre Rolle ist die eines Beweismittels, nicht die einer Prozesspartei. Akteneinsicht wird ausschließlich nach dem strengen Maßstab des Paragraphen 475 StPO gewährt. Sie müssen gegenüber dem Gericht ein konkretes, berechtigtes Interesse nachweisen, damit Ihr Antrag genehmigt wird.
Der Gesetzgeber begrenzt diesen Anspruch, um die Integrität der Beweisaufnahme zu schützen. Gerichte wägen Ihr persönliches Informationsbedürfnis strikt gegen den Grundsatz der Wahrheitsfindung ab. Kennt der Zeuge alle Akteninhalte, besteht die ernsthafte Gefahr, dass die Aussage unbewusst oder bewusst dem schriftlichen Material angepasst wird. Daher gilt das umfassende Vorbereitungsrecht des Strafverteidigers für Sie als Zeugen nicht, da Ihre Aussage aus der freien Erinnerung entstehen soll.
Das bloße Argument der „besseren Vorbereitung“ oder der „Orientierungslosigkeit“ reicht in der Regel nicht aus, um Akteneinsicht zu erhalten. Höhere Gerichte weisen diese Argumentation explizit als unzureichend zurück. Das Gericht entscheidet nur dann zu Ihren Gunsten, wenn ohne die Aktenkenntnis Ihre Rechte konkret und nachweisbar beeinträchtigt werden, etwa bei extrem komplexen Sachverhalten.
Dokumentieren Sie sofort schriftlich, welche konkreten Aspekte oder Fachtermini des Verfahrens Sie aufgrund des Informationsmangels faktisch unmöglich überblicken, um die Schwelle des berechtigten Interesses zu adressieren.
Wann bekommt mein Zeugenbeistand Akteneinsicht in die Ermittlungsakte?
Ihr Zeugenbeistand erhält Akteneinsicht nur in absoluten Ausnahmefällen, da er die strengen Voraussetzungen des § 475 StPO erfüllen muss. Er muss für Sie ein konkretes, nachweisbares berechtigtes Interesse an der Kenntnis der Akten darlegen. Allgemeine Gründe wie die Notwendigkeit der Vorbereitung oder die Abstimmung mit der Akte reichen den Gerichten grundsätzlich nicht aus, um dieses Recht zu bejahen.
Die Akteneinsicht für Zeugen wird massiv eingeschränkt, da die Justiz die Gefahr einer Anpassung der Aussage vermeiden möchte. Zeugen gelten als Beweismittel; ihr Wissen soll aus der freien Erinnerung stammen. Die Gerichte akzeptieren Aktenkenntnis daher nur, wenn der Sachverhalt so juristisch oder tatsächlich komplex ist, dass ein Laie diesen ohne die Unterlagen unmöglich überblicken kann. Ein Beispiel hierfür sind sehr umfangreiche und komplizierte Wirtschaftssachverhalte.
Die primäre Funktion des Zeugenbeistands liegt deshalb in der Ad-hoc-Beratung direkt während der Vernehmung im Gerichtssaal. Der Anwalt soll seine Mandanten nach § 68b StPO vor unzulässigen Fragen schützen und ihnen raten, wann sie ihr Auskunftsverweigerungsrecht nutzen sollen. Das Oberlandesgericht Celle betonte in einer maßgeblichen Entscheidung, dass selbst die dienstliche Vorbereitungspflicht von Beamten keinen prozessualen Anspruch auf die Herausgabe der Akten gegenüber dem Gericht begründet.
Bitten Sie Ihren Beistand, den Ablehnungsbeschluss des OLG Celle (Az. 2 Ws 203/25) präzise zu analysieren, um die Argumentationsgrundlage für Ihren Fall zu prüfen.
Was bedeutet das „berechtigte Interesse“ für meine Akteneinsicht als Zeuge?
Das berechtigte Interesse ist die zentrale Hürde für Zeugen, die gemäß § 475 StPO Akteneinsicht beantragen. Sie müssen dem Gericht schlüssig darlegen, warum Ihre Rechte ohne die Aktenkenntnis konkret und nachweisbar beeinträchtigt werden. Bloße Neugier oder die Absicht, sich besser vorbereiten zu wollen, genügen dafür nicht. Das Gericht nimmt eine strenge Abwägung gegen die Integrität der Beweisaufnahme vor.
Diese strenge Regel dient primär dem Schutz der Wahrheitsfindung im Strafprozess. Kennt ein Zeuge den genauen Akteninhalt, besteht die Gefahr, dass er seine Aussage unbewusst oder bewusst an die vorliegenden Dokumente anpasst. Das Interesse muss deshalb über eine allgemeine Vorbereitung hinausgehen und einen nachweisbaren konkreten Nachteil verhindern. Gerichte bejahen ein berechtigtes Interesse nur, wenn der Sachverhalt so juristisch oder tatsächlich komplex ist, dass die Wahrnehmung von Rechten objektiv unmöglich wird.
