KG Berlin Az.: (2) 121 HEs 14/16 (16 – 17/16), Beschluss vom 17.08.2016
1. Der den Angeklagten W. betreffende Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom 4. Februar 2016 – 350 Gs 276/16 – wird aufgehoben.
2. Die mit dem Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom 4. Februar 2016 – 350 Gs 276/16 – gegen den Angeklagten Y. K. angeordnete Untersuchungshaft dauert mit der Maßgabe fort, dass der Anklagte der Anstiftung zur Urkundenfälschung in 79 Fällen dringend verdächtig ist (§ 267 Abs. 1, 3 Nr. 1, § 26, § 53 StGB).
3. Bis zum Urteil, längstens bis zum 16. November 2016, wird die Angeklagten Y. K. betreffende Haftprüfung dem Landgericht Berlin übertragen.
Gründe
A.
Das Amtsgericht Tiergarten in Berlin hat – auf einen entsprechenden Antrag der Staatsanwaltschaft Berlin – am 4. Februar 2016 u.a. gegen die beiden Angeklagten Haftbefehle erlassen, aufgrund deren sie am 8. Februar 2016 festgenommen wurden und sich seitdem ununterbrochen in Untersuchungshaft befinden. In den Haftbefehlen wird ihnen jeweils vorgeworfen, „in Berlin und anderenorts in der Zeit von April 2015 bis Februar 2016 in mindestens 949 Fällen“ als Mitglieder einer Bande und gewerbsmäßig Taten im Sinne des § 267 Abs. 1, 4 StGB (Tathandlung: gebrauchen) „sowie“ im Sinne von § 263 Abs. 1, 5 StGB begangen zu haben.
In dem den Angeklagten Y. K. betreffenden Haftbefehl heißt es sodann [Fettdruck nicht im Original]:
„Der Beschuldigte ist dringend verdächtig, aufgrund einer entsprechenden Bandenabrede gemeinsam mit den weiteren Beschuldigten …, in Berlin und andernorts in der Zeit von April 2015 bis heute, als Bandenchef über die Firma K. als Kfz-Zulassungsdienst mit Sitz in Berlin-Kreuzberg in mindestens 949 Fällen total-gefälschte Kurzzeitkennzeichen (bestehend aus gefälschten Siegeln und nicht mehr gültigen rosa Fahrzeugscheinen, sowie der gefälschten grünen Versicherungskarte) verkauft und deren Herstellung durch die Beschuldigten R. beauftragt zu haben. Im Einzelnen handelt es sich um die aus der Anlage 1 ersichtlichen, dokumentierten Übergaben. Innerhalb der Bande handelte der Beschuldigte als Oberhaupt, in dem er den Handel mit gefälschten Kurzzeitkennzeichen lenkt, leitet und organisiert. Er arrangierte den Bezug der Falsifikate durch die weiteren Beschuldigten R. organisierte den Vertrieb, setzte die Ausfahrer ein, instruierte diese und besetzte Telefonposten in den Containern, um etwaige Reklamationen abzuwickeln. Die jeweiligen – aus der Anlage 2a/b ersichtlichen – Käufer der Kurzzeitkennzeichen gingen davon aus, dass diese ordnungsgemäß bei der Zulassungsstelle beantragt und von dieser ausgestellt wurden und sie damit einen entsprechenden Versicherungsschutz für das Kraftfahrzeug haben würden. In Unkenntnis der wahren Sachlage übergaben sie den Beschuldigten jeweils einen Betrag zwischen 110 und 150 Euro, worauf es den Beschuldigten ankam und worauf sie – wie sie auch wussten – keinen Anspruch hatten. Den Zeugen entstand dadurch ein Schaden in Höhe des jeweiligen Kaufpreises. Der vorläufige Gesamtschaden ist mit 400.000,00 Euro zu beziffern. Die Beschuldigten begingen die Taten jeweils in der Absicht, sich eine Einnahmequelle von einiger Dauer und einigem Gewicht zu verschaffen.“
Eine dementsprechende Tatschilderung findet sich auch in dem gegen den Angeklagten W. erlassenen Haftbefehl. Zu ihm heißt es dort weiter:
