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Tatrichterliche Beweiswürdigung – Lückenhaftigkeit und Unzulänglichkeit

OLG Celle – Az.: 3 Ss 50/19 – Beschluss vom 16.09.2019

Auf die Revision der Angeklagten K. wird das Urteil des Amtsgerichts Geestland vom 29. August 2018 – auch, soweit es die Mitangeklagten betrifft, – mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Abteilung – Schöffengericht – des Amtsgerichts Geestland zurückverwiesen.

Gründe

Das Amtsgericht hat die Angeklagte K. und die nichtrevidierenden Mitangeklagten L. und C-P. jeweils wegen fahrlässiger Tötung zu Freiheitsstrafen von vier, sechs bzw. zehn Monaten verurteilt und die Vollstreckung der Strafen zur Bewährung ausgesetzt.

Nach den Feststellungen betreuten die Angeklagten am 23. Juni 2017 eine Gruppe von 17 Kindern der Klassenstufen 1 bis 4 im Rahmen der Hortbetreuung durch die Kindertagesstätte, bei der die Angeklagten angestellt waren, und verletzten während eines Schwimmbadbesuches ihre Aufsichts- und Schutzpflichten, wodurch sie schuldhaft den Tod durch Ertrinken der siebenjährigen A.P.J. verursachten.

Gegen dieses Urteil wendet sich die Angeklagte K. mit der Sprungrevision. Sie rügt das Fehlen einer tragfähigen und nachvollziehbaren Beweiswürdigung, insbesondere die unterbliebene Mitteilung der Einlassungen der Angeklagten und der Ergebnisse der einzelnen Beweiserhebungen.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, unter Verwerfung der Revision im Übrigen das Urteil, soweit es die Angeklagte K. betrifft, im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufzuheben, weil den Urteilsgründen entgegen § 267 Abs. 3 Satz 2 StPO nicht zu entnehmen sei, aufgrund welcher Umstände das Amtsgericht die Verhängung einer Freiheitsstrafe unter sechs Monaten für unerlässlich im Sinne von § 47 Abs. 1 StGB erachtet.

Die Nebenklägerin und der Nebenkläger haben beantragt, die Revision zu verwerfen.

Die Revision der Angeklagten K. hat mit der Sachrüge Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO). Die Aufhebung des Urteils erstreckt sich auch auf die nichtrevidierenden Mitangeklagten (§ 357 StPO).

1. Die Beweiswürdigung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Sie ist lückenhaft, weil Angaben dazu fehlen, wie sich die Angeklagten zur Sache eingelassen haben und wie diese Einlassungen vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Beweisaufnahme zu bewerten sind.

a) Aus § 267 StPO, der den Inhalt der Urteilsgründe festlegt, ergibt sich zwar nicht, dass das Gericht verpflichtet ist, eine Beweiswürdigung im Urteil vorzunehmen, in der die Einlassungen der Angeklagten mitgeteilt und diese Einlassungen unter Bewertung der sonstigen Beweismittel gewürdigt werden. Doch ist unter sachlich-rechtlichem Blickwinkel regelmäßig eine Wiedergabe der Einlassungen der Angeklagten erforderlich, damit das Revisionsgericht nachprüfen kann, ob sich das Tatgericht unter Berücksichtigung der erhobenen Beweise eine tragfähige Grundlage für seine Überzeugungsbildung verschafft und das materielle Recht richtig angewendet hat (vgl. BGH NStZ-RR 2013, 134; 1999, 45; Meyer-Goßner/Schmitt StPO 62. Aufl. § 267 Rn. 12; jew. mwN). Der Inhalt der Einlassungen bestimmt Umfang und Inhalt der Darlegungen zur Beweiswürdigung (BGH NStZ 2015, 473; Meyer-Goßner/Schmitt aaO). Es bedarf somit einer geschlossenen und zusammenhängenden Wiedergabe wenigstens der wesentlichen Grundzüge der Einlassungen der Angeklagten, um die Beweiswürdigung des Tatgerichts auf sachlich-rechtliche Fehler hin überprüfen zu können (BGH NStZ 2015, 299).

