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Fehlerhafte Berechnung von Haftzeiten

Wiederaufnahme bei nicht genutzten Beweismitteln, Zweitantrag bei unzureichender Sachentscheidung über Erstantrag

LG Berlin, Az.: (551 Rh) 152 Js 341/15 Reha (271/15)

Urteil vom 29.07.2016

1. Die Wiederaufnahme des unter dem Aktenzeichen (550 Rh) 3 JS 321/99 (309/99) geführten Verfahrens wird angeordnet, soweit dieses das Urteil des Stadtbezirksgerichts Berlin-Pankow vom 21. Juni 1968 (611 S 36/68 / KIA Pa 177/68) betrifft.

2.

a) Auf den Antrag des Betroffenen wird das Urteil des Stadtbezirksgerichts Berlin-Pankow vom 21. Juni 1968 (611 S 36/68 / KIA Pa 177/68) für rechtsstaatswidrig erklärt und aufgehoben, soweit sich die Entscheidung gegen den Betroffenen Jäger richtet.

Der Betroffene wird rehabilitiert.

b) Der Betroffene hat in der Zeit vom 23. März 1968 bis zum 17. Mai 1968 und vom 8. Mai 1969 bis zum 7. November 1969 zu Unrecht Freiheitsentziehung erlitten.

c) Der Betroffene hat einen Anspruch auf Erstattung von gezahlten Verfahrenskosten und gezahlten notwendigen Auslagen.

3. Kosten des Rehabilitierungsverfahrens einschließlich des Wiederaufnahmeverfahrens werden nicht erhoben. Die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Betroffenen fallen der Landeskasse Berlin zur Last.

Gründe

I.

Fehlerhafte Berechnung von Haftzeiten
Symbolfoto: Pixabay

1. Gegen den Betroffenen wurden in den Jahren 1968/1969 mehrere Freiheitsstrafen verhängt, wegen derer er sich in der Zeit vom 23. März 1968 bis zum 17. Mai 1968 und vom 8. Mai 1969 bis zum 28. Juli 1971 in Haft befand.

a) Im Einzelnen:

aa) Der Betroffene wurde mit Urteil des Stadtbezirksgericht Berlin-Pankow vom 21. Juni 1968 (611 S 36/68 / KIA Pa 177/68) wegen des gemeinschaftlichen Versuchs zum illegalen Verlassen der damaligen DDR zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt, deren Vollstreckung für die Dauer von einem Jahr und sechs Monaten zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Mit Beschluss des Stadtbezirksgerichts Berlin-Pankow vom 24. November 1969 (612 S 83/69 / KIA Pa 156/69) wurde der Vollzug der Freiheitsstrafe angeordnet, weil der Betroffene in der Bewährungszeit erneut straffällig geworden ist.

bb) Mit Urteil des Stadtbezirksgericht Berlin-Pankow vom 11. November 1968 (611 S 57/68 / KIA Pa 364/68), geändert durch Urteil des Stadtgerichts Berlin vom 10. Dezember 1969 (102 c BSB 160/68 / KIA Pa 364/68) wurde der Betroffene wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt, die für die Dauer von zwei Jahren zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Mit Beschluss des Stadtbezirksgerichts Berlin-Pankow vom 24.November 1969 (s. lit.aa) wurde der Vollzug auch dieser Freiheitsstrafe angeordnet.

cc) Mit Urteil des Stadtbezirksgerichts Berlin-Pankow vom 18. Juli 1969 (612 S 31/69 / KIA Pa 53/69) wurde der Betroffene wegen Rowdytums in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt.

dd) Schließlich wurde der Betroffene mit Urteil des Stadtbezirksgerichts Berlin-Pankow vom 27. Oktober 1969 (612 S 83/69 / KIA Pa 156/69) wegen Rowdytums, Staatsverleumdung sowie vorsätzlicher Sachbeschädigung persönlichen und gesellschaftlichen Eigentums unter Einbeziehung des unter lit.cc angeführten Urteils zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt.

b) Der Betroffene befand sich wegen des unter lit.a (aa) aufgeführten Verfahrens zunächst vom 23. März 1968 bis zum 17. Mai 1968 in Untersuchungshaft. Am 8. Mai 1969 wurde er wegen der Tatvorwürfe, die dem unter lit.a (dd) aufgeführten Verfahren zugrunde lagen, erneut verhaftet. Die „erste Zeit“ dieser Untersuchungshaft wurde zunächst auf die Verurteilung in dem Verfahren zu cc) angerechnet. Nach Einbeziehung des unter lit.a (cc) aufgeführten Urteils erfolgte nachträglich eine Anrechnung des Zeitraums vom 8. Mai 1969 bis zum 7. November 1969, also insgesamt sechs Monate, auf das unter lit.a (aa) aufgeführte Verfahren. Hierbei blieb zu Unrecht unberücksichtigt, dass in diesem Verfahren zunächst die bereits verbüßte Untersuchungshaft im Zeitraum vom 23. März 1968 bis zum 17. Mai 1968 anzurechnen gewesen wäre.

