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Sorgfaltspflichten Arbeitgeber nach Arbeitsschutzgesetz zur Sicherung Arbeitsstätte

Ein Bauarbeiter stürzt aus drei Metern Höhe, wird von Eisenstangen durchbohrt und überlebt schwer verletzt – ein Horrorszenario auf der Baustelle. Doch wer haftet, wenn der Arbeitsschutz offensichtlich versagt hat? Ein aktuelles Gerichtsurteil wirft ein Schlaglicht darauf, wie umfassend die Pflichten eines Arbeitgebers sind und welche Konsequenzen ein Mangel an Sicherheit haben kann.

Zum vorliegenden Urteil Az.: 20 Qs 55/23 | Schlüsselerkenntnis | FAQ  | Glossar  | Kontakt

Das Wichtigste in Kürze

  • Gericht: LG Hildesheim
  • Datum: 14.05.2024
  • Aktenzeichen: 20 Qs 55/23
  • Verfahrensart: Beschwerdeverfahren im Strafrecht zur Eröffnung des Hauptverfahrens
  • Rechtsbereiche: Strafrecht (fahrlässige Körperverletzung), Arbeitsrecht, Zivilrecht

Beteiligte Parteien:

  • Kläger: Staatsanwaltschaft Hildesheim, die die Anklage erhob und die Eröffnung des Hauptverfahrens anstrebte.
  • Beklagte: Die Angeschuldigten K. (Bauunternehmer) und S. (Polier), denen Fahrlässige Körperverletzung durch Unterlassen vorgeworfen wird.

Worum ging es in dem Fall?

  • Sachverhalt: Am 31.08.2020 kam es auf einer Baustelle zu einem Arbeitsunfall, bei dem der Geschädigte E. von einem Stahlträger abstürzte und schwer verletzt wurde. Dies geschah, weil nach Ansicht der Staatsanwaltschaft keine ausreichende Absturzsicherung angebracht war.
  • Kern des Rechtsstreits: Es ging um die Frage, ob gegen die Angeschuldigten K. und S. ein Hinreichender Tatverdacht wegen fahrlässiger Körperverletzung durch Unterlassen besteht, der die Eröffnung eines Hauptverfahrens rechtfertigt. Das Amtsgericht hatte dies zuvor abgelehnt, woraufhin die Staatsanwaltschaft Beschwerde einlegte.

Was wurde entschieden?

  • Entscheidung: Das Landgericht Hildesheim hob den ablehnenden Beschluss des Amtsgerichts Alfeld (Leine) auf. Die Anklageschrift gegen die Angeschuldigten K. und S. wegen fahrlässiger Körperverletzung wurde zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet.
  • Begründung: Das Gericht sah einen hinreichenden Tatverdacht, da nach dem Ermittlungsergebnis eine spätere Verurteilung der Angeschuldigten wahrscheinlich ist. Es wurde festgestellt, dass Angeschuldigter K. als Arbeitgeber und Angeschuldigter S. als Polier ihre Pflichten zur Sicherung der Arbeitsstätte und zum Schutz vor Gefahren nicht erfüllt hatten.
  • Folgen: Die Entscheidung bedeutet, dass nun vor dem Amtsgericht Alfeld (Leine) eine Hauptverhandlung stattfinden wird, in der über die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Angeschuldigten verhandelt wird.

Der Fall vor Gericht


Ein schwerer Unfall auf der Baustelle: Wer trägt die Verantwortung?

Auf Baustellen lauern viele Gefahren, und jeder hat schon einmal die Schilder gesehen, die vor dem Betreten warnen. Doch was passiert, wenn direkt auf der Baustelle etwas schiefgeht und ein Arbeiter schwer verletzt wird, weil offenbar Sicherheitsvorkehrungen fehlten? Wer ist dann rechtlich verantwortlich? Der Chef, der das Unternehmen leitet? Der Vorarbeiter, der die Arbeiten vor Ort beaufsichtigt? Oder trägt der Arbeiter selbst eine Mitschuld? Genau mit diesen Fragen musste sich das Landgericht Hildesheim in einem komplizierten Fall befassen.

Bauarbeiter von Bewehrungsstäben durchbohrt auf Baustelle
Schwerer Baustellen-Unfall: Bauarbeiter von Eisenstangen durchbohrt. Tragisches Unfallopfer. | Symbolbild: KI-generiertes Bild

Ein Bauarbeiter, Herr E., stürzte bei Montagearbeiten aus fast drei Metern Höhe in die Tiefe und wurde von mehreren Eisenstangen durchbohrt. Er überlebte, erlitt aber lebensbedrohliche Verletzungen. Die Staatsanwaltschaft, also die staatliche Anklagebehörde, war überzeugt: Dieser Unfall hätte verhindert werden müssen. Sie klagte deshalb den Bauunternehmer, Herrn K., und seinen Polier, Herrn S., wegen fahrlässiger Körperverletzung durch Unterlassen an. Das bedeutet, ihnen wurde nicht vorgeworfen, aktiv etwas getan zu haben, sondern es unterlassen zu haben, für die notwendige Sicherheit zu sorgen.

Der Weg zum Gericht: Warum ein Fall zweimal geprüft wurde

Bevor es in Deutschland zu einer richtigen Gerichtsverhandlung, dem sogenannten Hauptverfahren, kommt, prüft ein Gericht zunächst die Anklage der Staatsanwaltschaft. Es stellt sich die Frage: Besteht ein hinreichender Tatverdacht? Das ist eine Art rechtlicher Filter. Ein hinreichender Tatverdacht liegt vor, wenn es nach vorläufiger Prüfung der Beweise wahrscheinlicher ist, dass die Angeklagten am Ende des Prozesses verurteilt als freigesprochen werden. Es geht also noch nicht um eine endgültige Verurteilung, sondern nur darum, ob es genügend Anhaltspunkte für eine Hauptverhandlung gibt.