Daran fehlt es hier.

Die Beweisgründe werden zwar damit eingeleitet, dass „die Feststellungen (…) auf den Einlassungen der Angeklagten und den weiteren ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls ausgeschöpften Beweismitteln sowie auf den sonstigen aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung herrührenden Umständen“ beruhen (UA S. 6). Inhaltlich wird aber nur mitgeteilt, dass die Angeklagte C-P. eingeräumt habe, A.P.J. den zweiten Schwimmflügel abgenommen zu haben, und „hierüber ihr Bedauern geäußert“ habe, während die Angeklagten K. und L. „die Auffassung vertreten“ hätten, „in strafrechtlicher Hinsicht nicht für den Tod des Kindes verantwortlich zu sein“.

Dieser Mangel wird auch nicht dadurch geheilt, dass das Amtsgericht den Angeklagten im Rahmen der Strafzumessung zugutehält, dass sie „den tatsächlichen Hergang des Geschehens eingeräumt haben“ (UA S. 13). Abgesehen davon, dass hieraus nicht klar wird, ob mit dem „tatsächlichen Hergang des Geschehens“ nur der äußere Sachverhalt gemeint ist, oder ob auch die innere Tatseite von den Geständnissen erfasst war, ist die getroffene Wertung durch den Senat nicht überprüfbar, weil der Inhalt der Geständnisse nicht mitgeteilt wird (vgl. BGHR StPO § 267 Abs. 1 Satz 2 Geständnis 1; BGH NStZ-RR 1999, 45).

Zweifel an der Bewertung der Einlassungen ergeben sich zunächst daraus, dass im Urteil mitgeteilt wird, die Angeklagten hätten sich „über ihre Verteidiger“ zur Sache eingelassen, und „Nachfragen (…) nicht beantwortet“ (UA S. 6). Diese – in den Urteilsgründen an sich unnötige – Erwähnung einer Verfahrenstatsache dient regelmäßig dazu, eine Teileinlassung zu kennzeichnen, die belastende Umstände ausklammert, um dies im Rahmen der Würdigung der Einlassung gegen den Angeklagten verwerten zu können (BGHSt 20, 298, 300; BGHR StPO § 261 Aussageverhalten 19).

Weitere Unklarheiten ergeben sich daraus, dass Feststellungen zu tatsächlichen Umständen, denen das Amtsgericht im Rahmen der rechtlichen Würdigung Bedeutung beigemessen hat, nicht getroffen worden sind. So fand nach den Feststellungen bei Eintreffen der Angeklagten K. im Außenbereich eine Übergabe zwischen ihr und den beiden Mitangeklagten nicht statt, „obwohl zu diesem Zeitpunkt die Schwimmflügel von A. am Beckenrand gut sichtbar lagen“ (UA S. 5). Eine Feststellung dazu, ob die Angeklagte K. in diesem Moment die Schwimmflügel tatsächlich wahrnahm oder nicht, ist unterblieben. Die im Rahmen der rechtlichen Würdigung gewählte Formulierung, dass „die Angeklagte K. die direkt neben den beiden anderen Angeklagten am Beckenrand liegenden Schwimmflügel erblicken konnte und musste“ (UA S. 10), deutet darauf hin, dass das Amtsgericht insoweit eine – wenn auch fahrlässige – Unkenntnis der Angeklagten K. für möglich hält. Die unmittelbar im Anschluss angenommene Pflichtverletzung dadurch, dass die Angeklagte K. es unterlassen habe, „nachzufragen, welches Kind nun und warum ohne Schwimmflügel unterwegs war“, ist damit indes nicht vereinbar. Denn Veranlassung zu dieser Frage hatte die Angeklagte K. nur, wenn sie die Schwimmflügel tatsächlich wahrnahm, was nicht festgestellt ist.

b) Auch im Übrigen sind die Beweisgründe des angefochtenen Urteils unzureichend. Sie erschöpfen sich in einer Aufzählung der verwendeten Beweismittel. Dies ersetzt nicht die gebotene Würdigung der Beweise (vgl. BGH NStZ-RR 1999, 45). So wird lediglich mitgeteilt, dass „die Einlassungen der Angeklagten zur Sache (…) durch die Inaugenscheinnahme der Videoaufzeichnung der Überwachungskamera der Moortherme von dem Geschehen nachvollzogen“ werden konnten und sich das Gericht „ergänzend (…) auf die glaubhaften und nachvollziehbaren Bekundungen der Zeugen H., Sch. und D. sowie auf die ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls verlesenen Urkunden und in Augenschein genommenen Lichtbilder“ stützt (UA S. 6).