Wegen des unter lit.a (bb) angeführten Verfahrens befand sich der Betroffene zwischen dem 8. November 1969 und dem 7. September 1970 und wegen des unter lit.a (dd) angeführten Verfahrens im Zeitraum vom 8. September 1970 bis zu seiner vorzeitigen Entlassung am 28. Juli 1971 in Haft.

2. Mit Antrag vom 22. November 1999 hat der Betroffene seine strafrechtliche Rehabilitierung wegen der unter lit.a aufgeführten Strafverfahren beantragt. Mit Beschluss vom 17. März 2003 (Geschäftsnummer: (551/550 Rh) 3 Js 321/99 (309/99, 828, 829, 830/00)) hat die 51. Strafkammer – Rehabilitierungskammer – des Landgerichts Berlin das Urteil des Stadtbezirksgerichts Berlin-Pankow vom 21. Juni 1968 (611 S 36/68 / KIA Pa 177/68) für rechtsstaatswidrig erklärt und aufgehoben, soweit sich die Entscheidung gegen den Betroffenen richtet. Der Betroffene ist rehabilitiert worden und es ist festgestellt worden, dass er in der Zeit vom 24. März 1968 bis zum 17. Mai 1968 und vom 7. August 1969 bis zum 7. November 1969 zu Unrecht Freiheitsentziehung erlitten hat. Wegen der übrigen Verfahren ist der Antrag des Betroffenen zurückgewiesen worden.

3. Mit seinem nunmehrigen Antrag vom 17. Juli 2015, ergänzt durch Schriftsatz vom 13. Juni 2016, begehrt der Betroffene im Wege der Berichtigung, hilfsweise der Wiederaufnahme und weiter hilfsweise im Wege eines neuen Antrags die Anerkennung auch der Haftzeit im Zeitraum vom 8. Mai 1969 bis zum 6. August 1969. Der Betroffene hat hierzu eine Kopie der ihm vom Bundesarchiv übermittelten Gefängniskarteikarte sowie zwei sog. Beurteilungsblätter (BStU 000059 und 000060) vorgelegt.

4. Der Rehabilitierungskammer liegen darüber hinaus vor:

a) die Akte des Staatsanwaltes des Stadtbezirks Berlin-Pankow 611 S 36/88 / KIA Pa 177/68 (Archivakte des BStU E 13273)

b) die Vollzugsakte des Betroffenen, Registernummer 878469 (Archivakte des BStU G-SKS 5298)

c) von der BStU zur Verfügung gestellte Kopien (Strafregisterauszüge / Strafkarteikarten, Schlussbericht vom 4. August 1969, Urteil des Stadtbezirksgerichts Berlin-Pankow vom 5. November 1971, Entwicklungs- und Kontrollbogen der Strafvollzugseinrichtung, Beurteilungsblatt mit Angaben zur Haftentlassung)

c) die Akte der Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht (550 Rh) 3 Js 936/93 (991/92)

d) die Akte der Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht (550 Rh) 3 Js 321/99 (309/99)

e) sowie in Ablichtung der Beschluss der Rehabilitierungskammer des Landgerichts Berlin vom 13. Juli 2009 – 551 Rh 979/08 UBG – sowie der Beschluss des Beschwerdesenates für Rehabilitierungssachen des Kammergerichts Berlin vom 17. Februar 2010 – 2 Ws 412/09 REHA -.

5. Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat den Antrag des Betroffenen nicht befürwortet. Der Betroffene, dem zu der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft vom 18. April 2016 rechtliches Gehör gewährt worden ist, hält seinen Antrag unbeschränkt aufrecht.

II.

Der Antrag des Betroffenen auf Anerkennung zusätzlicher Haftzeiten hat Erfolg.