„Der Beschuldigte W. fungierte als Ausfahrer von falschen Kurzzeitkennzeichen und belieferte die Kunden. Pro verkauftem Kennzeichensatz erhält er 5-10 Euro. Der Beschuldigte unterliegt den Weisungen des Beschuldigten Y. K. und erstattet regelmäßig Auskunft über die Zahl der noch zur Verfügung stehenden Kennzeichen. Die Routen bzw. anzufahrenden Abnehmer werden dem Beschuldigten entweder durch den Beschuldigten M. K. oder dessen Vater und Chef Y. K. vorgegeben. Nach einem beendeten Arbeitstag hat der Beschuldigte die Pflicht, die Abrechnung über die verkauften, gefälschten Kurzzeitkennzeichen zu tätigen. Der Beschuldigte war in den aus der Anlage 1 ersichtlichen 29 Übergaben als Empfänger aufgetreten, bei denen insgesamt 347 Falsifikate weitergereicht wurden. Er war an den in der Anlage 3 ersichtlichen Tagen als Ausfahrer eingesetzt.“
Die Anlage 1 ist überschrieben mit „Auflistung der Kennzeichen Übergaben Gruppierung an Gruppierung K.“. Darauf folgt zunächst eine Tabelle, in der in 79 Zeilen u.a. das Datum von Bestellung und Übergabe, Überbringer und Empfänger, Übergabeort und Anzahl der jeweils übergebenen Kennzeichen dargestellt sind. Die Gesamtanzahl übergebener Kennzeichen wird in der letzten Zelle dieser Tabelle mit 949 angegeben. Es folgt eine weitere Tabelle, deren Sinn sich im Zusammenhang mit den beiden oben genannten Haftbefehlen nicht erschließt, da darin lediglich Informationen zur Weitergabe zwischen den Angeklagten der Familie R. beschrieben ist.
Die Anlage 2a, aus der nach den obigen Ausführungen u.a. die „Käufer“ der Kurzeitkennzeichen ersichtlich sein sollen, besteht aus einer Tabelle mit fünf Spalten und 240 Zeilen, in der dann Daten zu insgesamt 240 Käufern aufgeführt sein sollen. Die Spalten sind wie folgt überschrieben:
…………
In der Anlage 2b, die nach den obigen Ausführungen ebenfalls „Käufer“ von Kurzzeitkennzeichen aufführen soll, findet sich sodann eine ähnlich aufgebaute Tabelle. Dort ist in 60 Zeilen neben anderen Informationen eine entsprechende Anzahl von Rufnummern verschiedener Autohäuser aufgelistet. Die Spalten sind wie folgt überschrieben:
……………….
Die im Haftbefehl gegen den Angeklagten W. genannte Anlage 3 findet sich zwar im zugrundeliegenden Antrag der Staatsanwaltschaft. Indes ist offenkundig versäumt worden, diese auch zum Gegenstand des Haftbefehls zu machen. Das ist auch im Nachhinein nicht geschehen.
Am 3. Juni 2016 erhob die Staatsanwaltschaft sodann die Anklage (welche selbst das Datum „30. Mai 2016“ trägt) gegen insgesamt zehn Personen. Mit der Anklage legt die Staatsanwaltschaft den Mitgliedern der „Gruppierung K.“, also u.a. den Angeklagten Y. K. und W., nunmehr 247 Taten und einen geschätzten Schaden von 100.000 € zur Last. Maßgeblich für die geringere Anzahl der Taten war offenbar nicht mehr die Anzahl der Kennzeichen (so aber noch der Haftbefehl), sondern die Anzahl der „Käufer“, die nunmehr mit 247 beziffert wird. Es handelt sich offenbar um die in der Anlage 2a der Haftbefehle aufgeführten 240 Käufer zzgl. sieben weiteren, indes ohne die in der Anlage 2b zusätzlich gelisteten Autohäuser).
Während in den Haftbefehlen wohl noch von einem tatmehrheitlichen Verhältnis zwischen den Urkunds- und den Betrugsdelikten ausgegangen wurde („sowie“), liegt der Anklageschrift die Annahme zugrunde, dass diese Delikte jeweils tateinheitlich verwirklicht worden seien („zugleich“). Das Landgericht hat die Anklage mit Beschluss vom 22. Juli 2016 zur Hauptverhandlung zugelassen. Zugleich hat die Strafkammer – entsprechend dem Antrag in der Anklageschrift – beschlossen, dass in den Haftverhältnissen „aus den Gründen ihrer Anordnung“ keine Änderungen eintreten. Eine Anpassung der Haftbefehle nach Maßgabe der Anklage erfolgte mithin nicht. Die Hauptverhandlung ist für insgesamt 18 Tage festgesetzt worden; sie soll am 29. August 2016 beginnen.