Zwar ist eine umfängliche Wiedergabe der Zeugenaussagen und sonstigen Beweisergebnisse nicht erforderlich; eine solche kann sogar den Bestand des Urteils gefährden, wenn die Besorgnis besteht, das Tatgericht sei davon ausgegangen, eine breite Darstellung der erhobenen Beweise könne die gebotene eigenverantwortliche Würdigung ersetzen (BGH NStZ-RR 2000, 293; 1998, 277; NStZ 1998, 475). Eine bloße Aufzählung der Beweismittel genügt aber nicht. Die Urteilsgründe müssen vielmehr erkennen lassen, dass die Überzeugungsbildung auf einer tragfähigen, verstandesmäßig einsehbaren Tatsachengrundlage beruht und die vom Tatgericht gezogene Schlussfolgerung nicht etwa nur eine Annahme ist oder sich als bloße Vermutung erweist, die letztlich nicht mehr als einen Verdacht zu begründen vermag (BGH NStZ 2016, 490; NStZ-RR 2013, 387). Dazu bedarf es einer wertenden Betrachtung, deren Umfang insbesondere von den Einlassungen der Angeklagten und der Komplexität des Sachverhalts abhängt (vgl. BGH NStZ 2015, 473; Meyer-Goßner/Schmitt aaO). Daran fehlt es hier.

2. Die Aufhebung des Urteils wirkt gemäß § 357 StPO auch zugunsten der nichtrevidierenden Mitangeklagten L. und C-P. Der materiell-rechtliche Fehler einer unzulänglichen Beweiswürdigung betrifft alle Angeklagten in gleicher Weise. Eine für die Erstreckung notwendige Verurteilung wegen der „nämlichen Tat“ liegt auch dann vor, wenn mehrere Angeklagte durch ihr Handeln oder Unterlassen an demselben tatbestandsmäßigen Erfolg ursächlich beteiligt waren, so dass die von ihnen geschaffene „nämliche“ Gefahrenlage nicht getrennt voneinander betrachtet werden kann (vgl. BGHSt 12, 335; 31, 348). Der Erstreckung steht auch nicht entgegen, dass sich die Anforderungen an die Urteilsgründe hinsichtlich der nichtrevidierenden Mitangeklagten nur nach dem Maßstab des § 267 Abs. 4 StPO bestimmen (vgl. BGH NStZ-RR 2013, 387; StraFo 2012, 232; NStZ 2005, 223).

3. Die Gegenerklärung der Beschwerdeführerin zum Antrag der Generalstaatsanwaltschaft gibt Anlass zu folgenden ergänzenden Bemerkungen im Hinblick auf die neue Hauptverhandlung.

a) Die Begründung einer Garantenstellung ist durch tatsächliche Gewährsübernahme möglich; sie kann auch durch Übernahme einer Sicherungspflicht von einem anderen Garantenpflichtigen erfolgen (vgl. Fischer StGB 66. Aufl. § 13 Rn. 42 mwN). Der Inhalt und der Umfang der Garantenpflicht bestimmen sich aus dem konkreten Pflichtenkreis, den der Verantwortliche übernommen hat (BGHSt 54, 44). Die Übernahme von Kindern in die eigene Obhut bedeutet zugleich die tatsächliche Übernahme der umfassenden Schutz- und Überwachungspflichten von den Eltern oder sonstigen Personensorgeberechtigten der Kinder für die Dauer der Hortbetreuung. Die hierdurch begründete Garantenstellung endet nicht durch Anmeldung der Hortgruppe in einem Schwimmbad. Bei tatsächlicher Gewährsübernahme lässt das Hinzutreten eines weiteren Garanten die Garantenstellung des bisherigen Garanten grundsätzlich unberührt; sie kann allenfalls zu einer Modifizierung der auf die vollständige Erfüllung der übernommenen Schutzaufgabe gerichteten Garantenpflichten und der sich daraus ergebenden Sorgfaltspflichten führen, indem diese etwa nunmehr arbeitsteilig erfüllt werden (vgl. BGHSt 47, 224; Fischer aaO Rn. 76). Maßgeblich ist in jedem Fall die tatsächliche Übernahme des Pflichtenkreises, ohne dass es auf eine vertragliche Verpflichtung ankommt (vgl. BGHSt 47, 224; 54, 44). Diese muss mit Blick auf die zu schützenden Rechtsgüter ausdrücklich und eindeutig erfolgen.