1. Die Rehabilitierungskammer wertet den Antrag des Betroffenen gemäß § 15 StrRehaG i.V.m. § 300 StPO als Antrag auf Abänderung des Beschlusses der Kammer vom 17. März 2003 – (550 Rh) 3 Js 321/99 (309/99) -. Der Betroffene hat zwar in der Antragsschrift zunächst die Wiederaufnahme des Verfahrens 551 Rh 979/08 UBG beantragt. Tatsächlich begehrt er jedoch richtigerweise die Abänderung der im Verfahren (550 Rh) 3 Js 321/99 (309/99) getroffenen Rehabilitierungsentscheidung, soweit dort Haftzeiten unberücksichtigt geblieben sind. Dies wird auch durch seinen Schriftsatz vom 13. Juni 2016 bestätigt, mit dem er ausdrücklich die Fehlerhaftigkeit des Beschlusses der Rehabilitierungskammer vom 17. März 2003 rügt.

2. Wie der Betroffene zutreffend geltend macht, sind bei der Berechnung seiner Haftzeiten wiederholt Fehler unterlaufen.

a) Wie die Generalstaatsanwaltschaft Berlin in ihrer Stellungnahme vom 18. April 2016 zutreffend herausgearbeitet hat, ist zunächst bei der Anrechnung der ursprünglich für das oben unter Ziff.I Nr.1 lit.a (dd) aufgeführte Verfahren (Urteil des Stadtbezirksgerichts Berlin-Pankow vom 27. Oktober 1969 – 612 S 83/69 / KIA Pa 156/69 -) erfolgten Haft auf das hier maßgebliche Verfahren (Urteil des Stadtbezirksgerichts Berlin-Pankow vom 21. Juni 1968 – 611 S 36/68 / KIA Pa 177/68-) übersehen worden, dass der Betroffene sich wegen des letztgenannten Verfahrens bereits zwischen dem 23. März 1968 und dem 17. Mai 1968 in Untersuchungshaft befunden hat. Der Betroffene hat mithin zu Unrecht insgesamt 235 Tage Freiheitsentziehung erlitten (23. März 1968 bis 17. Mai 1968 (= 55 Tage) sowie 8. Mai 1969 bis 7. November 1969 (= 180 Tage)).

Demgegenüber hat die Rehabilitierungskammer des Landgerichts Berlin in ihrem Beschluss vom 17. März 2003 die erlittene Untersuchungshaft zwar berücksichtigt, wenn auch zu Unrecht erst ab dem 24. März 1968 statt ab dem 23. März 1968 (Tag der vorläufigen Festnahme). Allerdings hat sie im Weiteren nur eine Haftzeit vom 7. August 1969 bis zum 7. November 1969 berücksichtigt. Eine Begründung für die Nichtanerkennung der Haftzeit vom 8. Mai 1969 bis zum 6. August 1969 findet sich in dem Beschluss nicht. Offenbar ist die Kammer bei ihrer Entscheidung der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft Berlin vom 31. Oktober 2000 gefolgt, die ebenfalls von Haftzeiten vom 24. März 1968 bis zum 17. Mai 1968 sowie vom 7. August 1969 bis zum 7. November 1969 ausgegangen ist. Die Generalstaatsanwaltschaft hat hierbei auf Bl.000021 der BEA II verwiesen, bei der es sich um die auch hier vorliegende Akte G-SKS 5298 des BStU handelt. Unter Blatt 21 dieser Akte findet sich eine „Mitteilung über Aufnahme/Entlassung“ vom 7. August 1969, wonach der Betroffene an diesem Tag durch die StVA Berlin „von UHA Bl. II“ aufgenommen worden ist. Die Generalstaatsanwaltschaft hat hierbei offenbar verkannt, dass die Mitteilung vom 7. August 1969 – nur – eine Verlegung betraf und es sich nicht um die Erstaufnahme handelte. Grund hierfür mag auch gewesen sein, dass sich der Betroffene wegen der unterlassenen Anrechnung der Untersuchungshaft länger als die ausgeurteilten sechs Monate in Haft befunden hat.

