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Wiederaufnahme in Strafverfahren – Widerruf einer belastenden Zeugenaussage

KG Berlin – Az.: 4 Ws 137/13 – 141 AR 564/13 –  Beschluss vom 06.11.2013

Der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 10. Mai 2013 wird aufgehoben.

Der Antrag des Verurteilten auf Wiederaufnahme des durch Urteil des Landgerichts Berlin vom 25. Januar 2012 rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens ist zulässig.

Der Aufschub der Strafvollstreckung aus dem vorbezeichneten Urteil wird angeordnet.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens fallen der Landeskasse Berlin zur Last.

Gründe

I.

1. Das Landgericht Berlin hat den Beschwerdeführer am 25. Januar 2012 – 503-19/11 – wegen Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Das Urteil ist seit dem 19. Juli 2012 rechtskräftig. Die Vollstreckung hat am 6. November 2012 begonnen. Ausweislich der Urteilsfeststellungen hat zunächst der Verurteilte am 20. Juni 2011 dem Geschädigten E. einen Faustschlag gegen die Schläfe versetzt, sodann seinen Cousin A. aufgefordert, es ihm gleich zu tun, weswegen dieser dem Zeugen drei Stöße ins Gesicht mit dem Knie und einen Faustschlag versetzte. Währenddessen griff der Verurteilte in E.s Hemdtasche und entnahm ihr dort aufbewahrte 460,- Euro. Der Schuldspruch beruht im Wesentlichen auf den Angaben des Zeugen E. A. hatte von seinem Auskunftsverweigerungsrecht gemäß § 55 StPO Gebrauch gemacht.

2. Mit seinem Wiederaufnahmeantrag macht der Beschwerdeführer geltend, alleiniger Täter sei A. gewesen. Hierfür benennt er die Zeugen E., A., A. C., H. A., S. G. und F. E.-N.

Der Zeuge E. soll den Verurteilten falsch bezichtigt und das inzwischen eingeräumt haben. Ein bereits eingestellt gewesenes Ermittlungsverfahren – 265 Js 734/12 – gegen den Zeugen ist durch die Staatsanwaltschaft Berlin mittlerweile wieder aufgenommen und um den Vorwurf der Freiheitsberaubung in mittelbarer Täterschaft erweitert worden. Denn in einer Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Tiergarten – 229 Ds 28/13 – gegen A. am 1. Oktober 2013 hatte der Zeuge nach Belehrung gemäß § 55 StPO erklärt, er habe vor dem Landgericht in der Hauptverhandlung gegen den Beschwerdeführer falsch ausgesagt. Er sei damals von dem Bruder des heutigen Angeklagten A. bedroht worden. Zwar sei er auch am „Sonntag“ (offenbar an dem unmittelbar vor dem 1. Oktober 2013) wieder bedroht worden, dennoch wolle er aussagen. Der Zeuge berichtete sodann, dass der Angeklagte A. ihn aufgrund einer Auseinandersetzung wegen einer Cousine des Angeklagten, mit der der Zeuge eine Beziehung geführt hatte, (am 20. Juni 2011) geschlagen habe, so dass er zu Boden gegangen sei. A. E.-N. habe damit nichts zu tun gehabt. Ausweislich der mitgeteilten Urteilsgründe hat das Amtsgericht diese neue Aussage als glaubhaft erachtet.

Der Zeuge A. C. soll bekunden können, dass er zum Zeitpunkt des Übergriffes auf den Geschädigten vor seinem Ladengeschäft in unmittelbarer Nähe des Tatortes gestanden und „drei Jugendliche“ beobachtet habe. Auch dieser Zeuge wurde in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Tiergarten – 229 Ds 28/13 – gegen A. gehört und gab dort – zur Überzeugung des Amtsgerichts ebenfalls glaubhaft – an, eine der Personen, nicht jedoch der dem Zeugen bekannte Beschwerdeführer, habe einen anderen zu Boden geworfen und mit der Faust geschlagen. Daraufhin habe der Geschlagene den A. E.-N. um Hilfe gerufen, die dieser ihm auch geleistet habe.

Der Zeuge A. soll bekunden, dass der Verurteilte am Tattag weder körperliche Gewalt gegen den Zeugen E. ausgeübt noch diesem Geld weggenommen habe. Vielmehr habe er selbst sich mit E. geschlagen, dieser habe E.-N. um Hilfe gebeten, woraufhin der zu ihm, A., gesagt haben soll: „Lass ihn, er ist es nicht wert“. Der Zeuge ist am 1. Oktober 2013 von dem Amtsgericht Tiergarten – 229 Ds 28/13 – wegen Körperverletzung zum Nachteil des Zeugen E., die – nicht jedoch den Raub des Geldes – er eingeräumt hatte, zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen verurteilt worden. Das Urteil ist inzwischen rechtskräftig.

Was die Zeugen H. A., S. G. und F. E.-N. bekunden sollen, wird im Wiederaufnahmevorbringen demgegenüber nicht ausgeführt.

3. Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Landgericht den Antrag des Verurteilten auf Wiederaufnahme des Verfahrens als unzulässig verworfen und jenen auf Aufschiebung der Vollstreckung als unbegründet zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen angeführt, dass der Antragsteller seiner erweiterten Darlegungspflicht nicht gerecht geworden sei. Diese gelte, wenn im Wiederaufnahmeverfahren Beweismittel benannt würden, die bereits zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung bekannt gewesen seien. Es sei nicht nachvollziehbar, warum der Zeuge C. sich nicht bereits unmittelbar nach dem von ihm beobachteten Vorfall bei der Polizei gemeldet habe, wenn darin ein ihm Bekannter (der Antragsteller) verwickelt gewesen sei. Der Zeuge hätte nach dessen Schilderung der örtlichen Gegebenheiten am 20. Juni 2011 während des Vorfalls zudem von dem Antragsteller gesehen worden sein müssen, so dass nicht schlüssig sei, dass dieser ihn nicht bereits in der gegen ihn geführten Hauptverhandlung benannt habe. Sofern sich der Antrag auf den Zeugen A. stütze, hätte der Verurteilte mitteilen müssen, weshalb der Zeuge, der sich zunächst auf sein Auskunftsverweigerungsrecht berufen hatte, nunmehr aussagewillig sei.

II.

Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde ist zulässig, § 311 Abs. 2 StPO. Das Rechtsmittel hat auch in der Sache Erfolg.

1. Der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens genügt den Begründungsanforderungen des § 368 StPO. Den Antragsteller trifft insoweit zwar eine erweiterte Darlegungspflicht hinsichtlich der Umstände, die zur Änderung des Aussageverhaltens – des Widerrufs der belastenden Angaben des Zeugen E.-S. – geführt haben. An die erweiterte Darlegungslast können aber bei dem Widerruf einer belastenden Zeugenaussage nicht die gleichen Anforderungen gestellt werden wie bei einem widerrufenen Geständnis. Dort bedarf es der Darlegung eines nach Sachlage einleuchtenden Motivs für das behauptete Falschgeständnis. Eine auch nur annähernd ähnliche Darlegung ist dem Antragsteller aber für den Fall, dass ein Zeuge seine Angaben widerruft, nicht möglich (vgl. OLG Rostock, NStZ 2007, 357 f). Denn insoweit ist er auf die Mitwirkung des Zeugen angewiesen, die er nicht erzwingen kann (vgl. OLG Schleswig, StraFo 2003, 385). Dieser eingeschränkten erweiterten Darlegungspflicht genügt der Vortrag des Antragstellers. Denn er hat die Umstände, unter denen der Zeuge E. von seiner Aussage abgerückt ist, ausreichend und genau genug dargelegt. Angaben zu den Motiven oder inneren Beweggründen des Zeugen können von dem Antragsteller nicht verlangt werden.

Die Behauptung, der Zeuge E. habe seinerzeit vor der 3. Strafkammer des Landgerichts falsch ausgesagt, hat sich zwischenzeitlich insoweit bestätigt, als er dies in der Hauptverhandlung vom 1. Oktober 2013 vor dem Amtsgericht Tiergarten in dem Verfahren gegen A. wegen gefährlicher Körperverletzung, erneut als Zeuge vernommen, eingeräumt hat, wobei er als Grund für die Falschbezichtigung angegeben hat, bedroht worden zu sein. Der Zulässigkeit des auf § 359 Nr. 5 StPO gestützten Antrages steht nicht entgegen, dass bislang eine rechtskräftige Verurteilung des Zeugen wegen der möglicherweise falschen Angaben in der Ausgangshauptverhandlung nicht vorliegt. § 364 Satz 2 StPO nimmt § 359 Nr. 5 StPO ausdrücklich von dem Erfordernis aus, dass eine behauptete Straftat als Widerrufsgrund rechtskräftig abgeurteilt sein muss.

Der Wiederaufnahmeantrag ist auch nicht deshalb unzulässig, weil der Beschwerdeführer in seiner Antragsschrift nicht dargelegt hat, warum der Zeuge A., der sich bisher auf sein Auskunftsverweigerungsrecht gemäß § 55 StPO berufen hatte, nunmehr aussagebereit sei. Er hat die Umstände dargelegt, unter denen der Zeuge sein Aussageverhalten geändert hat. Der Zeuge A. hat inzwischen als Angeklagter vor dem Amtsgericht Tiergarten die Alleintäterschaft hinsichtlich der Körperverletzung zu E. Nachteil eingestanden. Soweit einen in der Hauptverhandlung von seinem Schweigerecht Gebrauch machenden Angeklagten keine erweiterte Darlegungspflicht trifft, warum er erst im Wiederaufnahmeantrag ihn entlastende Tatsachen vorbringt (vgl. Thüringer OLG, StraFo 2010, 205; Senat, Beschluss vom 5. Juli 2001 – 4 Ws 64/01 – [juris Rdn. 9]), gilt dies entsprechend, wenn ein Zeuge, der zunächst von seinem prozessualen Recht, die Auskunft zu verweigern, Gebrauch gemacht hat, nach Abschluss der Hauptverhandlung aussagebereit wird.

Der im vorliegenden Verfahren neue Zeuge C. hat bekundet, der Beschwerdeführer habe schlichtend in das Geschehen eingegriffen und die sich schlagenden Kontrahenten lediglich getrennt. Den Anforderungen an die Darlegungslast genügt, dass der Beschwerdeführer dargelegt hat, dass und wie der Zeuge C. erst nach Abschluss der Hauptverhandlung von dem damaligen Verteidiger des Verurteilten ermittelt werden konnte. Dass der Beschwerdeführer den Zeugen C. während des Geschehens am 20. Juni 2011 bewusst wahrgenommen hat, kann nicht unterstellt werden. Auch wenn der Zeuge nur wenig Meter entfernt gestanden haben und ein freies Sichtfeld auf das Geschehen gehabt haben mag, heißt das im Umkehrschluss nicht, dass auch der Verurteilte, der beispielsweise mit dem Rücken zu dem Zeugen gestanden haben könnte, den Zeugen gesehen haben muss. Die u.a. darauf gestützte Annahme des Landgerichts, es sei nicht nachvollziehbar, dass der Zeuge nicht bereits während der Hauptverhandlung vor dem Landgericht Berlin benannt worden sei, überzeugt deshalb nicht. Dass und warum der Zeuge C. sich nicht selber bei der Polizei als Zeuge gemeldet hat, ist ein Umstand, der gegebenenfalls bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben des Zeugen zu berücksichtigen ist, aber nicht zur Verwerfung des Wiederaufnahmeantrags als unzulässig führt.

2. Der Verurteilte hat neue Beweismittel im Sinne des § 359 Nr. 5 StPO beigebracht, die geeignet sind, den Schuldspruch des rechtskräftigen Urteils in Frage zu stellen. Vorliegend macht der Verurteilte den Widerruf einer ihn belastenden Zeugenaussage, die Aussage eines bislang schweigenden Zeugen sowie Angaben eines bisher nicht gehörten Zeugen geltend. Der Widerruf einer belastenden Zeugenaussage kann ebenso ein neues Beweismittel im Sinne des § 359 Nr. 5 StPO darstellen wie ein Zeuge, der bisher die Aussage verweigert hatte (vgl. OLG Rostock a.a.O.; OLG Hamm, JR 1981, 439; Meyer-Goßner, StPO 56. Aufl., § 359 Rdn. 33 m.w.N.). Der Zeuge C. ist für das vorliegende Verfahren nicht gehört worden und deshalb ein neues Beweismittel.

Die benannten Beweismittel sind zudem erheblich im Sinne des § 368 StPO. Im Rahmen einer hypothetischen Schlüssigkeitsprüfung ist zu unterstellen, dass die in dem Antrag behaupteten Tatsachen richtig sind und die beigebrachten Beweismittel den ihnen zugedachten Erfolg haben werden (vgl. BGHSt 17, 303; Meyer-Goßner, a.a.O., § 368 Rdnr. 8). Das Wiederaufnahmegericht ist bei der Zulässigkeitsprüfung nach § 368 Abs. 1 StPO nicht auf eine abstrakte Schlüssigkeitsprüfung beschränkt, sondern darf bei der Beurteilung der Eignung eines Beweismittels eine gewisse Wertung der Beweiskraft vornehmen, soweit sie ohne förmliche Beweisaufnahme möglich ist. Die Grenzen der Zulässigkeit vorweggenommener Beweiswürdigung sind aber dann überschritten, wenn den Angaben eines Zeugen, der bei einer „Aussage gegen Aussage“-Konstellation nunmehr zugunsten des Verurteilten aussagen will, von vorneherein, ohne vorherige Vernehmung, die Glaubhaftigkeit abgesprochen würde (vgl. Senat, Beschluss vom 5. Juli 2001 – 4 Ws 64/01 – [juris]). Die neuen Beweise sind demnach geeignet, die den Schuldspruch tragenden Feststellungen zu erschüttern.

 

Aus den dargelegten Gründen hätte das Landgericht den Wiederaufnahmeantrag für zulässig erklären und das Probationsverfahren nach §§ 369, 370 StPO einleiten müssen. Der angefochtene Beschluss war daher aufzuheben und der Wiederaufnahmeantrag gemäß §§ 368, 359 Nr. 5 StPO für zulässig zu erklären. Das Landgericht wird nunmehr in der nach § 369 StPO durchzuführenden Beweisaufnahme die Begründetheit des zulässigen Wiederaufnahmeantrages zu prüfen haben. Erst im Rahmen einer förmlichen Beweisaufnahme ist über die Glaubhaftigkeit der Angaben der Zeugen zu befinden (vgl. Senat, Beschluss vom 5. Juli 2001 – 4 Ws 64/01 [juris]).

III.

Gemäß § 360 Abs. 2 StPO war der Aufschub der Vollstreckung anzuordnen. Mit Blick auf die nicht ausgeschlossenen Erfolgsaussichten des Wiederaufnahmeantrages erscheint die (weitere) Strafvollstreckung aus Gründen der Verhältnismäßigkeit bedenklich (vgl. Senat, Beschluss vom 31. März 1993 – 4 Ws 124/93 – m.w.N.).

IV.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.

 

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