Das Landgericht hält die Fortdauer der Untersuchungshaft für erforderlich und hat die Akten dem Senat gemäß § 121 Abs. 1, § 122 Abs. 1 StPO vorgelegt. Die Staatsanwaltschaft hat die Fortdauer der Untersuchungshaft beantragt.
B.
Die Haftbefehle weisen erhebliche Mängel auf. Der gegen den Angeklagten W. erlassene Haftbefehl war aufzuheben, da er insgesamt nicht den Anforderungen des § 114 Abs. 2 Nr. 2 StPO genügte. Der den Angeklagten Y. K. betreffende Haftbefehl entsprach nur hinsichtlich eines Teils der dort beschriebenen Taten den genannten gesetzlichen Voraussetzungen. Allein auf Grundlage dieser Tatvorwürfe war der weitere Vollzug der Untersuchungshaft aber aufrecht zu erhalten. Im Übrigen hatte auch dieser Haftbefehl keinen Bestand. Im Einzelnen:
I.
Da mit dem Vollzug von Untersuchungshaft in das in Art. 2 GG geschützte Freiheitsrecht des Einzelnen eingegriffen wird, bedarf dieser Eingriff von Verfassungswegen einer richterlichen Entscheidung (Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG). Diese muss nach § 114 Abs. 2 StPO begründet sein. Diese Regelung verdrängt als lex specialis die allgemeine Regelung in § 34 StPO (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 59. Aufl., § 114 Rdn. 4; Hilger in Löwe/Rosenberg, StPO 26. Aufl., § 114 Rdn. 14). Durch die enumerative Beschreibung einzelner Begründungselemente in § 114 Abs. 2 StPO wird deutlich, dass die Abfassung des Haftbefehls besonderer Sorgfalt bedarf (vgl. OLG Hamm NStZ-RR 2002, 335; Böhm/Werner in MüKoStPO § 114 Rdn. 3). Die Begründungspflicht hat verschiedene Funktionen:
Sie dient zunächst der Selbstkontrolle des Gerichts und soll zudem eine Überprüfung durch das Beschwerdegericht erleichtern. Vor allem bezweckt sie aber die Unterrichtung und Information des Beschuldigten. Diesem muss aufgrund des im Haftbefehl dargelegten Sachverhalts dargelegt werden, auf welcher rechtlichen und tatsächlichen Grundlage in sein Freiheitsrecht eingegriffen wird. Denn ohne diese Informationen wird er kaum imstande sein, sich gegen die dort erhobene Beschuldigung wirksam zur Wehr zu setzen (vgl. OLG Celle StV 2005, 513; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O.). Eine hinreichende individuelle Beschreibung der Tat ist schließlich erforderlich, um bei einem Nacheinander mehrerer Haftbefehle die Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 StPO prüfen zu können, dies insbesondere auch mit Blick auf das Tatbestandsmerkmal „wegen derselben Tat“.