Bedauerlicherweise ist die Berechnung der Haftzeit dann auch im Beschluss der Rehabilitierungskammer des Landgerichts Berlin vom 13. Juli 2009 – 551 Rh 979/08 UBG -, mit dem die Kammer den Antrag des Antragstellers auf gerichtliche Entscheidung gegen den Bescheid des Landes Berlin vom 29. Oktober 2008 (AZ: II D 2401 – 4635 / 200 – RZ – 7506) zurückgewiesen hat, erneut fehlerhaft erfolgt. Die Kammer ist dort zu Unrecht – ohne nähere Begründung – von einer Haftzeit vom 24. März 1968 bis zum 7. August 1968 und mithin von 134 Tagen ausgegangen und hat deshalb die Anwendbarkeit des § 17a StrRehaG, der eine Haftzeit von mindestens 180 Tagen als Voraussetzung für eine Kapitalentschädigung fordert, verneint.

Dieser Fehler ist schließlich zwar vom Beschwerdesenat für Rehabilitierungssachen des Kammergerichts in seinem Beschluss vom 17. Februar 2010 – 2 Ws 412/09 REHA – festgestellt worden. Allerdings ist auch das Kammergericht – im Ergebnis unrichtig – davon ausgegangen, dass der Betroffene nicht die gesamte von ihm geltend gemachte Haftzeit zu Unrecht verbüßt hat; sein Rehabilitierungsantrag im Jahre 2003 sei nur teilweise erfolgreich gewesen, nämlich für die Zeiträume vom 24. März 1968 bis zum 17. Mai 1968 und vom 7. August 1969 bis zum 7. November 1969 (insgesamt 147 Tage). Das Kammergericht hat die Beschwerde des Betroffenen deshalb verworfen.

b) Soweit die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme vom 18. April 2016 darüber hinaus davon ausgeht, dass der Betroffene für das hier maßgebliche Verfahren nicht erst seit dem 8. Mai 1969, sondern schon seit dem 7. Mai 1969 inhaftiert gewesen sei, vermag die Rehabilitierungskammer dem nicht zu folgen. Die Generalstaatsanwaltschaft stützt sich insoweit auf eine von der Staatsanwaltschaft für das Verfahren KIA Pa 156/69 angefertigte Karteikarte, auf der als Haftbeginn der 7. Mai 1969 verzeichnet ist. Auch nach dem Schlussbericht des Präsidiums der Volkspolizei Berlin vom 8. August 1969 soll sich der Betroffene seit dem 7. Mai 1969 in Untersuchungshaft befunden haben. Dies steht allerdings im Widerspruch zu den Angaben in der von der VP-Inspektion Pankow – Abteilung Kriminalpolizei – am 8. Mai 1969 ausgestellten Bescheinigung zur Hafteinlieferung, wonach der Betroffene am 8. Mai 1969 aufgrund eines Haftbefehls festgenommen worden ist. Der Haftbefehl wurde wiederum erst am 8. Mai 1969 erlassen. Auch im Aufnahmebogen der Untersuchungshaftanstalt ist als Tag der Festnahme der 8. Mai 1969 verzeichnet. Angesichts dieser zeitnah erstellten Unterlagen ist davon auszugehen, dass der Betroffene tatsächlich erst am 8. Mai 1969 festgenommen worden ist und die abweichenden Angaben in den später erstellten Dokumenten auf einem Versehen beruhen. Auch der Betroffene selbst hat im Übrigen zu keinem Zeitpunkt behauptet, schon am 7. Mai 1969 festgenommen worden zu sein.

III.

1. Eine Berichtigung des Beschlusses der Rehabilitierungskammer vom 17. März 2003 ist gleichwohl nicht möglich. Der Rehabilitierungsbeschluss ist der materiellen Rechtskraft fähig. Bei derartigen Beschlüssen ist eine Berichtigung nur in dem Umfang möglich, in dem sie bei einem Urteil möglich wäre (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 19. März 2015 – III-1 Ws 646-647/14 – m.w.N., juris). Danach ist eine Berichtigung nur wegen offensichtlicher Schreibversehen und anderer offensichtlicher Unrichtigkeiten zulässig. Dabei muss es sich um Fehler handeln, die für alle Beteiligten ohne Weiteres erkennbar sind und es muss eindeutig erkennbar sein, was das Gericht tatsächlich gewollt und entschieden hat (OLG Hamm a.a.O.). Vorliegend lässt sich nicht eindeutig erkennen, was die Rehabilitierungskammer gewollt hat. Dass ihr nur ein Schreibfehler unterlaufen ist (August statt Mai), scheint wenig wahrscheinlich. Vielmehr wird sich die Kammer an der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft vom 31. Oktober 2000 orientiert haben, die von Haftzeiten vom 24. März 1968 bis zum 17. Mai 1968 sowie vom 7. August 1969 bis zum 7. November 1969 ausgegangen ist, weil sie – wie oben ausgeführt – die „Mitteilung über Aufnahme/Entlassung“ vom 7. August 1969 (Bl.000021 der damaligen BEA II) falsch ausgelegt hat. Derartige Fehler bei der Willensbildung können nicht berichtigt werden, sondern können nur mit einem Rechtsmittel geltend gemacht werden. Der Beschluss der Rehabilitierungskammer vom 17. März 2003 ist jedoch rechtskräftig geworden.

