AG Hann. Münden, Az.: 4 Cs 43 Js 4382/14, Urteil vom 04.04.2014
Der Angeklagte wird wegen Verstoßes gegen das Aufenthaltsgesetz zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 10,00 € verurteilt.
Dem Angeklagten wird gestattet, die Geldstrafe in monatlichen Raten von je 20,00 €, beginnend mit dem 5. Des auf die Urteilsrechtskraft folgenden Monats, zu zahlen.
Der Angeklagte hat die Verfahrenskosten und seine notwendigen Auslagen zu tragen.
Angewendete Vorschriften: §§ 3, 48 Abs. 2,95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthaltsG.
Gründe
I.
Der Angeklagte ist verheiratet und hat 3 Kinder. Er ist arbeitslos und die Familie lebt von Arbeitslosengeld II. Es wird der Regelsatz gezahlt.
Strafrechtlich ist der Angeklagte bereits in Erscheinung getreten.
Am 2.11.2009 (Rechtskräftig seit demselben Tage) wurde der Angeklagte wegen Verstoßes gegen das Aufenthaltsgesetz zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 10,00 € verurteilt. Er hatte sich seit 2007 im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten, obwohl er keinen gültigen Pass besaß.
Wegen Betruges wurde er am 19. Januar 2010 (Rechtskraft: 9.2.2010) mit einem Strafbefehl belegt. Es wurde eine Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je 10,00 € festgesetzt.
Mit Beschluss vom 21.4.2010 wurden die beiden Verurteilungen nachträglich zu einer Gesamtstrafe von 40 Tagessätzen zu je 10,00 € verbunden.
Der Beschluss ist seit dem 5. Mai 2010 rechtskräftig.
II.
Seit dem 3. November 2009 bis zur Hauptverhandlung hielt sich der Angeklagte im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland auf, ohne im Besitz eines gültigen Passes zu sein. Der Angeklagte bekam vom Türkischen Konsulat keinen Pass ausgestellt, weil er durch seinen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland sich in der Türkei dem Wehrdienst entzogen hatte. Der Angeklagte war nicht bereit, sich den Konsequenzen dieses Verhaltens in der Türkei zu stellen.
III.
Der Angeklagte ist geständig. Die Feststellungen beruhen deshalb auf dem Geständnis des Angeklagten und den sonstigen laut Sitzungsniederschrift erhobenen Beweisen.
IV.
Nach dem festgestellten Sachverhalt hat sich der Angeklagte wie im Tenor angegeben strafbar gemacht.
V.
Der Angeklagte ist für sein Verhalten zur Rechenschaft zu ziehen. Das Gericht ist der Überzeugung, dass es auch dieses Mal noch mit der Verhängung einer Geldstrafe sein Bewenden habe kann. diese Geldstrafe muss jedoch höher sein als in dem vorangegangenen Fall. Deshalb das Gericht eine Geldstrafe von 50 Tagessätzen angesetzt, wobei das Gericht zugunsten des Angeklagten sein Geständnis berücksichtigt hat und die schwierige Lage des Angeklagten, in der sich befunden hat, weil er sich dem Wehrdienst in der Türkei entzogen hat.
Das Gericht hat die Höhe des einzelnen Tagessatzes auf Grund der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Angeklagten auf 10,00 € festgesetzt. Dabei hat sich das Gericht von folgenden Überlegungen leiten lassen:
Grundlage für die Höhe eines Tagessatzes ist in der Regel das Nettoeinkommen, das der Täter durchschnittlich an einem Tag hat, § 40 Abs. 2 StGB. Legt man den Regelsatz nach ALG II und die Kosten der Unterkunft zugrunde, so dürfte das anzurechnende Monatseinkommen ca. 700 € betragen, so dass danach eine Tagessatzhöhe von 23,00 € anzunehmen wäre. Eine solche Tagessatzhöhe würde den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Angeklagten jedoch nicht gerecht.
Bei der Feststellung des Nettoeinkommens und der Tagessatzhöhe spielen auch normative Gesichtspunkte eine Rolle, so dass eine rein schematische Berechnung kaum sachgerecht ist und eine nicht vorhandene Genauigkeit suggeriert (vgl. dazu Fischer, Strafgesetzbuch, 61. Auflage, § 40 Rdnr. 6 a m.w.N.; Schönke-Schröder-Stree/Kinzig § 40 Rdnr. 11a). Das System der Verhängung von Geldstrafen in Tagessätzen führt zwangsläufig dazu, dass es bei niedrigen Einkommen zu schuldunangemessenen Entlastungen kommt (OLG Dresden, NJW 2009, 2967).
Bei einkommensschwachen Personen wie Empfängern von Arbeitslosengeld II kommt das Tagessatzsystem des Strafgesetzbuches an seine Grenze im Hinblick auf die Gerechtigkeit und die Menschenwürde. Das gilt nicht nur für Empfänger von staatlichen Transferleistungen, sondern selbstverständlich auch für Erwerbstätige, die nur über geringes Einkommen verfügen, etwa in Höhe des Regelsatzes von ALG II (einschließlich Unterkunftskosten) oder nur geringfügig darüber.
