Unterlassene Hilfeleistung und Behinderung von hilfeleistenden Personen – Was sollte man unbedingt beachten?
I. Einleitung
Die mediale Berichterstattung rund um den diesem Beitrag zugrundeliegenden Fall war nahezu omnipräsent. Die Bilder der Überwachungskamera gingen durch alle Medien und haben eine gesellschaftliche Debatte über mangelnde Zivilcourage, fehlende Empathie und die Verrohung der Sitten losgetreten. Es ging um ein Ereignis, das sich bereits am 3. Oktober 2016 in einer Essener Filiale der Deutschen Bank zugespielt hat. Ein 83-jähriger Rentner betrat die dortige Filiale außerhalb der Geschäftszeiten, um im Vorraum der Filiale u.a. Kontoauszüge am Kontoauszugsdrucker auszudrucken. Plötzlich kippte er um und schlug dabei mit dem Kopf gegen einen Bankautomaten. Nach einer gewissen Zeit der Benommenheit raffte er sich wieder auf, schlug jedoch beim Versuch, sich aufzurichten, erneut mit dem Hinterkopf auf. Beim dritten und letzten Versuch schaffte es der Rentner zwar wieder in den Stand, kippte aber nochmal um und schlug erneut ungebremst auf den Boden auf. So blieb er inmitten des Vorraums der Filiale reglos liegen, die Kontoauszüge und seine Kopfbedeckung um ihn herum verteilt.
Was sich im Anschluss daran abgespielt hat, haben Richter und Staatsanwaltschaft des AG Essen-Borbeck ziemlich erschüttert. Insgesamt vier Bankkunden betraten nach dem Sturz des Seniors die Filiale, um ebenfalls ihren Bankgeschäften nachzugehen. Dass Sie dabei aber durch eine am Boden liegende, offenbar hilflose Person „behindert“ wurden, schien sie allesamt nicht weiter zu stören. Ganz im Gegenteil: z.T. überstiegen Sie das „Hindernis“ einfach oder aber machten einen großen Bogen darum und überließen den Rentner seinem Schicksal. Nach etwa 20 Minuten fasste ein couragierter Essener die – tatsächlich wie moralisch – einzig richtige Entscheidung und wählte den Notruf. Der Verletzte wurde in ein Krankenhaus eingeliefert, dort intensivmedizinisch behandelt, verstarb aber dennoch infolge seiner schweren Verletzungen an einem Schädel-Hirn-Trauma.
Jetzt wurden zunächst drei der vier Angeklagten (39, 55 und 62 Jahre alt) vor dem AG Borbeck wegen unterlassener Hilfeleistung zu Geldstrafen von 2400 € bis zu 3600 € verurteilt (Urt. vom 18.09.2017). Eine zusätzliche besondere Dramaturgie dieses Falles: die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wurden alleine dadurch ins Rollen gebracht, da die Tochter des Verstorbenen fürchtete, jemand habe die Bankkarte ihres Vaters gestohlen. Als die Polizei daraufhin das Videoüberwachungsmaterial der Bankfiliale sichtet, stößt sie auf die verstörend wirkende Gleichgültigkeit der anderen Kunden, die z.T. einfach über den hilflos am Boden liegenden älteren Herren hinwegsteigen. Dieser tragische Fall soll für die Strafrechtsexperten der Rechtsanwaltskanzlei Kotz aus Kreuztal bei Siegen Anlass sein, die der Verurteilung zugrunde liegende Strafnorm der unterlassenen Hilfeleistung (§ 323c StGB) einmal aus rechtlicher Sicht näher unter die Lupe zu nehmen und für Sie eingehend und verständlich zu beleuchten.
II. § 323c – Die unterlassene Hilfeleistung im Detail
In § 323c StGB (Unterlassene Hilfeleistung und Behinderung von hilfeleistenden Personen) heißt es:
(1) Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Ebenso wird bestraft, wer in diesen Situationen eine Person behindert, die einem Dritten Hilfe leistet oder leisten will.
Der Absatz 1 dieser Vorschrift sanktioniert die Verletzung der Hilfspflicht bei Unglücksfällen oder allgemeiner Gefahr. Normzweck ist die strafrechtliche Sicherung eines Mindestgehalts von Solidarpflichten als Pflicht zur Leistung von Nothilfe. Der Absatz 2 wurde aufgrund der zunehmenden Zahl der – die Rettungsmaßnahmen zum Teil erheblich behindernden – sog. Gaffer eingefügt und trat am 30.05.2017 in Kraft. Der Tatbestand setzt eine spezifische Gefahrenlage in Form eines Unglücksfalls, einer Lage gemeiner Gefahr oder eine durch Not verursachte Lage voraus.