2. Demgegenüber hat der Wiederaufnahmeantrag des Betroffenen Erfolg.

a) Der Wiederaufnahmeantrag ist zulässig und begründet.

Die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens ist gemäß § 359 Nr.5 StPO zulässig, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht sind, die allein oder in Anwendung mit den früher erhobenen Beweisen die Freisprechung des Angeklagten oder die Anwendung eines milderen Strafgesetzes, eine geringere Bestrafung oder eine wesentlich andere Entscheidung über Maßregeln der Besserung oder Sicherung zu begründen geeignet sind.

Die Vorschriften der StPO über die Wiederaufnahme gelten gemäß § 15 StrRehaG im strafrechtlichen Rehabilitierungsverfahren entsprechend.

aa) Ob die vom Betroffenen im vorliegenden Verfahren beigebrachten Schriftstücke eine Wiederaufnahme des durch rechtskräftigen Beschluss der Kammer vom 17. März 2003 abgeschlossenen Rehabilitierungsverfahrens rechtfertigen, ist zweifelhaft.

(1) Die vom Betroffenen beigebrachte Gefängniskarteikarte lag bereits im ursprünglichen Verfahren vor (s. Bl.75 der Akte (550 RH) 3 Js 321/99 (309/99)). Hierauf kann der Wiederaufnahmeantrag deshalb nicht mit Erfolg gestützt werden.

(2) Die weiter – auszugsweise – vorgelegten Beurteilungsblätter lagen im vorangegangenen Verfahren zwar nicht vor. Ferner ist in diesen eindeutig festgehalten, dass der Betroffene sich wegen des versuchten illegalen Verlassens der DDR vom 8. Mai 1969 bis zum 7. November 1969 in Haft befunden hat.

Allerdings lassen die unvollständig vorliegenden Beurkundungsblätter weder den Aussteller und das Ausstellungsdatum erkennen noch ist ersichtlich, auf welchen Erkenntnisquellen die Angaben beruhen. Die Beurteilungsblätter sind damit wenig aussagekräftig.

Abgesehen davon dürften die Beurteilungsblätter im ursprünglichen Verfahren auch deshalb unerheblich gewesen sein, weil in diesem Verfahren bereits Unterlagen vorgelegen haben, aus denen sich eindeutig die tatsächlichen Haftzeiten ergeben haben. Insbesondere lag die Vollzugsakte des Betroffenen (G-SKS 5298 der BStU) vor. Auf Blatt 2 dieser Akte ist unter „Strafen/Verurteilungen“ eindeutig festgehalten, dass sich der Betroffene für das Verfahren KIA Pa 177/68 in der Zeit vom 8. Mai 1969 bis zum 7. November 1969 in Haft befunden hat. Ferner lag auch die im vorliegenden Verfahren erneut vorgelegte Gefängniskarteikarte für den Betroffenen vor (vgl. Blatt 75 d.A. (550 Rh) 3 Js 321/99 (309/99)). Auch dieser lassen sich die tatsächlichen Haftzeiten eindeutig entnehmen. Auf die Beurteilungsblätter wäre es damit wohl nicht mehr angekommen sein.

Letztlich bedarf diese Frage aber keiner abschließenden Beurteilung. Denn der Wiederaufnahmeantrag ist jedenfalls aus den nachfolgend dargelegten Gründen zulässig.

bb) Neu im Sinne von § 359 StPO sind nicht nur Tatsachen und Beweismittel, die im ursprünglichen Verfahren noch nicht eingeführt worden sind, sondern auch solche, die vom Gericht bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt bzw. genutzt worden sind, obwohl dies möglich gewesen wäre. Die Beweismittel, derer sich das erkennende Gericht nicht bedient hat, stehen den unbenutzten Beweismitteln gleich (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl., § 359 Rn.30 ff.; OLG Frankfurt, Beschluss vom 20. Januar 1978 – 1 Ws 21/78 -, beck-online; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 14. September 2006 – 2 BvR 123/06 – für das Wiederaufnahmeverfahren gegen einen Strafbefehl, juris).