Nahe am Existenzminimum Lebende sind durch Auswirkungen der am Nettoeinkommensprinzip ausgerichteten Geldstrafe, auch wenn nach § 42 StGB verfahren wird, systembedingt härter betroffen als Normalverdienende. Dem kann nur durch Senkung der Tagessatzhöhe Rechnung getragen werden (vgl. Fischer a. a. O. Rdnr. 11 a mit weiteren Nachweisen; GS – Hartmann, 3.Aufl., § 40 Rdnr. 12; LK-Hägert § 40 Rdnr. 37 m.w.N., OLG Hamm, NJW 2012, 1239; Hans. OLG Hamburg, NStZ 2001, 655). Mehr als die Differenz zwischen tatsächlich gewährten Sozialleistungen und dem unerlässlichen Lebensbedarf kann einem Sozialhilfeempfänger nicht genommen werden (Fischer a. a. O.; OLG Frankfurt, StV 2009, 137; OLG Köln, 1 RVs 96/11).
Legt man diese Auffassung strikt zugrunde, dann müsste beim Angeklagten die Tagessatzhöhe auf das Mindestmaß von 1,00 € festgesetzt werden. In der Begründung für die wegen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 9.2.2010 (BVerfGE 125, 175) erforderlich gewordene Neuberechnung der ALG II-Regelsätze wurde im Einzelnen ausgeführt, dass der neue – jetzt geltende – Regelsatz von ALG II einschließlich der Leistungen für Unterkunftskosten das absolute Existenzminimum sei, das nach Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz jedem Menschen zu gewähren ist. Der Regelsatz beinhaltet keinerlei Leistungen für Genussmittel wie Tabak und Alkohol und für Freizeitgestaltung oder Teilhabe am kulturellen Leben (Eintritt für Kino, Schwimmbad pp…).
Das bedeutet, es gibt keinen Unterschied mehr zwischen dieser Sozialleistung und dem zum Lebensbedarf Unerlässlichen (vgl. zu diesem Begriff und der darauf fußenden Berechnung der Tagessatzhöhe OLG Köln 1RVs 96/11 mit weiteren Nachweisen, zitiert nach juris; OLG Celle NStZ-RR 98, 272), das heißt:
Jede Geldstrafe nimmt einem ALG II – Bezieher etwas von dem ihm grundgesetzlich (Art. 1 Abs.1 GG) aufgrund des Schutzes der Menschenwürde zustehenden Existenzminimum.
So kommt Hammel in „info also“ 2012, Seite 54, zu dem Ergebnis, dass bei Bezug von ALG II ein Tagessatz in der Mindesthöhe von 1,00 € festzusetzen sei (zitiert nach juris). Das LG Bremen hat in einem Einzelfall auf 2 € erkannt, StV 1986, 304.
Demgegenüber ist zu bedenken, dass dies dem Ernst und der Bedeutung einer Kriminalstrafe als ernsthaft fühlbares Übel nicht mehr hinreichend Rechnung tragen würde (vgl. dazu OLG Dresden, NJW 2009, 2966, das bei einer Frau, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhielt (Gutscheine und Taschengeld), eine Tagessatzhöhe von 1,00 € für richtig und geboten erachtet hat).
Deshalb hat bei Bezug von ALG II das OLG Köln a.a.O. gegen eine Tagessatzhöhe von 10,00€ nichts zu erinnern gehabt. Das OLG Frankfurt (NStZ-RR 2007, 167) hat eine Tagessatzhöhe von 7 € für angemessen erachtet.
Es ist – aus vielen Beiakten und Zentralregisterauszügen – gerichtsbekannt, dass viele Amtsgerichte in Deutschland ebenfalls bei ALG II-Empfängern eine Tagessatzhöhe von 10,00 € annehmen und zusätzlich Ratenzahlung gemäß § 42 StGB gewähren. In Hamburg sind die Gerichte nach hiesiger Kenntnis zu einer Tagessatzhöhe von 8,00 € übergegangen, ähnliches gilt für Berlin. Das Hanseatische OLG (a.a.O.) hatte im Jahre 2001 15 DM (7.50€) für zutreffend erachtet.
Das Amtsgericht Hann. Münden hat sich unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung – nach Abwägung der Bedeutung der Strafe für das gedeihliche Zusammenleben der Menschen und für den Schutz der Rechtsordnung (Strafe als ernsthaft fühlbares Übel) einerseits und des Gebotes des Schutzes der Menschenwürde andererseits – dafür entschieden, bei Empfängern von ALG II die Tagessatzhöhe auf 10,00 € festzusetzen und Ratenzahlung in Höhe von 20,00 € monatlich zu gewähren. Das Gericht befindet sich dabei in Übereinstimmung mit sämtlichen Oberlandesgerichten, die Entscheidungen dazu veröffentlicht haben, sowie mit sämtlicher verfügbarer Kommentarliteratur. Außerdem ist dem Gericht bekannt, dass die Amtsgerichte Hannover, Hildesheim, Braunschweig, Goslar, Kassel, Eschwege, Burgdorf, Diepholz, Heiligenstadt, Mühlhausen, Nordhausen, Meißen, Görlitz, Seesen und Tiergarten bei Beziehern von ALG II und anderen Personen mit ähnlich geringem Einkommen die Tagessatzhöhe mit 10€ bemessen.
Deshalb hat das Gericht die Höhe des Tagessatzes auf 10,00 € festgesetzt.
Das Gericht hat gemäß § 42 StGB dem Angeklagten Ratenzahlung von monatlich 20,00 € gewährt.
VI.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 465 StPO.