Daher ist nach § 114 Abs. 2 Nr. 2 StPO die Tat, deren der Beschuldigte dringend verdächtig ist, in einer dem Anklagesatz nach § 200 StPO angenäherten Art und Weise anzugeben, wobei die Anforderungen an die Konkretisierung mit der Fortdauer der Ermittlungen und der Untersuchungshaft steigen (vgl. OLG Hamm und OLG Celle a.a.O.; siehe ferner: OLG Oldenburg NStZ 2005, 342; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 6. April 2001 – 3 Ws 31/01 – BeckRS 2001 30173901). Das Tatgeschehen muss nach Ort, Zeit, Art der Durchführung, Person des Verletzten etc. so genau bezeichnet werden, dass ein bestimmter Lebensvorgang erkennbar ist; stets müssen die gesetzlichen Tatbestandsmerkmale erkennbar sein (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. Rdn. 7 mit weit. Nachweisen; Graf in KK StPO 7. Aufl., § 114 Rdn. 6). Die dem Beschuldigten vorgeworfenen Taten müssen durch bestimmte Tatumstände so genau bezeichnet werden, dass keine Unklarheit darüber möglich ist, welche Handlungen dem Beschuldigten zur Last gelegt werden. Denn anderenfalls kann der Haftbefehl die ihm zukommende Informations- und Umgrenzungsfunktion nicht erfüllen (vgl. OLG Karlsruhe a.a.O.). Dem Senat ist bewusst, dass zu Beginn der Ermittlungen gerade bei gleichartigen Serienstraftaten eine detaillierte Darstellung aller Taten oftmals noch nicht möglich ist. Insoweit kann in diesem Verfahrensstadium eine zusammenfassende Darstellung im Haftbefehl genügen. Im weiteren Verlauf ist die Darstellung dann aber der fortschreitenden Ermittlungslage anzupassen (vgl. Böhm/Werner in MüKoStPO § 114 Rdn. 19, 22, 24; Graf KK StPO a.a.O. Rdn. 10).
II.
Diesen Anforderungen wird der den Angeklagten W. betreffende Haftbefehl insgesamt nicht gerecht.
1. Im Haftbefehl wird der Tatbeitrag des Angeklagten W. dahingehend beschrieben, dass er als Ausfahrer von falschen Kurzzeitkennzeichen fungierte und die „anrufenden Kunden“ belieferte. Dem entsprechend wird ihm im Haftbefehl in rechtlicher Hinsicht die Begehung von Taten gemäß § 267 Abs. 1 Fall 3 StGB (also Gebrauchmachen) und gemäß § 263 StGB (Betrug) (jeweils banden- und gewerbsmäßig) vorgeworfen. Er soll – anders als der Angeklagte Y. K. – also nicht (zusätzlich) die Herstellung der Kennzeichen inklusive der dazugehörigen Bescheinigungen in Auftrag gegeben haben oder sonst in den Herstellungsprozess eingebunden gewesen sein, sondern wurde erst bei dem Vertrieb der fertigen Schilder etc. tätig.
2. Entsprechend dem Antrag der Staatsanwaltschaft hat das Amtsgericht Tiergarten darauf verzichtet, die dem Angeklagten W. vorgeworfenen Taten im Einzelnen aufzuführen. Vielmehr wird insoweit auf eine dem Haftbefehl beigefügte Anlage verwiesen. Dies ist grundsätzlich möglich und kann der Übersichtlichkeit eines Haftbefehls sogar zuträglich sein.
a) Indes genügt die konkrete tabellarische Darstellung der Einzeltaten in der Anlage 2a/b ersichtlich nicht den dargestellten Anforderungen des § 114 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Es erschließt sich schon nicht, ob Gegenstand des Haftbefehls allein die Veräußerung von Kennzeichen an die in der Anlage 2a aufgeführten 240 Privatpersonen sein soll oder ob dazu auch etwaige nicht näher beschriebene Veräußerungen an die in der Anlage 2b aufgeführten 60 Autohäuser zählen sollen.
b) Zudem fehlt es in der Anlage 2a, also der Tabelle, in denen die Tatvorwürfe der Urkundenfälschung in Form des Gebrauchmachens und des Betruges zu Lasten von Einzelpersonen dargestellt sein sollen, an konkreten Umständen, die eine hinreichende Individualisierung ermöglich könnten. Die Tabelle erschöpft sich vielmehr in Angaben zu Rufnummer – und soweit das ermittelt worden ist – zu dem Anschlussinhaber, zur aktuellen Meldeanschrift und einer weiteren Spalte „Bemerkungen“. In dieser letzten Spalte sind allenfalls einige Stichworte dargestellt (wie etwa unter der lfd. Nr. 005 „bestellt Kurzzeitkennzeichen in die P.str. …, … B.“). Hingegen fehlen weitergehende Angaben zum Zeitpunkt etwaiger Bestellungen völlig. Dies gilt gleichermaßen für die konkret geschädigten Personen. Aus den Tabellen ergibt sich ferner nicht, ob die gefälschten Kurzzeitkennzeichen mit den Papieren durch die Angeklagten an mögliche Abnehmer zum Gebrauch dann auch tatsächlich weitergeben wurden. Es ist auch nicht erkennbar, ob mögliche Abnehmer oder Besteller durch die Angeklagten oder andere Bandenmitglieder über die Echtheit der Kennzeichen im Einzelfall getäuscht und aufgrund der Täuschung eine Vermögensverfügung getätigt haben. Angesichts der ersichtlich unvollständigen Darstellung ist eine Individualisierung der Taten schlechthin unmöglich. Schon angesichts dessen war dieser Haftbefehl aufzuheben. Erläuternd und ergänzend ist noch auf das Folgende hinzuweisen:
Fraglich ist bereits, ob die in der Tabelle angeführten „Anschlussinhaber“ zugleich auch Geschädigte sind und sich die Meldeanschrift auf den Anschlussinhaber oder einen Geschädigten bezieht. Die Tabelle lässt in keinem Fall erkennen, wann und wer von den aufgelisteten Rufnummern wen angerufen haben soll. Es kann auch nicht nachvollzogen werden, ob, wann und wie viele Kurzzeitkennzeichen an welche Personen zu welchem Preis tatsächlich übergeben wurden.
So enthält die Tabelle in einigen Fällen nur Angaben zu Rufnummern und Anschlussinhabern, während die Felder „aktuelle Meldeanschrift“ und „Bemerkungen“ leer sind. Es ist weiter nicht aufgeführt, ob es hier überhaupt zu einem Kontakt zu der Tätergruppe der Angeklagten gekommen ist. Zudem fehlt es an Angaben zu möglichen Bestellungen oder Übergaben an mutmaßlich getäuschte Käufer (so etwa lfd. Nr. 1, 2, 4, 18). Andererseits gibt es wieder Fälle, wo nur die Rufnummer und eine „Bestellung“ aufgeführt werden, weitere Angaben zur Person des Geschädigten und einer Meldeanschrift fehlen völlig. Es ist nicht einmal ersichtlich, ob eine unbekannte weibliche oder männliche Person angerufen haben soll (vgl. etwa lfd. Nr. 101, 138, 140, 141, 223).
Vereinzelt ergibt sich aus der Spalte „Bemerkungen“, dass Personen sogar ausdrücklich „die nicht echten“ Kurzzeitkennzeichen bestellt haben oder darauf hingewiesen worden sein sollen, dass sie mit den Kennzeichen so und so von der Polizei angehalten werden bzw. „andere Schilder“ erhalten sollen (siehe etwa lfd. Nr. 59, 200, 187). Schon aus diesen bruchstückhaften Angaben wird indes deutlich, dass es insoweit bereits an einer Täuschung der angeblich Geschädigten i.S.d. § 263 Abs. 1 StGB fehlt.
In weiteren Fällen wird unter „Bemerkungen“ lediglich ausgeführt, dass Personen mit gekauften Kurzzeitkennzeichen von der Polizei angehalten und auf die Fälschung hingewiesen worden seien (vgl. z.B. lfd. Nr. Nr. 169, 173, 184, 150, 152). Eine den Angeklagten vorwerfbare Handlung ist damit nicht dargelegt. Zwar sollen in einem Fall (vgl. Nr. 169) die Kennzeichen bei „K.“ erworben seien. Allerdings ist nicht ersichtlich, wann das erfolgt sein soll. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Bemerkung zu Nr. 150: „UM hat gem. eigenen Angaben am 27.10.2015 Schilder gekauft und wurde von der Polizei angehalten, welche die Schilder als Fälschungen feststellten.“ Zum einen ist nicht nachvollziehbar, wer die unbekannte männliche Person (UM) sein soll, da ermittelter Anschlussinhaber eine Frau ist. Zum anderen ist ungeklärt, ob der „Schilderkauf“ über die „Bande K.“ erfolgte und wie viele Schilder erworben sein sollen.
Unter einigen laufenden Nummern in der Tabelle 2a sind in den Spalten „Rufnummern“ und „Anschlussinhaber“ als Einheiten zudem mehrere Rufnummern bzw. Anschlussinhaber zusammengefasst, sodass völlig offen bleibt, wer aus dieser Personengruppe wann ein mögliches Telefonat geführt haben und möglicher Geschädigter geworden sein soll (siehe u.a. lfd. Nr. 30, 40, 42, 54, 59, 63, 65, 75, 90). Denkbar ist auch, dass es insoweit zu mehreren Anrufen gekommen ist. Ob dies dann zu keiner, zu einer oder zu mehreren Bestellungen geführt hat, bleibt ebenfalls offen.
Auch in sämtlichen anderen Fällen ist die Identifizierung der Geschädigten aufgrund der Angaben in der Tabelle 2a unmöglich. So werden in der Liste wiederholt als möglicher Anrufer „UM“ (unbekannte männliche Person) und „UW“ (unbekannte weibliche Person) erwähnt (Beispiele u.a. in lfd. Nr. 74, 80, 89, 105, 106, 113, 164, 191, 224). Wieso in den anderen Fällen die ermittelten Anschlussinhaber mit den möglichen Bestellern oder Geschädigten identisch sein sollen, erschließt sich im Umkehrschluss aus der Tabelle ebenso wenig. Vor dem Hintergrund der Vielzahl von unbekannten weiblichen und männlichen Personen dürfte aber eine Personenidentität zwischen Anschlussinhaber und möglichen Geschädigten zumindest zweifelhaft sein.
In einer Vielzahl von Fällen heißt es in der Spalte „Bemerkungen“ weiter, dass Kurzzeitkennzeichen bestellt (Beispiele u.a.in lfd. Nr. 89, 38, 25, 183), in einigen Fällen auch „öfter“ bestellt worden seien (Beispiele u.a. Nr. 19, 35, 48, 57, 92, 102, 114, 164, 194). Es ist nicht erkennbar, was unter „öfter“ zu verstehen und welche Anzahl von Kennzeichen jeweils von den Anrufern an welchen Tagen bestellt worden sein soll. Ob es später zu Übergaben und Bezahlungen von Kennzeichen gekommen ist, kann nur in einem Fall als möglich angenommen werden, wonach eine Person „bestellte Kurzzeitkennzeichen in der Karl-Marx-Str. 210, 12055 Berlin“ (lfd. Nr. 17) abholt. Wer, wann, wie viele Kennzeichen und zu welchem Preis bei wem abgeholt haben soll, bleibt allerdings auch hier offen.
Soweit in der Tabelle festgehalten wird, ein Kunde habe Kennzeichen „reserviert“ (siehe etwa lfd. Nr. 9), ist damit noch nicht einmal dargelegt, ob es zu einer verbindlichen Bestellung, Auslieferung und Zahlung gekommen ist, was für den Tatvorwurf eines (zumindest versuchten) Betruges notwendig ist.
In einem weiteren Fall wird als Anschlussinhaber und möglicher Besteller eine Person namens „………….“ [R. ist im Original ausgeschrieben] aufgeführt. Dabei drängt sich – ungeachtet der fehlenden Konkretisierung der Tat (s.o.) – zudem die Frage nach einer möglichen familiären Beziehung zur „Bande“ der Kennzeichenhersteller „R.“ [R. ist im Original ausgeschrieben] und damit der Gutgläubigkeit des Bestellers auf (lfd. Nr. 23).
c) Auch anhand der Anlage 2b lassen sich keine konkreten Taten nachvollziehen. Wiederum listet die darin abgebildete Tabelle Rufnummern, Autohäuser und Namen von Anschlussinhabern auf. In der Spalte „Bemerkung“, die in nur 29 von 60 Fällen ausgefüllt ist, steht überwiegend „bestellt“, „bestellt öfter/sehr häufig Kurzzeitkennzeichen“, wobei der Besteller in zehn Fällen wiederum nur als „UM“ bezeichnet wird. Unter der lfd. Nr. 57 nennt der Anrufer nur den Namen „Fa. L.“. Was ansonsten Gegenstand des möglichen Gesprächs sein soll, bleibt unklar. Wie in der Tabelle Anlage 2a ist nicht nachvollziehbar, wann, wer bei wem angerufen und in wie viel Fällen welche Mengen von Kennzeichen zu welchem Preis bestellt worden sein sollen. Ob es überhaupt zu Übergaben und Bezahlungen von gefälschten Kurzzeitkennzeichen gekommen ist, erschließt sich ebenfalls nicht.