Ein Beispiel: Das Oberlandesgericht Celle hielt die Argumentation von Zeugen, sie seien „orientierungslos“, für unzureichend. Wenn relevante Informationen bereits durch breite Medienberichterstattung oder Mitteilungen des Gerichts zum Vernehmungsgegenstand verfügbar sind, entfällt das berechtigte Interesse. Ein solches Interesse wird ebenfalls verneint, wenn die bloße Sorge vor einer Selbstbelastung der einzige Grund ist. Richter argumentieren, dass die Entscheidung, ob man schweigt, vom eigenen Gedächtnis des Zeugen abhängt, nicht vom Inhalt der Akte.
Fordern Sie das Gericht stattdessen schriftlich auf, Ihnen vor der Vernehmung präzise den Gegenstand der Befragung mitzuteilen.
Wie schützt mich der Zeugenbeistand vor Selbstbelastung ohne Aktenkenntnis?
Ihr Zeugenbeistand schützt Sie unmittelbar durch seine physische Anwesenheit im Verhandlungssaal. Er bietet eine sofortige Ad-hoc-Beratung gemäß § 68b StPO. Die Gerichte stellen klar: Die Entscheidung, ob Sie sich durch eine Antwort selbst belasten, hängt von Ihrem eigenen Wissen ab, nicht vom Inhalt der Ermittlungsakte. Dies ist Ihr wichtigster Schutzmechanismus gegen unbeabsichtigte Selbstbelastung.
Die Hauptfunktion des Beistands ist, unzulässige Fragen sofort zu beanstanden, noch bevor Sie antworten. Er überwacht die gesamte Vernehmung auf juristische Fallen und empfiehlt Ihnen in der akuten Situation, das Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO zu nutzen. Die Notwendigkeit des Schweigens entsteht durch Ihre eigene Befürchtung, sich durch die wahrheitsgemäße Aussage strafbar zu machen.
Selbst bei komplexen Vorwürfen, etwa wegen Geheimnisverrats, lehnten Richter eine Akteneinsicht für den Beistand ab. Sie argumentieren, dass das ‚Ob‘ des Schweigens eine Frage des eigenen Gedächtnisses und der tatsächlichen Beteiligung ist. Es ist unerheblich, was andere Verfahrensbeteiligte in der Akte über Sie schreiben. Der Beistand kann Sie im Saal jederzeit beraten, da die Relevanz der Frage für Ihre Rechte sich aus der unmittelbaren Vernehmungssituation ergibt.
Führen Sie deshalb vor dem Gerichtstermin mit Ihrem Beistand eine detaillierte Risiko-Analyse aller Sachverhalte durch, um die Beratung im Saal zu beschleunigen.
Wie unterscheidet sich die Rolle des Zeugenbeistands vom Strafverteidiger?
Die Rollen von Zeugenbeistand und Strafverteidiger unterscheiden sich fundamental in ihrer prozessualen Stellung. Der zentrale Unterschied liegt im Status der vertretenen Person: Ein Strafverteidiger vertritt eine Prozesspartei (den Angeklagten), der eine aktive Rolle im Verfahren hat. Der Zeugenbeistand hingegen betreut lediglich ein reines Beweismittel, nämlich den Zeugen selbst. Diese juristische Kluft bestimmt maßgeblich die jeweiligen Befugnisse und die Reichweite der Vorbereitung.
Die weitreichendsten Rechte besitzt der Strafverteidiger, der das Recht auf uneingeschränkte Akteneinsicht genießt, um die Verteidigung umfassend vorzubereiten. Für Zeugenbeistände gilt dies nicht. Die Gerichte müssen verhindern, dass Zeugen ihre Aussagen an den Akteninhalt anpassen. Um die Wahrheitsfindung zu sichern, soll das Wissen des Zeugen aus der Erinnerung kommen. Erkenntnisse aus der Ermittlungsakte könnten die Aussage manipulieren, weshalb der Beistand nur selten Akteneinsicht erhält.
Ein Zeugenbeistand agiert primär reaktiv, indem er Rechte und Schweigerechte direkt im Gerichtssaal schützt (§ 68b StPO). Er erhält Akteneinsicht nur, wenn er ein strenges „berechtigtes Interesse“ nach § 475 StPO nachweisen kann. Eine weitere Konsequenz betrifft die Kosten: Scheitert der Zeugenbeistand mit seinem Antrag auf Akteneinsicht, trägt der Mandant die prozessualen Kosten dafür selbst, während die Kostenverteilung für Verteidiger anders geregelt ist (§ 473 Abs. 1 StPO).
Erkennen Sie, dass die Rolle des Zeugenbeistands nicht in der strategischen Vorbereitung liegt, sondern in der Sicherstellung Ihrer Rechte während der Aussage.
Hinweis: Bitte beachten Sie, dass die Beantwortung der FAQ Fragen keine individuelle Rechtsberatung darstellt und ersetzen kann. Alle Angaben im gesamten Artikel sind ohne Gewähr. Haben Sie einen ähnlichen Fall und konkrete Fragen oder Anliegen? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren. Wir klären Ihre individuelle Situation und die aktuelle Rechtslage.
Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
Akteneinsicht (für Zeugen)
Die Akteneinsicht für Zeugen beschreibt das eingeschränkte Recht eines Zeugen oder seines Zeugenbeistands, Dokumente und Unterlagen der staatsanwaltschaftlichen oder gerichtlichen Ermittlungsakte einzusehen.
Dieses Recht ist bewusst stark begrenzt, weil der Gesetzgeber verhindern möchte, dass Zeugen ihre Aussage an den schriftlichen Inhalt der Akten anpassen, was die Integrität der Wahrheitsfindung massiv gefährden würde.
Beispiel: Obwohl der Zeugenbeistand eine Einsicht in die Anklageschrift und den Haftbefehl forderte, lehnte das Oberlandesgericht Celle die Akteneinsicht ab, da die Zeugen die hohe Hürde des berechtigten Interesses nicht nahmen.
Auskunftsverweigerungsrecht (§ 55 StPO)
Das Auskunftsverweigerungsrecht ist das zentrale Recht eines Zeugen, auf bestimmte Fragen nicht antworten zu müssen, wenn er sich dadurch selbst der Gefahr einer Strafverfolgung oder Ordnungswidrigkeit aussetzen würde.
Das Gesetz schützt hiermit den Zeugen davor, unbeabsichtigt zu seiner eigenen Überführung beizutragen – niemand muss sich selbst belasten, dies ist ein Grundpfeiler des Rechtsstaats.
Beispiel: Die Kriminalhauptkommissare befürchteten, sie könnten sich im Rahmen ihrer Vernehmung des Geheimnisverrats selbst bezichtigen und wollten daher durch Kenntnis der Akten ihr Auskunftsverweigerungsrecht prüfen.
Berechtigtes Interesse (§ 475 StPO)
Juristen nennen das berechtigte Interesse die zentrale, hohe Hürde, die ein Zeuge oder ein sonstiger Verfahrensbeteiligter überwinden muss, um gemäß § 475 StPO Akteneinsicht zu erhalten.
Der Antragsteller muss schlüssig darlegen, dass er ohne die Kenntnis der Akteninhalte einen konkreten Nachteil erleiden oder seine Rechte nicht effektiv wahrnehmen kann; bloße Neugier reicht definitiv nicht aus.
Beispiel: Das OLG Celle stellte fest, dass die Argumentation der angeblichen Orientierungslosigkeit der Polizisten das strenge Erfordernis des berechtigten Interesses für eine Akteneinsicht nicht erfüllte.
Prozesspartei
Eine Prozesspartei ist ein juristischer Begriff für die Personen, die aktiv am Gerichtsverfahren beteiligt sind und ihre eigenen Rechte verfolgen oder gegen die ein Verfahren geführt wird, wie etwa der Kläger oder der Angeklagte.
Der Status als Prozesspartei ist entscheidend, da er die prozessualen Rechte bestimmt; eine Prozesspartei (der Angeklagte) hat im Gegensatz zum Zeugen das uneingeschränkte Recht auf Akteneinsicht.
Beispiel: Der angeklagte Staatsanwalt galt als Prozesspartei und besaß uneingeschränkten Zugriff auf die Akten, während die geladenen Kriminalhauptkommissare diesen Status nicht besaßen.
Waffengleichheit
Waffengleichheit bezeichnet im Prozessrecht den Grundsatz, dass alle Verfahrensbeteiligten vergleichbare prozessuale Möglichkeiten erhalten müssen, um ihre Rechte wahrzunehmen und sich effektiv zu verteidigen.
Dieses Prinzip sorgt für ein faires Verfahren, indem es verhindert, dass eine Seite durch überlegene Informationsrechte oder Verteidigungsbefugnisse einen unfairen Vorteil gegenüber der anderen hat.
Beispiel: In dem Fall vor dem Oberlandesgericht Celle ging es den Juristen vielmehr um die prozessuale Waffengleichheit zwischen den Zeugen und dem Angeklagten als um monetäre Streitwerte.
Zeugenbeistand (§ 68b StPO)
Ein Zeugenbeistand ist ein Rechtsanwalt, dessen Aufgabe es ist, einen Zeugen während der Vernehmung zu beraten und dessen prozessuale Rechte, insbesondere das Auskunftsverweigerungsrecht, zu schützen.
Seine Haupttätigkeit liegt in der sogenannten Ad-hoc-Beratung im Gerichtssaal, da ihm – im Gegensatz zum Verteidiger – kein automatisches Recht auf Akteneinsicht zur Vorbereitung zusteht.
Beispiel: Der Zeugenbeistand der Kriminalhauptkommissare musste vor Gericht seine Befugnisse klären lassen, da das Landgericht Hannover seinen weitreichenden Antrag auf umfassende Akteneinsicht abgelehnt hatte.
Das vorliegende Urteil
Oberlandesgericht Celle – Az.: 2 Ws 203/25 – Beschluss vom 05.08.2025
* Der vollständige Urteilstext wurde ausgeblendet, um die Lesbarkeit dieses Artikels zu verbessern. Klicken Sie auf den folgenden Link, um den vollständigen Text einzublenden.