Ein Unglücksfall definiert die Rechtsprechung als ein plötzlich eintretendes Ereignis, das erhebliche Gefahr für ein Individualrechtsgut mit sich bringt. Dazu zählt beispielsweise das Niederschlagen eines Betrunkenen oder die Verletzung eines Verkehrsteilnehmers. Die gemeine Gefahr hingegen ist ein Zustand, bei dem die Möglichkeit eines erheblichen Schadens für unbestimmt viele Personen hinsichtlich Leib, Leben oder bedeutender Sachwerte nahe liegt. Von einer gemeinen Not spricht man, wenn eine die Allgemeinheit betreffende Notlage, wie beispielsweise infolge von Naturkatastrophen oder Groß-Schadensereignissen bei Industrie-Unfällen oder Bränden vorherrscht. Täter einer unterlassenen Hilfeleistung kann jedermann sein. Grundsätzlich ist somit jeder zur Hilfe verpflichtet, der dazu in der Lage ist (s.u.). Wie bei allen anderen Straftaten kann aber auch wegen unterlassener Hilfeleistung nur bestraft werden, wer strafmündig ist. Die Strafmündigkeit beginnt mit dem 14. Geburtstag und endet in aller Regel erst mit dem Tod. Die Tathandlung stellt das Unterlassen von Hilfe dar, die nach objektiv-nachträglicher Prognose erforderlich und möglich sein muss. Um einer Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung zu entgehen, muss man alles unternehmen, was zur Rettung erforderlich und möglich ist. Art und Maß der Hilfe richten sich auch nach den Fähigkeiten und Möglichkeiten des Hilfspflichtigen.
Unstreitig ist vor diesem Hintergrund, dass von jedem in einer solchen Situation als Mindestanforderung erwartet werden kann, unverzüglich die Notrufnummer 112 bzw. die 110 für die Polizei zu wählen und diese über den Notfall zu informieren. Was darüber hinaus an Hilfe geleistet werden muss bzw. geleistet werden kann, ist eine Einzelfallentscheidung und lässt sich nicht pauschal beurteilen. Als orientierender Anhaltspunkt kann aber u.a. gelten, dass die Hilfeleistung nach den konkreten Umständen dem Täter zumutbar sein soll. Daraus lässt sich ableiten, dass er die für ihn entsprechend seiner Fähigkeiten, Lebenserfahrung und Vorbildung bestmögliche Hilfe leisten muss. Darüber hinaus ist unbestritten, dass die Hilfeleistung dem Täter ohne erhebliche eigene Gefährdung möglich sein muss. So kann beispielsweise nicht erwartet werden, dass ein Nichtschwimmer zur Rettung in tiefes Wasser springen muss oder jemand einen mit Waffengewalt ausgetragenen Konflikt zu schlichten versucht, indem er körperlich in diesen Streit eingreift. § 323c setzt Vorsatz voraus, wobei bedingter Vorsatz (dolus eventualis) genügt. Eventualvorsatz liegt nach herrschender Auffassung dann vor, wenn der Täter den Taterfolg als Folge seines Handelns ernsthaft für möglich hält und ihn zugleich billigend in Kauf nimmt. Er nimmt dabei den Erfolg billigend in Kauf, wenn er sich mit diesem abfindet. Zu beachten ist allerdings, dass niemand gegen den Willen des Opfers zur Hilfeleistung verpflichtet ist. Vielmehr beseitigt ein wirksamer Verzicht des Bedrohten auf Hilfe die Rechtswidrigkeit des Unterlassens. Der Strafrahmen sieht eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr oder eine Geldstrafe vor.