d) Soweit im Haftbefehl selbst zudem darauf hingewiesen wird, dass der Angeklagte W. „an den in der Anlage 3 ersichtlichen Tagen als Ausfahrer eingesetzt“ worden sei, kann dies zur Individualisierung von Taten schon deshalb nicht beitragen, weil seitens des Amtsgerichts versäumt wurde, die Anlage 3 zum Inhalt des Haftbefehls zu machen. Diese Anlage ist zwar Gegenstand des zugrundeliegenden Antrags der Staatsanwaltschaft (vgl. Bd. IV Bl. 209 ff., 266 ff.), nicht aber Teil des Haftbefehls geworden, der mit der Anlage 2b endet. Ein bloße Bezugnahme des Haftbefehls auf an anderen Stellen der Akten befindliche Urkunden ist jedoch unwirksam (vgl. Böhm/Werner in MüKoStPO § 114 Rdn. 25).
e) Schließlich kann auch der mit 400.000 € bezifferte vorläufige Gesamtschaden im Ergebnis mangels konkreter Taten, insbesondere der Höhe und Anzahl der möglichen Zahlungen ebenso wenig nachvollzogen werden.
f) Da das Landgericht mit Eröffnungsbeschluss vom 22. Juli 2016 – dem Antrag der Staatsanwaltschaft entsprechend – von einer Neufassung des Haftbefehls abgesehen hat und die Haftfortdauer auch nicht etwa nach Maßgabe der Anklageschrift angeordnet hat, wirken die beschriebenen Mängel bis in das Haftprüfungsverfahren i.S.d. §§ 121, 122 StPO fort.
g) Diesen erheblichen Mängeln des Haftbefehls kann der Senat nicht durch deren Neufassung abhelfen. Der Gesetzessystematik gemäß kann im Verfahren nach §§ 121, 122 StPO nur die Haftfortdauer, Haftverschonung oder Aufhebung des Haftbefehls angeordnet werden (vgl. jeweils a.a.O. die OLGe Celle, Hamm und Oldenburg; Schultheis in KK StPO 7. Aufl. § 121 Rdn. 25). Es ist auch nicht möglich, unter vorübergehender Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft die Sache zur Nachbesserung oder Neufassung des Haftbefehls an das nach § 125 Abs. 2 StPO zuständige Landgericht zurückzuverweisen. Dies würde nämlich de facto zur Aufrechterhaltung eines erheblichen und rechtswidrigen Grundrechtseingriffs führen (vgl. OLG Hamm NStZ 2010, 281, 283; Schultheis in KK StPO a.a.O.).
III.
Hinsichtlich des Angeklagten Y. K. war hingegen die Fortdauer der Untersuchungshaft anzuordnen.
1. Allerdings weist auch der ihn betreffende Haftbefehl erhebliche Darstellungsmängel auf. Dies betrifft den „Vertrieb“ der Kennzeichen und die gegen ihn erhobenen Tatvorwürfe der Urkundenfälschung und des Betruges (jeweils banden- und gewerbsmäßigen begangen). Insoweit gelten die obigen Ausführungen zu dem Angeklagten W. hier gleichermaßen. Dass der Angeklagte Y. K. – anders als der Angeklagte W. – die gegen ihn erhobenen Vorwürfe (pauschal) eingestanden hat, ändert daran nichts. Denn die Anforderungen des § 114 Abs. 2 StPO gelten unabhängig vom Einlassungsverhalten des betroffenen Beschuldigten.
2. Doch erschöpft sich der Haftbefehl nicht in der Beschreibung dieser Tatserie. Darüber hinaus wirft der Haftbefehl dem Angeklagten Y. K. neben dem „Vertrieb“ der Kennzeichen u.a. vor, „deren Herstellung durch die Beschuldigten R. beauftragt zu haben“. Wegen der Einzelheiten wird im Haftbefehl auf die ihm beigefügte Anlage 1 Bezug genommen.
Die dortige tabellarische Darstellung der „Einzelaufträge“ gegenüber der Gruppe Re. genügt den obigen Anforderungen, die an die Individualisierung von Serienstraftaten in einem Haftbefehl zu stellen sind. Sie weist hinsichtlich der lfd. Nr. 1 bis 79 der Tabelle insbesondere jeweils das Datum der Bestellung, das Datum und die Uhrzeit der Übergabe, den Überbringer und Empfänger, den Übergabeort und die Anzahl der übergebenen Kennzeichen lückenlos auf. Die Beschreibung ist so konkret, dass die dort dargestellten 79 Taten von anderen unterschieden werden können und der Angeklagte über den gegen ihn erhobenen Tatvorwurf hinreichend informiert ist.
Der Berücksichtigung der Taten 1 bis 79 für die Haftfortdauerentscheidung steht nicht entgegen, dass im abstrakten Anklagesatz (neben dem Betrug) als Tathandlung allein das Gebrauchmachen unechter Urkunden (§ 267 Abs. 1 Fall 3 StGB in Gestalt der Qualifikation i.S.d. § 267 Abs. 4 StGB), nicht aber die vorangehende „Auftragsvergabe“ an die Angeklagten R., also eine Anstiftung zur Urkundenfälschung in Gestalt des Herstellens einer unechten Urkunde (§ 267 Abs. 1 Fall 1 StGB) beschrieben wird. Denn das Herstellen einer Urkunde (und eine wie auch immer geartete Beteiligung daran) wird durch das spätere Gebrauchmachen der Urkunde im Wege der Gesetzeskonkurrenz verdrängt. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die unechten Urkunden plangemäß gebraucht werden (vgl. Fischer, StGB 63. Aufl., § 267 Rdn. 47; BGH NJW 2014, 871; Geppert JURA 2000, 651, 654 f.). Insoweit war es folgerichtig, dass in den Haftbefehl letztlich nur die Tatbestandsalternative des Gebrauchmachens aufgenommen wurde. Gerät diese aber (hier wegen ihrer ungenügenden Darstellung im Haftbefehl) in Wegfall, so lebt die lediglich im Wege der Gesetzeskonkurrenz verdrängte Handlungsmodalität des Herstellens ohne weiteres wieder auf.
3. Der dringende Tatverdacht folgt zunächst aus den geständigen Angaben des Angeklagten Y. K., der das ihm vorgeworfene Geschehen pauschal gestanden hat, ferner aus den geständigen Angaben seines Sohnes, des Angeklagten M. K., und aus den weiteren im Haftbefehl und in der Anklageschrift aufgeführten Beweismitteln. Angesichts der Art und des Umfangs der ihm vorgeworfenen Taten hat der Angeklagte Y. K. mit einer erheblichen fluchtanreizbietenden Strafe zu rechnen.
4. Wichtige Gründe haben bisher ein Urteil nicht zugelassen und rechtfertigen die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 StPO).
Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch das Landgericht Berlin haben – jenseits der obigen Ausführungen – alle zumutbaren und erforderlichen Maßnahmen ergriffen, um die Ermittlungen abzuschließen und ein Urteil herbeizuführen. Das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen wurde insbesondere unter Abwägung der Freiheitsrechte der Angeklagten und des Verfolgungsinteresses des Staates (vgl. BVerfGE 46, 194, 195; 20, 45, 50) bislang hinreichend beachtet.
Die erforderlichen Ermittlungen wurden zügig durchgeführt. Die 259 Seiten umfassende Anklage wurde gerade auch mit Blick auf die Anzahl der Beschuldigten, der Vielzahl der ihnen angelasteten Taten und den Umfang der Ermittlungen bereits am 3. Juni 2016 erhoben; das Landgericht hat am 22. Juli 2016 die Eröffnung des Hauptverfahrens beschlossen und auch schon Termine für die Hauptverhandlung festgesetzt, die am 29. August 2016 beginnen soll. Angesichts der beschriebenen Förderung des Verfahrens kann noch hingenommen werden, dass die Hauptverhandlung zunächst nur einmal wöchentlich und erst ab dem 24. Oktober 2016 mit den in einer Haftsache sonst erforderlichen zwei Terminstagen/Woche stattfinden soll. Die Vorsitzende hat in ihrem Vermerk vom 22. Juli 2016 (Haftband V Bl. 50 f.) im ausreichenden Maße dargetan, dass wegen vorrangiger Haftsachen und in Folge von Erholungsurlauben der Berufsrichter eine dichtere Terminierung in diesem Zeitraum noch nicht möglich war.
5. Die befristete Übertragung der weiteren Haftprüfung auf das Landgericht beruht auf § 122 Abs. 3 Satz 3 StPO.