In diesem Fall geschah etwas Ungewöhnliches. Das erste zuständige Gericht, das Amtsgericht Alfeld, lehnte die Eröffnung des Hauptverfahrens ab. Die Richter dort waren der Meinung, die Beweise würden nicht ausreichen, um eine spätere Verurteilung des Bauunternehmers K. und des Poliers S. wahrscheinlich zu machen. Doch die Staatsanwaltschaft war damit nicht einverstanden. Sie legte eine sogenannte sofortige Beschwerde ein. Damit wird die Entscheidung an die nächsthöhere Instanz, hier das Landgericht Hildesheim, weitergereicht, damit diese den Fall erneut prüft.

Die Entscheidung des Landgerichts: Der Prozess muss stattfinden

Das Landgericht Hildesheim kam zu einem völlig anderen Ergebnis als das Amtsgericht. Es hob die Entscheidung des Amtsgerichts auf und ordnete an: Die Anklage gegen den Bauunternehmer K. und den Polier S. wird zugelassen, und das Hauptverfahren wird eröffnet. Die Richter des Landgerichts waren also der Ansicht, dass die Beweise sehr wohl für einen hinreichenden Tatverdacht ausreichen. Der Fall muss nun in einer öffentlichen Verhandlung vor der Strafrichterin des Amtsgerichts Alfeld umfassend aufgeklärt werden. Die Kosten für das Beschwerdeverfahren muss vorläufig die Staatskasse tragen.

Warum muss der Bauunternehmer haften? Die Pflichten des Arbeitgebers

Aber warum sah das Landgericht die Sache so anders? Um das zu verstehen, müssen wir uns die juristische Begründung für den Bauunternehmer K. Schritt für Schritt ansehen. Das Gericht stellte klar, dass Herr K. als Arbeitgeber eine besondere Verantwortung trägt.

Die grundlegende Schutzpflicht: Wer eine Gefahr schafft, muss sichern

Grundsätzlich gilt im deutschen Recht: Wer eine Gefahrenquelle schafft oder unterhält – wie eben eine Baustelle –, muss alle zumutbaren Vorkehrungen treffen, um andere vor Schaden zu bewahren. Das nennt man Verkehrssicherungspflicht. Man kann es sich wie bei einem Hausbesitzer vorstellen, der im Winter den Gehweg vor seinem Haus streuen muss, damit niemand ausrutscht. Für einen Arbeitgeber gilt diese Pflicht in verschärfter Form gegenüber seinen Angestellten. Er hat eine sogenannte Garantenstellung, was bedeutet, dass er rechtlich verpflichtet ist, seine Mitarbeiter aktiv vor Gefahren bei der Arbeit zu schützen. Diese Pflicht ergibt sich direkt aus dem Arbeitsvertrag und wird durch zahlreiche Arbeitsschutzgesetze konkretisiert.

Die umstrittene Gefährdungsbeurteilung

Ein zentrales Instrument des Arbeitsschutzes ist die Gefährdungsbeurteilung. Das ist ein offizielles Dokument, in dem der Arbeitgeber vor Beginn der Arbeiten alle möglichen Gefahren systematisch erfassen, bewerten und Maßnahmen zur Vermeidung festlegen muss. Was war hier das Problem? Laut einem Zeugen vom Gewerbeaufsichtsamt hatte Herr K. zunächst zugegeben, gar keine solche Beurteilung erstellt zu haben. Später legte er ein Dokument vor, das jedoch nicht von ihm unterschrieben war, was seine Gültigkeit infrage stellt. Doch das Gericht sagte: Selbst wenn wir annehmen, dieses Dokument wäre gültig, steht darin schwarz auf weiß, dass bei Arbeiten an Absturzkanten eine Absturzsicherung erforderlich ist. Herr K. hat also entweder seine Pflicht zur Erstellung der Beurteilung verletzt oder die darin selbst festgelegten, notwendigen Schutzmaßnahmen ignoriert. Beides ist ein schwerwiegender Vorwurf.

Kann sich der Chef auf den Sicherheitsplan eines anderen verlassen?

Auf der Baustelle gab es einen allgemeinen Sicherheits- und Gesundheitsschutzplan (SiGePlan), der von einer anderen Person im Auftrag der Bauherrin erstellt wurde. In diesem Plan war an der späteren Unfallstelle keine Absturzsicherung vorgesehen. Könnte sich Herr K. darauf berufen? Das Gericht verneinte dies klar. Ein solcher allgemeiner Plan entbindet den einzelnen Arbeitgeber nicht von seiner eigenen, direkten Verantwortung für seine Mitarbeiter. Er muss diesen Plan zwar berücksichtigen, aber wenn er erkennt, dass eine konkrete Gefahr für seine Leute besteht, die im Plan nicht erfasst ist, muss er trotzdem handeln. Im vorliegenden Fall gab der Ersteller des SiGePlans sogar an, er habe gar nicht gewusst, dass an dieser Stelle gearbeitet werden sollte – sonst hätte er eine Sicherung eingeplant.

Hat sich der Arbeiter nicht selbst in Gefahr gebracht?

Ein häufiges Argument in solchen Fällen ist, der Verunfallte habe sich eigenverantwortlich selbst gefährdet. Könnte man sagen, der Arbeiter E. hätte die Gefahr erkennen und die Arbeit verweigern müssen? Das Gericht wies diese Überlegung zurück. Die Arbeitsschutzvorschriften dienen gerade dazu, Arbeitnehmer auch vor eigenen Fehleinschätzungen oder Leichtsinn zu schützen. Die Verantwortung des Arbeitgebers entfällt nicht einfach, nur weil der Arbeitnehmer die Gefahr ebenfalls kannte. Eine Ausnahme gäbe es nur, wenn der Arbeiter sich bewusst und absichtlich selbst schädigen wollte, wofür es hier keinerlei Anzeichen gab.

Die ersten Aussagen des Poliers S. und des verletzten Arbeiters E. deuteten zudem auf ein gemeinsames, abgestimmtes Vorgehen hin. Herr E. stand demnach oben auf dem Träger, um ihn zu verschrauben, während der Polier S. ihm von unten die Schraubenmuttern anreichen sollte. Die spätere Behauptung des Poliers, Herr E. sei eigenmächtig und unerwartet auf den Träger geklettert, wertete das Gericht als wenig glaubhafte Schutzbehauptung.

Kann ein Chef die Verantwortung einfach weitergeben?

Herr K. als Bauunternehmer argumentierte, seine Mitarbeiter seien erfahren und grundsätzlich selbst für ihre Sicherheit verantwortlich. Er erwarte, dass sie Gefahren erkennen und entsprechende Sicherungen selbst anfordern. Auch diesem Argument erteilte das Gericht eine klare Absage. Ein Arbeitgeber kann die Verantwortung für den Arbeitsschutz nicht pauschal auf seine Mitarbeiter abwälzen. Zwar kann er Aufgaben an einen qualifizierten Vorgesetzten, wie den Polier S., delegieren. Das nennt man Pflichtendelegation. Aber selbst dann wird der Chef nicht vollständig aus der Verantwortung entlassen. Er behält immer eine Auswahl-, Anweisungs- und Überwachungspflicht. Das bedeutet, er muss sicherstellen, dass der Polier für die Aufgabe geeignet ist, er muss ihn klar anweisen und zumindest stichprobenartig kontrollieren, ob die Sicherheitsregeln auch wirklich eingehalten werden – insbesondere bei so gefahrvollen Arbeiten wie in großer Höhe. Nach Ansicht des Gerichts bestehen erhebliche Zweifel, dass Herr K. dieser Kontrollpflicht ausreichend nachgekommen ist.



Die Schlüsselerkenntnisse

Das Urteil macht deutlich, dass Arbeitgeber auf Baustellen eine umfassende und nicht übertragbare Verantwortung für die Sicherheit ihrer Mitarbeiter tragen. Selbst wenn ein Vorarbeiter die Baustelle beaufsichtigt oder der verunglückte Arbeiter die Gefahr hätte erkennen können, bleibt der Chef in der Pflicht – er muss Sicherheitsrisiken im Voraus bewerten, entsprechende Schutzmaßnahmen anordnen und deren Einhaltung kontrollieren. Die Entscheidung zeigt, dass Gerichte Arbeitsschutzpflichten sehr ernst nehmen und Ausreden wie „die Mitarbeiter sind selbst verantwortlich“ oder „der allgemeine Sicherheitsplan hat nichts vorgeschrieben“ nicht gelten lassen. Für Unternehmer bedeutet das: Wer Mitarbeiter in gefährlichen Bereichen arbeiten lässt, ohne für angemessene Sicherheitsvorkehrungen zu sorgen, muss mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen – auch wenn der Unfall nicht absichtlich herbeigeführt wurde.

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Symbolische Grafik zu FAQ - Häufig gestellte Fragen aus dem Strafrecht" mit Waage der Gerechtigkeit und Gesetzbüchern im Hintergrund

Häufig gestellte Fragen (FAQ)

Wer trägt die grundsätzliche Verantwortung für die Sicherheit am Arbeitsplatz?

Die grundsätzliche und primäre Verantwortung für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz trägt der Arbeitgeber. Dies ist eine Kernpflicht, die sich direkt aus dem Arbeitsrecht und insbesondere aus dem Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) sowie der allgemeinen Fürsorgepflicht des Arbeitgebers gegenüber seinen Mitarbeitern ergibt. Die Sicherstellung eines sicheren Arbeitsumfelds ist somit eine gesetzliche Pflicht, die nicht einfach abgewälzt werden kann.

Die umfassende Pflicht des Arbeitgebers

Für Sie als Arbeitnehmer bedeutet das, dass Ihr Arbeitgeber verpflichtet ist, ein sicheres Arbeitsumfeld zu schaffen und zu erhalten. Diese Verantwortung ist sehr weitreichend und umfasst verschiedene Bereiche:

  • Organisation und Planung: Der Arbeitgeber muss Arbeitsabläufe und Arbeitsplätze so gestalten, dass Gefahren von vornherein vermieden oder minimiert werden. Er muss beispielsweise eine Gefährdungsbeurteilung durchführen, um Risiken zu erkennen und entsprechende Schutzmaßnahmen festzulegen.
  • Bereitstellung von Mitteln: Dazu gehört die Bereitstellung sicherer Arbeitsmittel und die Bereitstellung sowie regelmäßige Wartung von persönlicher Schutzausrüstung (wie Helme oder Sicherheitsschuhe), wenn dies für bestimmte Tätigkeiten erforderlich ist.
  • Information und Unterweisung: Der Arbeitgeber muss seine Mitarbeiter über potenzielle Gefahren aufklären und sie regelmäßig in Bezug auf sicheres Verhalten und die Nutzung von Schutzmaßnahmen unterweisen.

Delegation und die verbleibende Gesamtverantwortung

Der Arbeitgeber kann zwar Aufgaben im Bereich der Arbeitssicherheit an andere Personen übertragen, wie zum Beispiel an Führungskräfte, Sicherheitsbeauftragte oder Fachkräfte für Arbeitssicherheit. Dies wird als Delegation bezeichnet. Wichtig ist jedoch: Die ultimative Gesamtverantwortung verbleibt immer beim Arbeitgeber. Er kann die Durchführung von Aufgaben delegieren, aber nicht die Verantwortung selbst abgeben. Stellen Sie sich vor, der Arbeitgeber ist der Eigentümer eines Hauses: Er kann Handwerker beauftragen, Reparaturen durchzuführen, bleibt aber selbst dafür verantwortlich, dass das Haus insgesamt sicher ist und bleibt. Er hat die Pflicht, zu überwachen und sicherzustellen, dass die übertragenen Aufgaben auch tatsächlich und korrekt erledigt werden.

Die Rolle der Arbeitnehmer

Auch Arbeitnehmer tragen eine Verantwortung für die Sicherheit am Arbeitsplatz, jedoch ist diese nachrangig gegenüber der des Arbeitgebers und als Mitwirkungspflicht zu verstehen. Ihre Pflicht besteht darin, die vom Arbeitgeber erlassenen Sicherheitsvorschriften und Anweisungen zu befolgen, bereitgestellte Schutzausrüstung korrekt zu nutzen und erkannte Gefahren oder Mängel umgehend ihrem Vorgesetzten oder einer zuständigen Person im Betrieb zu melden. Dies ist eine wichtige Pflicht zur Kooperation, die dazu beiträgt, das gemeinsam angestrebte Ziel eines sicheren Arbeitsumfelds zu erreichen und Gefahren frühzeitig zu beseitigen.


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Welche konkreten Maßnahmen muss ein Arbeitgeber ergreifen, um seine Mitarbeiter zu schützen?

Arbeitgeber sind gesetzlich verpflichtet, die Gesundheit und Sicherheit ihrer Mitarbeiter bei der Arbeit zu schützen. Diese umfassende Schutzpflicht ist im deutschen Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) und weiteren Verordnungen festgeschrieben. Sie geht weit über eine bloße Verantwortlichkeit hinaus und erfordert konkrete, vorausschauende Schritte, um Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten zu verhindern.

Die Grundlage: Gefahren erkennen und bewerten (Gefährdungsbeurteilung)

Der wichtigste Ausgangspunkt für den Arbeitsschutz ist die sogenannte Gefährdungsbeurteilung. Hierbei geht es darum, systematisch alle potenziellen Gefahren am Arbeitsplatz zu identifizieren, zu bewerten und die notwendigen Schutzmaßnahmen festzulegen. Stellen Sie sich vor, der Arbeitgeber nimmt den Arbeitsplatz ganz genau unter die Lupe: Gibt es Stolperfallen? Sind Maschinen sicher? Gibt es Lärm oder Chemikalien? Auch psychische Belastungen können hierbei eine Rolle spielen. Diese Beurteilung muss dokumentiert und regelmäßig überprüft werden, besonders wenn sich Arbeitsbedingungen ändern.

Konkrete Schutzmaßnahmen umsetzen

Aus der Gefährdungsbeurteilung leitet der Arbeitgeber dann passende Schutzmaßnahmen ab. Dabei gilt in der Regel die sogenannte „TOP-Regel“, welche die Reihenfolge der bevorzugten Maßnahmen festlegt:

  • Technische Maßnahmen (T): Zuerst versucht man, Gefahren durch technische Lösungen zu beseitigen oder zu minimieren. Das kann zum Beispiel der Einbau von Schutzeinrichtungen an Maschinen sein, die Verbesserung der Beleuchtung oder die Absaugung von gefährlichen Dämpfen.
  • Organisatorische Maßnahmen (O): Wenn technische Lösungen nicht ausreichen, folgen organisatorische Schritte. Dazu gehören zum Beispiel die Festlegung sicherer Arbeitsabläufe, die Begrenzung der Arbeitszeit in bestimmten Gefahrenbereichen, die Regelung von Pausen oder das Einrichten von Einbahnstraßen für Gabelstapler.
  • Personenbezogene Maßnahmen (P): Als letzte Möglichkeit kommen persönliche Schutzmaßnahmen zum Einsatz. Das betrifft vor allem die Bereitstellung und regelmäßige Wartung von persönlicher Schutzausrüstung (PSA) wie Schutzhelmen, Sicherheitsschuhen, Gehörschutz oder Atemmasken. Der Arbeitgeber muss sicherstellen, dass die Mitarbeiter die PSA richtig anwenden und tragen.

Zu den konkreten Maßnahmen gehört außerdem die Bereitstellung von Erste-Hilfe-Einrichtungen und geschultem Personal sowie die Organisation des Brandschutzes (z.B. Feuerlöscher, Fluchtwege).

Mitarbeiter informieren und schulen (Unterweisung)

Es reicht nicht aus, nur Schutzmaßnahmen einzurichten. Mitarbeiter müssen auch wissen, wie sie sich sicher verhalten. Daher ist der Arbeitgeber verpflichtet, seine Beschäftigten ausreichend und angemessen zu unterweisen. Dies bedeutet:

  • Vor der Arbeitsaufnahme und bei Veränderungen: Neue Mitarbeiter oder solche, die eine neue Aufgabe übernehmen, müssen über spezifische Gefahren und Schutzmaßnahmen informiert werden.
  • Regelmäßig wiederkehrend: Unterweisungen müssen in bestimmten Abständen (oft jährlich) wiederholt werden, um das Wissen aufzufrischen und neue Entwicklungen zu berücksichtigen.
  • Verständlich und praxisnah: Die Unterweisung muss in einer Sprache erfolgen, die jeder versteht, und die Inhalte sollten direkt auf die tägliche Arbeit bezogen sein. Dabei geht es um die Bedienung von Geräten, das Verhalten in Notfällen oder den Umgang mit Gefahrstoffen.

Wirksamkeit überprüfen und anpassen

Schutzmaßnahmen sind keine einmalige Aufgabe. Der Arbeitgeber muss die Wirksamkeit der umgesetzten Maßnahmen regelmäßig überprüfen und bei Bedarf anpassen. Wenn sich zeigt, dass eine Maßnahme nicht den gewünschten Schutz bietet oder neue Gefahren entstehen, muss nachgebessert werden. Dazu gehört auch die regelmäßige Wartung von Arbeitsmitteln und Schutzeinrichtungen.

Um diese Aufgaben zu erfüllen, bestellt der Arbeitgeber in der Regel auch Fachkräfte für Arbeitssicherheit (Sifa) und Betriebsärzte, die ihn beraten und unterstützen. Sie helfen dabei, die gesetzlichen Vorschriften korrekt umzusetzen und einen sicheren Arbeitsplatz zu gewährleisten.


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Kann ein Arbeitgeber seine Verantwortung für den Arbeitsschutz an andere Personen weitergeben?

Ein Arbeitgeber trägt die grundlegende und umfassende Verantwortung dafür, dass seine Mitarbeiter sicher und gesund arbeiten können. Diese grundsätzliche Verantwortung für den Arbeitsschutz kann ein Arbeitgeber nicht vollständig abgeben. Er ist jedoch gesetzlich dazu berechtigt und in größeren Betrieben auch dazu verpflichtet, einzelne Aufgaben und Pflichten im Bereich des Arbeitsschutzes an andere, geeignete Personen zu übertragen.

Aufgabenübertragung ist möglich – aber nicht die Gesamtverantwortung

Stellen Sie sich vor, ein Unternehmen wächst oder betreibt ein großes, komplexes Projekt. Für den Arbeitgeber wäre es unmöglich, jede einzelne Arbeitsschutzmaßnahme selbst zu überwachen. Daher ist es vorgesehen, dass er spezifische Pflichten an qualifizierte und zuverlässige Mitarbeiter delegieren kann. Dies können beispielsweise die Bestellung eines Sicherheitsbeauftragten, einer Fachkraft für Arbeitssicherheit, die Beauftragung mit der Wartung bestimmter Maschinen oder die Benennung eines Brandschutzbeauftragten sein.

Diese von ihm beauftragten Personen übernehmen dann für ihren jeweiligen Aufgabenbereich die Verantwortung für die Einhaltung der Arbeitsschutzvorschriften. Sie sind in ihrem Zuständigkeitsbereich der direkte Ansprechpartner für Fragen der Arbeitssicherheit.

Die unverzichtbare „Restverantwortung“ des Arbeitgebers

Auch wenn Aufgaben wirksam übertragen werden, bleibt beim Arbeitgeber eine sogenannte Restverantwortung bestehen. Er kann sich durch die Delegation nicht einfach „entlasten“. Vielmehr muss er weiterhin sicherstellen, dass der Arbeitsschutz im gesamten Unternehmen gewährleistet ist. Diese Restverantwortung äußert sich insbesondere in drei Kernpflichten:

  • Auswahlpflicht: Der Arbeitgeber muss sorgfältig prüfen, ob die Person, der er Arbeitsschutzaufgaben überträgt, fachlich geeignet und zuverlässig ist. Es darf nicht jede beliebige Person mit sicherheitsrelevanten Aufgaben betraut werden.
  • Anweisungspflicht: Die übertragenen Aufgaben müssen klar und verständlich beschrieben werden. Die beauftragte Person muss genau wissen, was sie tun soll, welche Befugnisse sie hat und welche Mittel ihr dafür zur Verfügung stehen.
  • Überwachungspflicht: Der Arbeitgeber ist verpflichtet, regelmäßig zu kontrollieren, ob die delegierten Aufgaben tatsächlich ordnungsgemäß und gewissenhaft ausgeführt werden. Er muss sich davon überzeugen, dass die Arbeitsschutzmaßnahmen im Betrieb auch nach der Aufgabenübertragung wirksam sind und die Sicherheit gewährleistet ist.

Das bedeutet zusammenfassend: Die Gesamtverantwortung für den Arbeitsschutz liegt immer beim Arbeitgeber. Er kann Pflichten zur Erfüllung delegieren, aber nicht die Verantwortung dafür, dass diese Pflichten überhaupt erfüllt werden und der Arbeitsschutz insgesamt funktioniert. Im Falle eines Arbeitsunfalls oder einer Verletzung von Arbeitsschutzvorschriften können daher sowohl der Arbeitgeber als auch die von ihm beauftragten Personen zur Verantwortung gezogen werden, je nachdem, wo die konkrete Pflichtverletzung stattgefunden hat.


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Was genau ist eine Gefährdungsbeurteilung und warum ist sie so wichtig?

Eine Gefährdungsbeurteilung ist ein gesetzlich vorgeschriebenes Instrument im Arbeitsschutz, das darauf abzielt, Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten zu verhindern und die Gesundheit der Beschäftigten zu schützen. Stellen Sie sich vor, Ihr Arbeitsplatz wäre wie ein Haus, das Sie bewohnen. Bevor Sie einziehen, würden Sie prüfen, ob alle Leitungen sicher sind, keine Stolperfallen existieren und das Dach dicht ist. Eine Gefährdungsbeurteilung ist genau das für den Arbeitsplatz: eine systematische Bestandsaufnahme und Bewertung aller denkbaren Risiken und Gefahren.

Was ist eine Gefährdungsbeurteilung?

Im Kern ist die Gefährdungsbeurteilung ein Prozess, bei dem ein Arbeitgeber die potenziellen Gefahren an jedem Arbeitsplatz und für jede Tätigkeit erkennt, bewertet und Maßnahmen zu ihrer Beseitigung oder Minimierung festlegt. Dies ist in Deutschland im Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) in § 5 festgeschrieben und somit eine grundlegende Pflicht jedes Arbeitgebers. Es geht nicht nur um offensichtliche Risiken wie Maschinen, sondern auch um unsichtbare Gefahren wie Lärm, chemische Stoffe, psychische Belastungen (z.B. Stress, hohe Arbeitsdichte) oder unzureichende Arbeitsorganisation.

Warum ist die Gefährdungsbeurteilung so wichtig?

Die Bedeutung der Gefährdungsbeurteilung lässt sich aus mehreren Perspektiven beleuchten:

  • Schutz der Mitarbeitergesundheit und -sicherheit: Der primäre Zweck ist es, Ihre Gesundheit und Sicherheit bei der Arbeit zu gewährleisten. Durch die frühzeitige Erkennung von Gefahren und die Festlegung von Schutzmaßnahmen werden Unfälle und berufsbedingte Erkrankungen verhindert. Dies führt zu einer sichereren Arbeitsumgebung und einer höheren Lebensqualität für die Beschäftigten.
  • Rechtliche Absicherung des Arbeitgebers: Die Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung ist eine gesetzliche Pflicht. Kommt ein Arbeitgeber dieser Pflicht nicht nach oder ist die Beurteilung mangelhaft, kann dies bei Unfällen oder Gesundheitsschäden zu erheblichen rechtlichen Konsequenzen führen. Dazu gehören Bußgelder, zivilrechtliche Haftungsansprüche auf Schadenersatz oder Schmerzensgeld, und in schweren Fällen sogar strafrechtliche Ermittlungen gegen den Arbeitgeber oder verantwortliche Personen.
  • Verbesserung der Arbeitsabläufe und Wirtschaftlichkeit: Ein sicherer und gesunder Arbeitsplatz führt zu weniger Ausfallzeiten durch Krankheit oder Unfall, höherer Motivation und Produktivität der Mitarbeiter. Unternehmen, die den Arbeitsschutz ernst nehmen, profitieren oft auch von einem besseren Ruf und einer höheren Mitarbeiterbindung.

Welche Schritte umfasst eine Gefährdungsbeurteilung?

Eine Gefährdungsbeurteilung ist kein einmaliges Dokument, sondern ein kontinuierlicher Prozess, der typischerweise folgende Schritte umfasst:

  1. Ermittlung der Gefährdungen: Alle potenziellen Gefahren am Arbeitsplatz werden identifiziert (z.B. Maschinen, Stoffe, Lärm, Hitze, psychische Belastungen).
  2. Beurteilung der Risiken: Es wird bewertet, wie wahrscheinlich ein Schaden eintritt und wie schwerwiegend die Folgen wären.
  3. Festlegung von Schutzmaßnahmen: Es werden geeignete Maßnahmen entwickelt, um die Gefahren zu beseitigen oder zu minimieren. Hierbei gilt der Grundsatz „TOP“: Technische Maßnahmen (z.B. Schutzvorrichtungen), Organisatorische Maßnahmen (z.B. Arbeitszeitregelungen), Personenbezogene Maßnahmen (z.B. persönliche Schutzausrüstung wie Handschuhe, Schulungen).
  4. Durchführung der Maßnahmen: Die festgelegten Schutzmaßnahmen werden umgesetzt.
  5. Wirksamkeitskontrolle: Es wird überprüft, ob die umgesetzten Maßnahmen tatsächlich wirksam sind.
  6. Dokumentation und Aktualisierung: Die gesamte Gefährdungsbeurteilung muss schriftlich dokumentiert werden und regelmäßig aktualisiert werden, insbesondere bei Änderungen der Arbeitsbedingungen oder neuen Gefährdungen.

Folgen bei fehlender oder mangelhafter Gefährdungsbeurteilung

Wenn eine Gefährdungsbeurteilung fehlt oder erhebliche Mängel aufweist, kann dies weitreichende Konsequenzen haben:

  • Für die Sicherheit der Mitarbeiter: Die offensichtlichste und gravierendste Folge ist ein erhöhtes Risiko für Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten und gesundheitliche Beeinträchtigungen. Mitarbeiter sind Gefahren ausgesetzt, die nicht erkannt oder nicht ausreichend behandelt wurden.
  • Für die rechtliche Haftung des Arbeitgebers: Der Arbeitgeber verletzt seine gesetzliche Fürsorgepflicht. Dies kann zu Ordnungswidrigkeitenverfahren führen, die mit Bußgeldern geahndet werden können. Kommt es aufgrund einer fehlenden oder mangelhaften Gefährdungsbeurteilung zu einem schweren Unfall oder einer Gesundheitsschädigung, drohen unter Umständen sogar strafrechtliche Konsequenzen (z.B. wegen fahrlässiger Körperverletzung oder Tötung). Zudem können zivilrechtliche Schadensersatzforderungen von Betroffenen oder deren Hinterbliebenen gestellt werden. Auch Berufsgenossenschaften können Regressforderungen stellen, wenn Mängel im Arbeitsschutz zum Unfall beigetragen haben.

Eine sorgfältig durchgeführte und aktuelle Gefährdungsbeurteilung ist daher nicht nur eine gesetzliche Vorgabe, sondern ein unverzichtbarer Baustein für eine sichere, gesunde und rechtlich geschützte Arbeitswelt.


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Kann ein Arbeitnehmer selbst für einen Arbeitsunfall, der ihm passiert, mitverantwortlich gemacht werden?

Grundsätzlich ist es sehr selten, dass einem Arbeitnehmer die Mitverantwortung für einen Arbeitsunfall in einer Weise zugerechnet wird, die seine Ansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung beeinträchtigt oder die umfassenden Schutzpflichten des Arbeitgebers aufhebt. Das deutsche Arbeits- und Arbeitsschutzrecht legt einen sehr starken Fokus auf den Schutz des Arbeitnehmers, auch vor eigenen Fehlern oder Unachtsamkeiten.

Der umfassende Schutz durch den Arbeitgeber

Ihr Arbeitgeber hat eine weitreichende Pflicht, Sie vor Gefahren am Arbeitsplatz zu schützen. Diese Pflicht umfasst nicht nur die Bereitstellung sicherer Arbeitsmittel und eine sichere Arbeitsumgebung, sondern auch die regelmäßige Unterweisung in Sicherheitsvorschriften und die Überwachung, dass diese eingehalten werden. Das Ziel ist es, Sie auch vor Fehlern oder Momenten der Unachtsamkeit zu schützen, die im Arbeitsalltag passieren können. Wenn ein Unfall geschieht, weil Sie zum Beispiel eine Sicherheitsvorschrift nicht eingehalten haben, bedeutet das nicht automatisch, dass Ihnen die Hauptschuld zugeschrieben wird. Oft liegt die Verantwortung dafür, dass solche Fehler vermieden werden oder keine schweren Folgen haben, bei der Organisation des Arbeitsplatzes und den Schutzmaßnahmen des Arbeitgebers.

Wann eine Mitverantwortung in Betracht kommt

Eine wirkliche Mitverantwortung, die Ihre Ansprüche aus der Unfallversicherung beeinträchtigen könnte, kommt nur in sehr extremen Ausnahmefällen in Betracht. Dies ist der Fall, wenn eine bewusste und absichtliche Selbstgefährdung (Vorsatz) vorliegt. Stellen Sie sich vor, jemand würde einen Arbeitsunfall absichtlich herbeiführen, um sich selbst zu schaden, oder sich vorsätzlich und mit dem klaren Ziel, einen Schaden zu verursachen, über alle Sicherheitswarnungen hinwegsetzen. Dies ist nicht mit einfacher Fahrlässigkeit, Nachlässigkeit oder einem kurzen Moment der Unachtsamkeit gleichzusetzen, die im Arbeitsalltag vorkommen können. Für Sie bedeutet das: Solange Sie den Unfall nicht mit Absicht herbeigeführt haben, sind Ihre Ansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung in der Regel nicht gefährdet, selbst wenn Sie eine Rolle bei der Unfallentstehung gespielt haben.

Die Rolle der gesetzlichen Unfallversicherung

Unabhängig von kleineren Fehlern oder Unachtsamkeiten des Arbeitnehmers springt im Falle eines Arbeitsunfalls die gesetzliche Unfallversicherung (zum Beispiel die Berufsgenossenschaft oder Unfallkasse) ein. Diese ist dafür da, die Kosten für Heilbehandlung, Rehabilitation und gegebenenfalls Renten zu tragen. Der Grundsatz ist hier, dass die Versicherung für die Risiken des Arbeitslebens aufkommt, und dazu gehören auch Unfälle, die durch menschliches Versagen entstehen. Der Fokus liegt darauf, Sie nach einem Arbeitsunfall bestmöglich zu versorgen und zu unterstützen.


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Hinweis: Bitte beachten Sie, dass die Beantwortung der FAQ Fragen keine individuelle Rechtsberatung darstellt und ersetzen kann. Alle Angaben im gesamten Artikel sind ohne Gewähr. Haben Sie einen ähnlichen Fall und konkrete Fragen oder Anliegen? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren. Wir klären Ihre individuelle Situation und die aktuelle Rechtslage.


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Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt

Fahrlässige Körperverletzung durch Unterlassen

Fahrlässige Körperverletzung durch Unterlassen liegt vor, wenn jemand eine gesetzliche Schutzpflicht verletzt, indem er es unterlässt, eine gefährliche Situation zu verhindern, wodurch eine andere Person verletzt wird. Dabei muss die Person eine sogenannte Garantenstellung innehaben, also rechtlich verpflichtet sein, den Schaden abzuwenden, etwa als Arbeitgeber für die Sicherheit seiner Mitarbeiter. Im vorliegenden Fall wird dem Bauunternehmer und dem Polier vorgeworfen, dass sie trotz Kenntnis der Gefahren keine ausreichenden Sicherheitsvorkehrungen getroffen haben, wodurch der Arbeitnehmer schwer verletzt wurde.

Beispiel: Ein Arbeitgeber sieht es trotz bekannter Absturzgefahr nicht vor, Schutzgeländer zu installieren, und ein Mitarbeiter stürzt deshalb und verletzt sich schwer.

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Hinreichender Tatverdacht

Ein hinreichender Tatverdacht ist eine rechtliche Schwelle im Strafverfahren, die erfüllt sein muss, damit ein Gericht ein Hauptverfahren eröffnet. Es bedeutet, es liegen so viele Indizien und Beweise vor, dass es mehr wahrscheinlich als nicht erscheint, dass der Angeklagte eine Straftat begangen hat. Dabei geht es nur um die Wahrscheinlichkeit, nicht um eine endgültige Verurteilung. Im Text war das entscheidend, weil das erste Gericht den Tatverdacht als zu gering einstufte, das Landgericht aber anders entschied und das Verfahren zuließ.

Beispiel: Die Polizei findet Fingerabdrücke am Tatort und Zeugen machen belastende Aussagen; das reicht für einen Tatverdacht, auch wenn der Angeklagte sich noch nicht schuldig bekannt hat.

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Verkehrssicherungspflicht

Die Verkehrssicherungspflicht verpflichtet denjenigen, der eine Gefahrenquelle schafft oder unterhält, alle zumutbaren Maßnahmen zu treffen, um andere vor Schaden zu bewahren. Im Arbeitsschutz betrifft dies Arbeitgeber, die dafür sorgen müssen, dass ihr Arbeitsplatz sicher ist und keine vermeidbaren Gefahren bestehen. Diese Pflicht ergibt sich aus dem allgemeinen Schadensersatzrecht (§ 823 BGB) und spezialgesetzlichen Arbeitsschutzvorschriften. Im Bauunfall-Fall musste der Arbeitgeber dafür sorgen, dass z.B. Absturzsicherungen vorhanden sind.

Beispiel: Ein Ladenbesitzer muss dafür sorgen, dass keine Flüssigkeiten auf dem Boden liegen, damit Kunden nicht ausrutschen.

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Gefährdungsbeurteilung

Die Gefährdungsbeurteilung ist eine gesetzlich vorgeschriebene, schriftliche und systematische Analyse aller Gefahren am Arbeitsplatz durch den Arbeitgeber (§ 5 Arbeitsschutzgesetz). Sie dient dazu, Risiken zu erkennen, zu bewerten und geeignete Schutzmaßnahmen festzulegen, um Arbeitsunfälle und Gesundheitsschäden zu verhindern. Im beschriebenen Fall hatte der Arbeitgeber die Pflicht, eine solche Beurteilung zu erstellen, insbesondere für Arbeiten an Absturzkanten, und daraus resultierende Schutzmaßnahmen umzusetzen.

Beispiel: Vor Beginn von Bauarbeiten prüft der Arbeitgeber, ob bei Arbeiten in der Höhe Sicherungen notwendig sind, und ordnet z.B. das Anlegen von Absturzsicherungen an.

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Pflichtendelegation mit Auswahl-, Anweisungs- und Überwachungspflicht

Pflichtendelegation bedeutet, dass ein Arbeitgeber bestimmte Aufgaben, z.B. im Arbeitsschutz, an qualifizierte Mitarbeiter (z.B. Polier) übertragen kann. Allerdings bleibt der Arbeitgeber die Gesamtverantwortung schuldig, das heißt, er muss sorgfältig prüfen, wen er beauftragt (Auswahlpflicht), klare Anweisungen geben (Anweisungspflicht) und regelmäßig kontrollieren, ob die Aufgaben richtig erfüllt werden (Überwachungspflicht). Im Fall des Bauunfalls konnte der Unternehmer die Verantwortung nicht komplett an den Polier abgeben, weil diese Pflichten nicht ausreichend wahrgenommen wurden.

Beispiel: Ein Chef delegiert die Sicherheitskontrolle auf einer Baustelle an einen Vorarbeiter, muss aber selbst prüfen, ob der Vorarbeiter qualifiziert ist, die Sicherheitsregeln kennt und regelmäßig nachfragt, ob alles eingehalten wird.

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Wichtige Rechtsgrundlagen


  • Strafgesetzbuch (StGB), insbesondere § 229 StGB (Fahrlässige Körperverletzung): Dies ist ein Straftatbestand, der greift, wenn jemand eine andere Person körperlich verletzt oder an der Gesundheit schädigt, ohne dies absichtlich zu tun, sondern weil er die erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen hat. Fahrlässigkeit bedeutet hierbei, dass die Person eine Gefahr nicht erkannt oder die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen nicht getroffen hat, obwohl dies objektiv geboten und subjektiv möglich gewesen wäre. Es schützt das grundlegende Recht auf körperliche Unversehrtheit. → Bedeutung im vorliegenden Fall: Die Staatsanwaltschaft klagte den Bauunternehmer und den Polier wegen fahrlässiger Körperverletzung durch Unterlassen an, weil sie die schweren Verletzungen des Arbeiters E. durch mangelnde Sicherheitsvorkehrungen mitverursacht haben sollen.
  • Strafgesetzbuch (StGB), insbesondere § 13 StGB (Begehen durch Unterlassen / Garantenstellung): Dieser Paragraph regelt, wann ein Nichthandeln (Unterlassen) strafrechtlich einem aktiven Tun gleichgestellt wird. Dies ist der Fall, wenn jemand rechtlich dazu verpflichtet war, einen Erfolg zu verhindern, und dies unterlassen hat. Eine solche besondere Rechtspflicht zur Abwendung eines Schadens wird als „Garantenstellung“ bezeichnet und kann sich aus Gesetzen, Verträgen oder dem Schaffen einer Gefahrenquelle ergeben. → Bedeutung im vorliegenden Fall: Die Arbeitgeberpflichten, insbesondere die umfassenden Schutzpflichten aus dem Arbeitsvertrag und dem Arbeitsschutzgesetz, begründen die Garantenstellung von Herrn K. und Herrn S., da sie für die Sicherheit des Arbeiters E. verantwortlich waren.
  • Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG), insbesondere § 5 ArbSchG (Gefährdungsbeurteilung): Das Arbeitsschutzgesetz verpflichtet Arbeitgeber, alle erforderlichen Maßnahmen zum Schutz ihrer Beschäftigten vor Gefahren für Sicherheit und Gesundheit zu treffen. Ein zentrales Instrument hierfür ist die Gefährdungsbeurteilung: Der Arbeitgeber muss vor Beginn der Arbeiten systematisch alle potenziellen Gefahren am Arbeitsplatz ermitteln, bewerten und darauf aufbauend geeignete Schutzmaßnahmen festlegen und dokumentieren. Dies soll Unfälle und Berufskrankheiten proaktiv verhindern. → Bedeutung im vorliegenden Fall: Die fehlende oder nicht den Anforderungen entsprechende Gefährdungsbeurteilung durch Herrn K. und die daraus resultierende Missachtung notwendiger Absturzsicherungen waren zentrale Punkte der richterlichen Begründung für den hinreichenden Tatverdacht.
  • Strafprozessordnung (StPO), insbesondere §§ 203, 204 StPO (Hinreichender Tatverdacht und Eröffnung des Hauptverfahrens) und § 304 StPO (Sofortige Beschwerde): Bevor ein Strafverfahren in die Hauptverhandlung übergeht, prüft das Gericht, ob ein „hinreichender Tatverdacht“ besteht; das bedeutet, ob eine spätere Verurteilung wahrscheinlicher ist als ein Freispruch. Ist dies der Fall, wird die Hauptverhandlung eröffnet (§§ 203, 204 StPO). Lehnt das Gericht dies ab, kann die Staatsanwaltschaft oder der Angeklagte eine „sofortige Beschwerde“ einlegen (§ 304 StPO), woraufhin ein höheres Gericht die Entscheidung überprüft. → Bedeutung im vorliegenden Fall: Der Fall musste zweimal auf hinreichenden Tatverdacht geprüft werden, da das Amtsgericht Alfeld die Eröffnung zunächst ablehnte und die Staatsanwaltschaft erfolgreich eine sofortige Beschwerde beim Landgericht Hildesheim einlegte.
  • Verkehrssicherungspflicht (als allgemeiner Rechtsgrundsatz und Grundlage der Arbeitgeberpflichten): Dieser allgemeine Rechtsgrundsatz besagt, dass jeder, der eine Gefahrenquelle schafft oder unterhält – sei es ein Grundstück, eine Straße oder eine Baustelle –, die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen treffen muss, um Schäden für Dritte zu verhindern. Es geht darum, dass die Person, die eine Gefahr schafft oder kontrolliert, diese auch so absichern muss, dass andere nicht zu Schaden kommen. Gegenüber Arbeitnehmern ist diese Pflicht als besondere Schutzpflicht des Arbeitgebers verschärft. → Bedeutung im vorliegenden Fall: Die allgemeine Verkehrssicherungspflicht als Schöpfer und Betreiber einer Baustelle ist die grundlegende Basis für die konkreten Pflichten des Bauunternehmers K. und seines Poliers S., die Baustelle sicher zu gestalten.
  • Pflichtendelegation und Überwachungspflichten des Arbeitgebers (Organisationspflichten): Arbeitgeber dürfen bestimmte Aufgaben und Verantwortlichkeiten, wie den Arbeitsschutz, an qualifizierte Mitarbeiter delegieren. Diese „Pflichtendelegation“ entbindet den Arbeitgeber jedoch nicht vollständig von seiner Verantwortung. Er behält stets eine Auswahl-, Anweisungs- und Überwachungspflicht, das heißt, er muss sicherstellen, dass die delegierte Person geeignet ist, klare Anweisungen erhält und die Aufgaben auch tatsächlich sicher und korrekt ausgeführt werden. Besonders bei gefährlichen Tätigkeiten sind engmaschige Kontrollen erforderlich. → Bedeutung im vorliegenden Fall: Das Gericht stellte klar, dass der Bauunternehmer Herr K. seine Verantwortung für die Sicherheit nicht pauschal auf seine Mitarbeiter abwälzen kann, da er seine eigenen Kontroll- und Überwachungspflichten mutmaßlich verletzt hat.

Das vorliegende Urteil


LG Hildesheim – Az: 20 Qs 55/23 – Beschluss vom 14.05.2024


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