b) Pflichtwidrig im Sinne einer fahrlässigen Tatbestandsverwirklichung handelt, wer objektiv gegen eine Sorgfaltspflicht verstößt, die gerade dem Schutz des beeinträchtigten Rechtsguts dient und zu einer Rechtsgutverletzung führt, die der Täter nach seinen subjektiven Kenntnissen und Fähigkeiten hätte vermeiden können (vgl. BGHR StGB § 222 Pflichtverletzung 6; Fischer aaO § 15 Rn. 12a mwN). Art und Maß der anzuwendenden Sorgfalt bestimmen sich nach den Anforderungen, die bei objektiver Betrachtung einer Gefahrenlage ex ante an einen besonnenen und gewissenhaften Menschen in der konkreten Lage und sozialen Rolle des Handelnden zu stellen sind (BGH NStZ 2003, 657, 658).

Die Rechtsprechung hat Grundsätze zum Pflichtenkreis der zur Badeaufsicht in einem Schwimmbad eingesetzten Personen (BGHZ 217, 50) und von Lehrern bei der Schwimmaufsicht (OLG Köln NJW 1986, 1947) aufgestellt. Mit Blick auf Inhalt und Umfang der mit der Hortbetreuung übernommenen Schutz- und Überwachungspflichten sind jene Grundsätze hierauf übertragbar. Dementsprechend ist auch eine nicht gesondert geschulte Person, die die Aufsicht über eine Gruppe von Kindern im Grundschulalter, unter denen auch Nichtschwimmer sind, bei einem Schwimmbadbesuch übernommen hat, schon aufgrund der allgemeinen Lebenserfahrung dazu verpflichtet, die Mitglieder der Kindergruppe so zu formieren, dass sie deren Verhalten im Wasser im Blick behalten kann, und die Wasserfläche mit regelmäßigen Kontrollblicken daraufhin zu überwachen, ob Gefahrensituationen für die Kinder auftreten. Dabei ist der Beobachtungsort so zu wählen, dass der Bereich, in dem sich die Mitglieder der betreuten Gruppe aufhalten, überwacht und auch in das Wasser hineingeblickt werden kann. Wird die Aufsicht durch mehrere Personen wahrgenommen, haben diese sich untereinander abzustimmen und durch gegenseitige Kontrolle sicherzustellen, dass die vorgenannten Pflichten eingehalten werden.

a) Sollte die neue Hauptverhandlung zu den gleichen Feststellungen führen, so wäre – unabhängig vom Ablegen der Schwimmflügel – ein gewichtiges Anzeichen für eine Verletzung der vorstehend umrissenen Sorgfaltspflichten darin zu sehen, dass die Angeklagten aufgrund ihrer Position und Blickrichtung nicht bemerkten, dass A. von Dritten aus dem Wasser geborgen wurde und dass Maßnahmen zu ihrer Reanimation eingeleitet wurden.

d) Zutreffend hat die Generalstaatsanwaltschaft angemerkt, dass die Verhängung einer Freiheitsstrafe unter 6 Monaten gemäß § 47 StGB nur in Betracht kommt, wenn dies unerlässlich ist. Auch insoweit genügen die Urteilsgründe nicht den gesetzlichen Anforderungen.

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