III. Ein Unglück kommt selten allein…
Oftmals tritt eine mögliche Strafbarkeit gem. § 323c StGB wegen unterlassener Hilfeleistung nicht wie in dem oben geschilderten Essener Fall völlig isoliert als einzelne Straftat auf, sondern vielmehr im Verbund mit mehreren Straftatbeständen. Einer der häufigsten Fälle in diesem Zusammenhang stellt sicherlich ein Verkehrsunfall dar. Sollte beispielsweise durch den Unfall eine Person körperlich verletzt worden sein und der Unfallverursacher sich ungeachtet dessen vom Unfallort entfernen, so kommt nicht eine Fahrerflucht gem. § 142 StGB in Betracht (hierzu ausführlicher unser Beitrag unter Strafrecht-Infos: „Fahrerflucht als Straftatbestand – Unfallflucht“), sondern u.U. sogar ein (versuchter) Totschlag oder (versuchter) Mord durch Unterlassen. In letzter Zeit verstärkt im Zusammenhang mit Unfällen aufgetreten ist das Phänomen der „Gaffer“, also im Regelfall am Unfallgeschehen nicht beteiligte Schaulustige, die aus Sensationsgier die Unfallbergung bzw. Rettungsmaßnahmen durch schlichtes „gaffen“ oder aber durch das Filmen mit Smartphones zum Teil sogar erheblich behindern. Das war Anlass genug für den Gesetzgeber, § 323c den Abs. 2 hinzuzufügen, der nunmehr auch die Behinderung des Hilfeleistens unter Strafe stellt. Darüber hinaus ist beim Filmen von Unglücksfällen auch stets an eine Strafbarkeit nach § 201a StGB (u.a. hierzu ausführlicher unser Beitrag unter Strafrecht-Infos: „Internetstrafrecht – Straftaten mit Bezug zum Internet“) zu denken, in dem es heißt: „mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine Bildaufnahme, die die Hilflosigkeit einer anderen Person zur Schau stellt, unbefugt herstellt oder überträgt und dadurch den höchstpersönlichen Lebensbereich der abgebildeten Person verletzt.“
IV. Fazit und Empfehlung der Rechtsanwälte Kotz
Im eingangs geschilderten Fall, über den das AG Borbeck aktuell zu entscheiden hatte, versuchten sich alle drei Angeklagten mit der (Schutz-)Behauptung, sie seien nahezu übereinstimmend davon ausgegangen, es handele sich bei der im Vorraum der Filiale regungslos liegenden Person nicht um eine hilfsbedürftige Person, sondern um einen (schlafenden) Obdachlosen, aus der Verantwortung zu ziehen. Diese Rechtfertigungslogik mag verwundern, ist doch nicht auf Anhieb ersichtlich, wieso man einem reglos am Boden liegenden Obdachlosen die Hilfe (in der Argumenationslogik: völlig zu Recht) verweigert, einem „normalen“ Menschen (hätte man ihn als solchen erkannt), aber selbstverständlich sofort Hilfe geleistet hätte. Hier offenbart sich nicht nur eine illegitime Rechtfertigungslogik, sondern vielmehr auch ein völlig inhumanes Menschenbild. Denn unterstellt, es hätte sich tatsächlich um einen Obdachlosen gehandelt, so ergibt sich dadurch juristisch keine andere Bewertung, da das Opfer inmitten der Filiale auf dem Bogen lag und somit auch ein vermeintlich schlafender Obdachloser in dieser Lage und Position eher auf einen Unglücksfall als auf einen Tiefschlaf schließen lässt. Vor diesem Hintergrund durchaus begrüßenswert ist der generalpräventive Aspekt dieser Verurteilungen und es bleibt zu wünschen, dass diese Debatte um unterlassene Hilfeleistung und mangelnde Zivilcourage auf einen durch die Medien ordentlich gepflügten und somit fruchtbaren Boden fällt, damit sich solch erschreckende Ereignisse nicht allzu schnell wiederholen mögen.
Sollten Sie also einmal in eine Situation geraten, in der eine andere Person Hilfe benötigt, so scheuen Sie nicht davor zurück, den Notruf 112 (Feuerwehr/Rettungsdienst) bzw. 110 (Polizei) zu wählen und das Ereignis zu schildern. Dies sollte als Mindestsolidarpflicht in einem Zeitalter der mobilen Kommunikationskultur kein allzu großes Hindernis darstellen. Nicht weniger zögerlich sollten Sie sein, wenn es um eine tatkräftige Hilfe geht (z.B. bei einem Herzstillstand des Opfers und der daraufhin so schnell wie möglich zu erfolgenden Reanimation durch eine Herzdruckmassage). Wer in Hilfsabsicht und somit nach bestem Wissen und Gewissen handelt, muss keine Strafen befürchten, selbst wenn er bei der ersten Hilfe Fehler machen sollte. Darüber hinaus ist man als Hilfeleistender bei Unglücksfällen im Rahmen der Gesetzlichen Unfallversicherung gem. § 2 Abs. 1 Nr. 13a SGB VII in den Schutz der Gesetzlichen Unfallversicherung einbezogen. Dies alles sollte man nicht nur aus Angst vor einer möglichen Strafbarkeit heraus tun, sondern in erster Linie aus einer humanistischen Motivlage, basierend auf der sog. Goldenen Regel (es handelt sich dabei um einen alten und verbreiteten Grundsatz der praktischen Ethik, der in abgewandelten Formen auch im Volksmund verbreitet ist und lautet):
Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst.