Nachdem ein Mann den entscheidenden Gerichtstermin für seine Berufung gegen eine Verurteilung verpasst hatte, wies das Landgericht diese am 10. Februar 2025 als unzulässig zurück. Sein Rechtsbeistand handelte schnell und beantragte die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Doch obwohl die gesetzliche Wochenfrist zur Begründung dieses Antrags noch bis zum 21. März 2025 lief, entschied das Gericht bereits einen Tag vor Fristende über den Fall.
Übersicht
- Das Wichtigste in Kürze
- Der Fall vor Gericht
- Warum wurde ein Berufungsverfahren vor dem Landgericht überraschend beendet?
- Welche Möglichkeit gab es, diese Verwerfung rückgängig zu machen?
- Wann begann die entscheidende Frist für den „zweiten Versuch“?
- Warum war die Entscheidung des Landgerichts problematisch?
- Wie begründete das Oberlandesgericht seine Entscheidung?
- Wichtigste Erkenntnisse
- Benötigen Sie Hilfe?
- Das Urteil in der Praxis
- Häufig gestellte Fragen (FAQ)
- Was versteht man unter einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Gerichtsverfahren?
- Welche Konsequenzen hat das Versäumen eines Gerichtstermins oder einer Frist in einem Strafverfahren?
- Was bedeutet der Begriff ‚Entscheidungsreife‘ bei gerichtlichen Anträgen und warum ist sie wichtig?
- Unter welchen Voraussetzungen kann ein Gericht eine verfrühte Entscheidung über einen Antrag rückgängig machen oder aufheben?
- Wie weist man ein „unverschuldetes Versäumnis“ für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach?
- Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
- Wichtige Rechtsgrundlagen
- Das vorliegende Urteil
Zum vorliegenden Urteil Az.: 1 Ws 131/25 | Schlüsselerkenntnis | FAQ | Glossar | Kontakt
Das Wichtigste in Kürze
- Gericht: Oberlandesgericht Hamm
- Datum: 22.05.2025
- Aktenzeichen: 1 Ws 131/25
- Verfahren: Beschwerdeverfahren
- Rechtsbereiche: Strafprozessrecht
Beteiligte Parteien:
- Kläger: Ein Angeklagter, der eine Sofortige Beschwerde einlegte. Er wollte die Aufhebung der Ablehnung seines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erreichen.
- Beklagte: Die Generalstaatsanwaltschaft, die als Gegenpartei auftrat. Sie beantragte, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.
Worum ging es genau?
- Sachverhalt: Ein Angeklagter hatte seine Berufungsverhandlung versäumt. Das Landgericht lehnte seinen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu früh ab.
Welche Rechtsfrage war entscheidend?
- Kernfrage: Durfte das Gericht den Antrag eines Angeklagten ablehnen, eine versäumte Gerichtsverhandlung nachzuholen, obwohl die Frist zur Begründung seines Antrags noch nicht vollständig abgelaufen war?
Entscheidung des Gerichts:
- Urteil im Ergebnis: Der Beschluss des Landgerichts wurde aufgehoben.
- Zentrale Begründung: Eine gerichtliche Entscheidung über einen Wiedereinsetzungsantrag darf erst nach Ablauf der gesetzlichen Begründungsfrist ergehen, um dem Antragsteller die vollständige Nutzung der Frist zu ermöglichen.
- Konsequenzen für die Parteien: Die Frist zur Begründung des Antrags beginnt für den Angeklagten neu zu laufen und die Sache wird an das Landgericht zurückverwiesen, damit er seinen Antrag vollständig begründen kann.
Der Fall vor Gericht
Warum wurde ein Berufungsverfahren vor dem Landgericht überraschend beendet?
Ein Mann, der vor einem Amtsgericht in einer nordrhein-westfälischen Großstadt verurteilt worden war, hatte sich entschieden, gegen dieses Urteil in die nächste Instanz zu ziehen. Er legte Berufung ein, eine Möglichkeit, bei einem Landgericht eine neue Überprüfung des Falls zu erwirken. Doch dann kam es zu einer entscheidenden Wendung: Zum angesetzten Termin der Berufungsverhandlung erschien der Betroffene nicht persönlich.

Auch ein Rechtsbeistand mit einer sogenannten Vertretungsvollmacht, also der Befugnis, ihn umfassend zu vertreten, war nicht anwesend. Für das Landgericht, genauer gesagt die zuständige Strafkammer, war die Sache damit klar: Die Berufung wurde als unzulässig „verworfen“. Das bedeutet, sie wurde ohne inhaltliche Prüfung zurückgewiesen, weil die vorgeschriebenen Formalien nicht eingehalten wurden. Dies geschah am 10. Februar 2025.
Welche Möglichkeit gab es, diese Verwerfung rückgängig zu machen?
Ein solches Versäumnis kann schwerwiegende Folgen haben, denn ohne ein Erscheinen oder eine ordnungsgemäße Vertretung ist der Weg für die Berufung in der Regel versperrt. Doch die deutsche Strafprozessordnung bietet in solchen Fällen eine Art zweite Chance: die sogenannte „Wiedereinsetzung in den vorigen Stand“. Dieses Rechtsinstitut ermöglicht es einem Betroffenen, eine versäumte Frist oder einen Termin nachträglich zu entschuldigen und wieder so gestellt zu werden, als wäre das Versäumnis nie geschehen – unter der Voraussetzung, dass er die Frist oder den Termin unverschuldet versäumt hat.
In diesem Fall handelte der Rechtsbeistand des Verurteilten blitzschnell. Bereits einen Tag nach der versäumten Berufungshauptverhandlung, am 11. Februar 2025, reichte er einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ein. Diesem Antrag fügte er ein ärztliches Attest bei, das belegen sollte, dass das Nichterscheinen des Betroffenen unverschuldet war. Zu diesem Zeitpunkt wusste der Rechtsbeistand aber noch nicht, dass die Berufung bereits am Vortag verworfen worden war, denn das schriftliche Urteil war dem Betroffenen noch gar nicht zugestellt worden.
Wann begann die entscheidende Frist für den „zweiten Versuch“?
Das Verwerfungsurteil des Landgerichts vom 10. Februar 2025 wurde dem Verurteilten am 14. März 2025 offiziell zugestellt. Dieser Tag war von entscheidender Bedeutung, denn erst mit der Zustellung des Urteils begann die gesetzlich vorgesehene Wochenfrist für den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu laufen. Diese Frist, die in § 329 Absatz 7 Satz 1 der Strafprozessordnung (StPO) festgelegt ist, ist nicht nur für die Einreichung, sondern auch für die Begründung des Antrags auf Wiedereinsetzung gedacht. Sie endete somit am 21. März 2025. Das bedeutet, bis zu diesem Datum hatte der Betroffene Zeit, alle notwendigen Gründe für sein Nichterscheinen detailliert darzulegen.
Doch genau hier kam es zu einer kritischen Entwicklung: Das Landgericht entschied über den bereits eingereichten Antrag auf Wiedereinsetzung, noch bevor diese Wochenfrist vollständig abgelaufen war. Mit einem Beschluss vom 20. März 2025, also einen Tag vor Fristende, wies es den Antrag als unzulässig zurück. Dieser Beschluss wurde dem Rechtsbeistand des Betroffenen am darauffolgenden Tag, dem 21. März 2025, zugestellt – dem letzten Tag der Frist.
Warum war die Entscheidung des Landgerichts problematisch?
Gegen diesen Beschluss des Landgerichts vom 20. März 2025 legte der Verurteilte, wiederum vertreten durch seinen Rechtsbeistand, eine sogenannte sofortige Beschwerde ein. Dieses Rechtsmittel richtete sich an das Oberlandesgericht in einer anderen nordrhein-westfälischen Großstadt, die nächsthöhere Instanz. Die Generalstaatsanwaltschaft, die die Anklage in Strafsachen vertritt, beantragte jedoch, diese sofortige Beschwerde als unbegründet zu verwerfen. Sie war also der Meinung, die Entscheidung des Landgerichts sei korrekt gewesen.
Das Oberlandesgericht musste nun prüfen, ob das Landgericht den Antrag auf Wiedereinsetzung zu Recht abgelehnt hatte. Dabei standen zentrale Fragen des Verfahrensrechts im Mittelpunkt. Die Richter am Oberlandesgericht beleuchteten die rechtlichen Grundlagen, wann ein Gericht über einen solchen Antrag entscheiden darf.
Das Gericht stellte fest, dass die Ablehnung eines Wiedereinsetzungsantrags nicht willkürlich, sondern erst nach sorgfältiger Prüfung und nach Ablauf der gesetzlich vorgesehenen Frist erfolgen darf. Diesen Zeitpunkt nennt man „Entscheidungsreife„. Es geht darum, dass der Betroffene das Recht hat, die ihm zustehende Frist voll auszuschöpfen. Das bedeutet, auch wenn bereits ein Antrag mit einer ersten Begründung eingereicht wurde, kann diese Begründung bis zum Ende der Frist ergänzt oder präzisiert werden. Nur so ist sichergestellt, dass alle Tatsachen, die für die Wiedereinsetzung sprechen, vollständig und umfassend vorgetragen werden können.
Wie begründete das Oberlandesgericht seine Entscheidung?
Das Oberlandesgericht kam zu einem klaren Ergebnis: Der Beschluss des Landgerichts vom 20. März 2025 war fehlerhaft und musste aufgehoben werden. Dies beruhte auf einer Reihe von rechtlichen Erwägungen, die das Gericht detailliert darlegte:
- Der Grundsatz der Entscheidungsreife: Die maßgebliche Wochenfrist für die Begründung des Wiedereinsetzungsantrags lief bis zum 21. März 2025. Das Landgericht hatte seinen ablehnenden Beschluss jedoch bereits am 20. März 2025 erlassen und am 21. März 2025, also am letzten Tag der Frist, zugestellt. Eine solche verfrühte Entscheidung ist grundsätzlich unzulässig, da sie dem Betroffenen die Möglichkeit nimmt, seine Argumente bis zum Fristende vollständig vorzubringen.
- Die Möglichkeit zur Ergänzung des Antrags: Auch wenn der Antragsteller seinen Antrag auf Wiedereinsetzung bereits vorab eingereicht hatte, stand ihm nach dem Gesetz das Recht zu, diesen Antrag bis zum Ablauf der Wochenfrist noch zu ergänzen oder detaillierter zu begründen. Die Entscheidung des Landgerichts, die vor Ablauf dieser Frist erging und zugestellt wurde, konnte den Betroffenen daran hindern, dieses Recht in vollem Umfang wahrzunehmen.
- Die Wirkung einer verfrühten Entscheidung: Eine solche verfrühte Ablehnung ist nur dann „unschädlich“, wenn die Entscheidung dem Betroffenen erst nach dem vollständigen Ablauf der Frist zugestellt worden wäre. Da hier die Zustellung genau am letzten Tag der Frist erfolgte, konnte das Gericht nicht ausschließen, dass der Betroffene oder sein Rechtsbeistand durch die negative Entscheidung von weiteren Begründungen abgehalten wurden. Dies stellte einen wesentlichen Verfahrensmangel dar.
- Der Neustart der Frist: Weil der Beschluss verfrüht war und vor Ablauf der Frist zugestellt wurde, beginnt die Wochenfrist für die Begründung des Wiedereinsetzungsantrags erst mit der Zustellung des Beschlusses des Oberlandesgerichts erneut zu laufen. Damit erhält der Betroffene eine neue, volle Frist, um seinen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ordnungsgemäß und vollständig zu begründen.
Das Oberlandesgericht konnte daher nicht selbst in der Sache über den Wiedereinsetzungsantrag entscheiden, weil dem Betroffenen die Möglichkeit einer vollständigen Begründung genommen worden war. Es verwies die Angelegenheit an das Landgericht zurück, damit dieses den Wiedereinsetzungsantrag unter Beachtung der nun neu beginnenden Frist erneut prüfen kann. Eine Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens wurde noch nicht getroffen, da diese vom endgültigen Ergebnis des Wiedereinsetzungsverfahrens abhängt.
Wichtigste Erkenntnisse
Gerichte schützen die Verfahrensrechte der Bürger, indem sie ihnen die vollständige Ausnutzung gesetzlicher Fristen ermöglichen.
- Vollständige Fristausnutzung: Ein Gericht darf über einen Antrag erst dann entscheiden, wenn die gesetzliche Frist zur Begründung vollständig abgelaufen ist und der Antragsteller alle Argumente vorbringen konnte.
- Recht auf Nachbesserung: Antragsteller können ihre Begründungen bis zum letzten Tag einer gesetzten Frist jederzeit ergänzen oder präzisieren.
- Folgen verfrühter Entscheidungen: Eine richterliche Entscheidung, die vor Fristende ergeht und zugestellt wird, verletzt Verfahrensrechte und kann dazu führen, dass die Frist für den Betroffenen von Neuem beginnt.
Die konsequente Einhaltung prozessualer Fristen und der Schutz der Parteirechte bilden das Fundament eines fairen Verfahrens.
Benötigen Sie Hilfe?
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Das Urteil in der Praxis
Dieses Urteil zementiert einen Grundpfeiler des Rechtsstaats: Das Recht auf eine faire Anhörung ist unantastbar – und unteilbar. Es ist eine schallende Ohrfeige für vorschnelle gerichtliche Entscheidungen, die dem Betroffenen seine gesetzliche Begründungsfrist für einen Wiedereinsetzungsantrag rauben. Das OLG unterstreicht unmissverständlich: Eine Frist ist erst abgelaufen, wenn sie wirklich abgelaufen ist und die Begründungschancen ausgeschöpft wurden. Für Rechtsanwälte ist das ein starkes Signal und eine klare Bestätigung: Verteidigen Sie die prozessualen Rechte Ihrer Mandanten bis zur letzten Sekunde – das Gericht darf Ihnen diesen Spielraum nicht nehmen!
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Was versteht man unter einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Gerichtsverfahren?
Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist im Gerichtsverfahren eine Möglichkeit, um eine versäumte Frist oder einen Termin nachträglich zu entschuldigen. Sie versetzt eine Person in die Lage, so gestellt zu werden, als wäre das Versäumnis nie geschehen.
Man kann es sich vorstellen wie einen Spielzug im Sport: Wenn ein Spieler durch ein unverschuldetes Hindernis, etwa eine unerwartete Verletzung, eine wichtige Aktion verpasst, erhält er unter bestimmten Umständen die Möglichkeit, diese Aktion dennoch nachzuholen.
Die entscheidende Voraussetzung für eine Wiedereinsetzung ist, dass das Versäumnis der Frist oder des Termins unverschuldet erfolgte. Dies bedeutet, die betreffende Person konnte die Frist oder den Termin trotz aller zumutbaren Sorgfalt nicht einhalten, beispielsweise aufgrund eines plötzlichen und unvorhersehbaren Ereignisses, wie eine Krankheit, die durch ein ärztliches Attest belegt wird.
Wenn der Antrag auf Wiedereinsetzung erfolgreich ist, wird die versäumte Handlung – wie etwa eine Berufung – wieder ermöglicht. Dadurch kann das Verfahren so fortgesetzt werden, als hätte es kein Versäumnis gegeben. Dieses Rechtsinstitut schützt die Rechte der Beteiligten, indem es sicherstellt, dass niemand wegen unverschuldeter Versäumnisse unzumutbare Nachteile erleidet.
Welche Konsequenzen hat das Versäumen eines Gerichtstermins oder einer Frist in einem Strafverfahren?
Das Versäumen eines Gerichtstermins oder einer Frist in einem Strafverfahren hat schwerwiegende Konsequenzen und kann dazu führen, dass ein eingelegtes Rechtsmittel, wie eine Berufung, ohne inhaltliche Prüfung zurückgewiesen wird. Dies bedeutet, dass die vorherige Gerichtsentscheidung, beispielsweise ein Urteil des Amtsgerichts, rechtskräftig wird und nicht mehr in einer höheren Instanz überprüft werden kann.
Stellen Sie sich vor, ein Fußballspieler erscheint nicht zum Spiel oder verpasst den Anpfiff. Unabhängig davon, wie gut er ist oder welche Gründe er hat, kann das Spiel ohne ihn fortgesetzt oder sogar verloren werden, weil er die grundlegenden Regeln zur Teilnahme missachtet hat. Ähnlich werden in einem Gerichtsverfahren bestimmte formale Regeln und Termine als so wesentlich angesehen, dass deren Nichtbeachtung die weitere Behandlung des Falls unmöglich macht.
Insbesondere in Berufungsverfahren, die eine neue Überprüfung eines Falles ermöglichen sollen, ist das persönliche Erscheinen oder eine ordnungsgemäße Vertretung durch einen Rechtsbeistand oft zwingend vorgeschrieben. Fehlt beides, wird die Berufung nicht inhaltlich geprüft, sondern lediglich als unzulässig abgewiesen. Dadurch verlieren Betroffene das Recht auf eine weitere gerichtliche Überprüfung ihres Falls und das ursprüngliche Urteil erlangt Bestand. Es gibt jedoch eine Ausnahme für unverschuldete Versäumnisse: die Möglichkeit der „Wiedereinsetzung in den vorigen Stand“. Damit kann ein versäumter Termin oder eine Frist unter bestimmten Voraussetzungen nachträglich entschuldigt werden, um wieder so gestellt zu werden, als wäre das Versäumnis nicht geschehen, sofern das Nichterscheinen unverschuldet war.
Diese strengen Regeln dienen dazu, die Verlässlichkeit und Effizienz von Gerichtsverfahren zu gewährleisten und sicherzustellen, dass Verfahren nur dann inhaltlich geprüft werden, wenn die grundlegenden prozessualen Anforderungen erfüllt sind.
Was bedeutet der Begriff ‚Entscheidungsreife‘ bei gerichtlichen Anträgen und warum ist sie wichtig?
Ein gerichtlicher Antrag ist „entscheidungsreif“, wenn alle gesetzten Fristen für dessen Einreichung oder Begründung abgelaufen sind und allen Beteiligten ausreichend Gelegenheit gegeben wurde, ihre Argumente umfassend vorzubringen. Erst dann kann ein Gericht eine endgültige Entscheidung treffen.
Stellen Sie sich das wie bei einem Fußballspiel vor: Der Schiedsrichter darf eine Partie erst abpfeifen und das Ergebnis festlegen, wenn die reguläre Spielzeit vollständig abgelaufen ist und alle Nachspielzeiten berücksichtigt wurden. Ein verfrühtes Abpfeifen würde einem Team die Chance nehmen, noch ein Tor zu erzielen.
Diese Regelung sichert das grundlegende Recht jeder Partei, vor einer gerichtlichen Entscheidung vollständig gehört zu werden. Dies bedeutet, dass man die Möglichkeit haben muss, die ihm zustehende Frist für die Darlegung oder Ergänzung seiner Argumente voll auszuschöpfen. Eine gerichtliche Entscheidung, die vor Ablauf dieser Frist ergeht oder zugestellt wird, ist verfrüht. Solch eine vorzeitige Entscheidung beeinträchtigt die Rechte der Beteiligten, da sie ihnen die volle Ausnutzung ihrer Zeit nimmt und potenziell fehlerhafte Urteile zur Folge haben kann.
Die Einhaltung der Entscheidungsreife schützt somit die Rechte der Prozessbeteiligten und stellt sicher, dass gerichtliche Verfahren auf einer umfassenden und fairen Grundlage ablaufen. Missachtet ein Gericht diese Regel, liegt ein wesentlicher Verfahrensfehler vor, der zur Aufhebung der Entscheidung durch eine höhere Instanz führen kann.
Unter welchen Voraussetzungen kann ein Gericht eine verfrühte Entscheidung über einen Antrag rückgängig machen oder aufheben?
Ein Gericht kann eine bereits getroffene Entscheidung über einen Antrag unter bestimmten Umständen aufheben oder rückgängig machen, insbesondere wenn dabei gravierende Verfahrensfehler passiert sind. Stellen Sie sich vor, ein Schiedsrichter beendet ein Fußballspiel, obwohl die Nachspielzeit noch läuft und ein Team kurz vor einem wichtigen Tor steht. Genauso kann ein Gericht eine Entscheidung als „verfrüht“ aufheben, wenn es über einen Antrag entschieden hat, bevor die gesetzlich dafür vorgesehene Frist zur Begründung abgelaufen war. Dies nimmt der betroffenen Person die Möglichkeit, ihre Argumente vollständig vorzubringen.
In solchen Fällen kann die betroffene Person ein Rechtsmittel wie die sogenannte sofortige Beschwerde einlegen. Eine höhere Instanz, beispielsweise ein Oberlandesgericht, prüft dann, ob das erste Gericht einen solchen Verfahrensfehler begangen hat. Bestätigt die höhere Instanz den Fehler, hebt sie die verfrühte Entscheidung auf und weist die Angelegenheit in der Regel an das erste Gericht zurück. Damit erhält der Antragsteller eine neue, volle Frist, um seine Begründung umfassend nachzureichen.
Dieses Vorgehen stellt sicher, dass jede Person die ihr zustehende Zeit voll ausschöpfen kann, um ihre Rechte zu wahren und einen fairen Zugang zum Gericht zu erhalten.
Wie weist man ein „unverschuldetes Versäumnis“ für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach?
Um ein „Unverschuldetes Versäumnis“ für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nachzuweisen, muss die Person, die den Antrag stellt, dem Gericht schlüssig darlegen und beweisen, dass sie die Frist oder den Termin ohne eigenes Verschulden versäumt hat. Die Beweislast liegt hier also vollständig beim Antragsteller.
Stellen Sie sich vor, Sie haben eine wichtige Abgabefrist für ein Dokument bei einer Behörde. Wenn Sie diese Frist nur verpassen, weil Sie sie vergessen haben oder einfach zu beschäftigt waren, gilt dies als Ihr Verschulden. Wenn Sie aber aufgrund eines plötzlichen, unvorhersehbaren Ereignisses, wie einer schweren, akuten Erkrankung, die Abgabe unmöglich war, dann wäre das ein unverschuldetes Versäumnis. Um dies nachträglich geltend zu machen, müssten Sie einen überzeugenden Nachweis für Ihre Erkrankung vorlegen.
Es ist entscheidend, alle relevanten Tatsachen, die zum Versäumnis geführt haben, detailliert und nachvollziehbar darzulegen. Dazu gehört auch die fristgerechte Einreichung geeigneter Nachweise. Im vorliegenden Fall wurde beispielsweise ein ärztliches Attest eingereicht, um zu belegen, dass das Nichterscheinen des Betroffenen bei Gericht unverschuldet war. Nur durch eine umfassende Darstellung und die Vorlage entsprechender Belege kann das Gericht die Plausibilität und Richtigkeit des Vorbringens prüfen und entscheiden, ob eine Wiedereinsetzung gerechtfertigt ist.
Diese Regelung bietet eine „zweite Chance“, um schwerwiegende Nachteile abzuwenden, wenn ein Verfahrensschritt aus Gründen versäumt wurde, die außerhalb des Einflussbereichs der betroffenen Person lagen.
Hinweis: Bitte beachten Sie, dass die Beantwortung der FAQ Fragen keine individuelle Rechtsberatung darstellt und ersetzen kann. Alle Angaben im gesamten Artikel sind ohne Gewähr. Haben Sie einen ähnlichen Fall und konkrete Fragen oder Anliegen? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren. Wir klären Ihre individuelle Situation und die aktuelle Rechtslage.
Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
Entscheidungsreife
Ein gerichtlicher Antrag ist „entscheidungsreif“, wenn alle gesetzten Fristen für dessen Einreichung oder Begründung abgelaufen sind und allen Beteiligten ausreichend Gelegenheit gegeben wurde, ihre Argumente umfassend vorzubringen. Erst dann kann ein Gericht eine endgültige Entscheidung treffen. Diese Regelung sichert das grundlegende Recht jeder Partei, vor einer gerichtlichen Entscheidung vollständig gehört zu werden und die ihr zustehende Frist voll auszuschöpfen.
Beispiel: Das Landgericht hatte seinen Beschluss zur Ablehnung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bereits erlassen und zugestellt, obwohl die Wochenfrist für die Begründung des Antrags auf Wiedereinsetzung noch nicht abgelaufen war. Damit war der Antrag noch nicht „entscheidungsreif“.
Sofortige Beschwerde
Die sofortige Beschwerde ist ein spezielles Rechtsmittel im deutschen Verfahrensrecht, mit dem man bestimmte gerichtliche Entscheidungen, die keine Urteile sind (sondern sogenannte Beschlüsse), durch eine höhere Instanz überprüfen lassen kann. Sie dient dazu, rasch gegen prozessuale Entscheidungen vorzugehen, die im Laufe eines Verfahrens getroffen werden und die eigenen Rechte beeinträchtigen könnten. Die höhere Instanz prüft dann, ob die Entscheidung der niedrigeren Instanz rechtmäßig war.
Beispiel: Gegen den Beschluss des Landgerichts, der den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückwies, legte der Verurteilte sofortige Beschwerde ein, um das Oberlandesgericht mit der Prüfung dieses Beschlusses zu beauftragen.
Unverschuldetes Versäumnis
Ein „unverschuldetes Versäumnis“ liegt vor, wenn eine Person eine gesetzliche Frist oder einen Gerichtstermin nicht einhalten konnte, obwohl sie die ihr zumutbare Sorgfalt angewandt hat und die Gründe außerhalb ihres Einflussbereichs lagen. Dies ist eine entscheidende Voraussetzung dafür, eine versäumte Handlung nachträglich geltend machen zu können. Es geht darum, dass das Nichthandeln nicht auf Nachlässigkeit oder Absicht zurückzuführen ist.
Beispiel: Der Rechtsbeistand reichte ein ärztliches Attest ein, um zu belegen, dass das Nichterscheinen des Betroffenen beim Berufungstermin auf ein „unverschuldetes Versäumnis“ zurückzuführen war, um so die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu ermöglichen.
Verfahrensmangel
Ein Verfahrensmangel ist ein Fehler oder Verstoß gegen die vorgeschriebenen Regeln eines gerichtlichen Verfahrens. Solche Mängel können die Fairness und Rechtmäßigkeit des Verfahrens beeinträchtigen und dazu führen, dass eine gerichtliche Entscheidung durch eine höhere Instanz aufgehoben wird, weil sie nicht auf einer korrekten prozessualen Grundlage ergangen ist. Das Gericht muss bestimmte Form- und Verfahrensvorschriften einhalten, um die Rechte der Beteiligten zu wahren.
Beispiel: Das Oberlandesgericht stellte fest, dass die verfrühte Entscheidung des Landgerichts über den Wiedereinsetzungsantrag einen „wesentlichen Verfahrensmangel“ darstellte, weil sie dem Betroffenen die Möglichkeit nahm, seine Argumente vollständig bis zum Fristende vorzubringen.
Verwerfung (einer Berufung)
Die Verwerfung einer Berufung bedeutet, dass ein Gericht die Berufung ohne inhaltliche Prüfung zurückweist, weil bestimmte formale oder prozessuale Voraussetzungen nicht erfüllt wurden. Es wird also nicht geprüft, ob das Urteil der ersten Instanz materiell richtig ist, sondern die Berufung scheitert bereits an formalen Mängeln, wie dem Nichterscheinen des Angeklagten oder dem Fehlen einer ordnungsgemäßen Vertretung. Dies führt dazu, dass das ursprüngliche Urteil der ersten Instanz rechtskräftig wird.
Beispiel: Da der Verurteilte nicht zum angesetzten Berufungstermin erschien und auch kein bevollmächtigter Rechtsbeistand anwesend war, wurde seine Berufung vom Landgericht als unzulässig „verworfen“.
Vertretungsvollmacht
Eine Vertretungsvollmacht ist eine offizielle schriftliche Befugnis, die eine Person (der Vollmachtgeber) einer anderen Person (dem Bevollmächtigten) erteilt, um sie in rechtlichen Angelegenheiten zu vertreten. Im Gerichtsverfahren bedeutet dies, dass der Bevollmächtigte (z.B. ein Rechtsanwalt) im Namen des Vollmachtgebers handeln und Erklärungen abgeben darf, die rechtlich bindend sind. Sie ist essenziell, wenn die vertretene Person nicht persönlich anwesend sein kann oder möchte.
Beispiel: Zum Termin der Berufungsverhandlung erschien der Betroffene nicht persönlich, und es war auch kein Rechtsbeistand mit einer sogenannten „Vertretungsvollmacht“ anwesend, was zur Verwerfung der Berufung führte.
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist im Gerichtsverfahren eine Möglichkeit, um eine versäumte Frist oder einen Termin nachträglich zu entschuldigen und wieder so gestellt zu werden, als wäre das Versäumnis nie geschehen. Dieses Rechtsinstitut dient dazu, schwerwiegende Nachteile für Prozessbeteiligte zu verhindern, wenn sie eine prozessuale Handlung aus Gründen versäumt haben, die sie nicht zu vertreten hatten. Die Voraussetzung ist immer, dass das Versäumnis unverschuldet war.
Beispiel: Nachdem die Berufung des Verurteilten verworfen worden war, weil er nicht erschienen war, stellte sein Rechtsbeistand einen Antrag auf „Wiedereinsetzung in den vorigen Stand“, um die Verhandlung doch noch zu ermöglichen.
Wichtige Rechtsgrundlagen
- Verwerfung der Berufung wegen Nichterscheinens (§ 329 Abs. 1 StPO)
Diese Regel besagt, dass eine Berufung zurückgewiesen werden kann, wenn der Angeklagte nicht persönlich zur Hauptverhandlung erscheint und auch kein Anwalt mit umfassender Vertretungsvollmacht für ihn anwesend ist.
→ Bedeutung im vorliegenden Fall: Die Berufung des Verurteilten wurde vom Landgericht genau aus diesem Grund „verworfen“, weil er selbst und auch kein ordnungsgemäß bevollmächtigter Rechtsbeistand zum Termin erschienen waren. - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 44 StPO)
Dieses Rechtsinstitut bietet eine zweite Chance, indem es ermöglicht, eine Frist oder einen Termin nachträglich zu entschuldigen und so zu tun, als wäre das Versäumnis nie geschehen, wenn es unverschuldet war.
→ Bedeutung im vorliegenden Fall: Der Verurteilte beantragte die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, um das Versäumnis seines Nichterscheinens bei der Berufungsverhandlung zu heilen und eine inhaltliche Prüfung seiner Berufung doch noch zu ermöglichen. - Frist und Begründung des Wiedereinsetzungsantrags (§ 329 Abs. 7 Satz 1 StPO)
Diese Regel legt fest, dass die Wochenfrist für die Begründung eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erst mit der Zustellung des Urteils über die Verwerfung der Berufung beginnt und bis zu ihrem Ende für die vollständige Darlegung der Gründe genutzt werden darf.
→ Bedeutung im vorliegenden Fall: Das Landgericht entschied über den Wiedereinsetzungsantrag des Verurteilten, bevor diese Wochenfrist vollständig abgelaufen war, und nahm ihm somit die Möglichkeit, seine Begründung noch zu ergänzen. - Grundsatz der Entscheidungsreife (Allgemeiner Rechtsgrundsatz)
Ein Gericht darf eine Entscheidung über einen Antrag erst dann treffen, wenn alle gesetzlich vorgesehenen Fristen zur Begründung des Antrags abgelaufen sind, damit der Antragsteller alle seine Argumente vollständig vorbringen kann.
→ Bedeutung im vorliegenden Fall: Das Oberlandesgericht stellte fest, dass das Landgericht diesen Grundsatz verletzt hatte, da es den Wiedereinsetzungsantrag des Verurteilten ablehnte, obwohl die Frist zur Begründung noch lief und der Antrag somit noch nicht entscheidungsreif war. - Sofortige Beschwerde (§ 311 StPO)
Die sofortige Beschwerde ist ein Rechtsmittel, mit dem bestimmte gerichtliche Beschlüsse, die keine Urteile sind, von einem höheren Gericht überprüft werden können.
→ Bedeutung im vorliegenden Fall: Der Verurteilte nutzte die sofortige Beschwerde, um die fehlerhafte Ablehnung seines Wiedereinsetzungsantrags durch das Landgericht vom Oberlandesgericht überprüfen zu lassen.
Das vorliegende Urteil
Oberlandesgericht Hamm – Az.: 1 Ws 131/25 – Beschluss vom 22.05.2025
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