Vorliegend ist davon auszugehen, dass sowohl die Generalstaatsanwaltschaft als auch die Rehabilitierungskammer im Ausgangsverfahren den Aufnahmebogen der Haftanstalt (Blatt 2 der Vollzugsakte BStU G-SKS 5298) sowie die Gefängniskarteikarte (Blatt 75 der Verfahrensakte (550 Rh) 3 JS 321/99 (309/99)) übersehen und stattdessen nur die „Mitteilung über Aufnahme/ Entlassung (Blatt 21 der Vollzugsakte) zur Kenntnis genommen – und fehlinterpretiert – haben. Denn Blatt 2 der Vollzugsakte und Blatt 75 der Verfahrensakte ließen die tatsächliche Haftzeit für das Verfahren KIA Pa 177/68 vom 8. Mai 1969 bis zum 7. November 1969 eindeutig erkennen. Eine falsche Interpretation dieser beiden Unterlagen ist nicht vorstellbar.

b) Nach Wiederaufnahme des Verfahrens ist der Betroffene wie aus dem Tenor ersichtlich zu rehabilitieren. Es liegt ein Regelfall gemäß § 1 Abs.1 lit.e und h StrRehaG vor. Abweichend vom ursprünglichen Beschluss ist nunmehr festzustellen, dass der Betroffene in der Zeit vom 23. März 1968 bis zum 17. Mai 1969 und vom 8. Mai 1969 bis zum 7. November 1969 zu Unrecht Freiheitsentziehung erlitten hat.

3. Selbst wenn man den Ausführungen unter Nr.2 nicht folgen wollte, wäre der Antrag des Betroffenen jedenfalls ausnahmsweise entsprechend § 1 Abs.6 Satz 2 StrRehaG als erneuter Antrag zulässig und begründet.

a) § 1 Abs.6 Satz 1 StrRehaG regelt die Rechtskraftwirkung früherer Rehabilitierungs- oder Kassationsentscheidungen in der Weise, dass noch vor dem Beitritt unter der Geltung von DDR-Recht und durch DDR-Gerichte ergangene Kassationsentscheidungen ungeachtet ihrer Rechtskraft grundsätzlich einer nochmaligen Überprüfung zugeführt werden können, während erst nach dem 2. Oktober 1990 unter rechtsstaatlichen Verhältnissen ergangene rechtskräftige Rehabilitierungs- oder Kassationsentscheidungen prinzipiell Bestand haben. Von Letzterem macht § 1 Abs.6 Satz 2 StrRehaG eine Ausnahme, durch die in erster Linie Fälle erfasst werden sollen, in denen das seinerzeitige Inkrafttreten des StrRehaG vom 20. Oktober 1992 eine strafrechtliche Rehabilitierung gegenüber der vorherigen, durch das Rehabilitierungsgesetz vom 6. September 1990 in der Fassung des Einigungsvertrages gekennzeichneten Rechtslage erleichtert hat und der frühere, nach dem 2. Oktober 1990 rechtskräftig abgelehnte Erstantrag auf Rehabilitierung nach den für den Betroffenen günstigeren Vorschriften des neuen StrRehaG Erfolg gehabt hätte (vgl. Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 14. Oktober 2015 – 1 Ws Reha 6/15 – m.w.N., juris).

Ob ein Betroffener darüber hinaus aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel einen Zweitantrag im Sinne des § 1 Abs.6 StrRehaG stellen kann, ist umstritten (bejahend LG Gera, Beschluss vom 26. Januar 2015 – 6 Reha 34/13 -, juris; ablehnend Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 14. Oktober 2015 – 1 Ws Reha 6/14 -, juris; offen KG, unveröffentlichte Beschlüsse vom 13. Juli 2015 – 4 Ws 47/15 REHA – und vom 18. Dezember 2003 – 5 Ws 625/03 -). Vorliegend bedarf diese Frage jedoch keiner Entscheidung.

Denn nach zutreffender Auffassung, der sich die Kammer anschließt, ist § 1 Abs. 6 Satz 2 StrRehaG jedenfalls dann entsprechend anzuwenden, wenn das Gericht bei seiner ersten Entscheidung eine offensichtlich unzureichende Sachentscheidung getroffen hat (vgl. LG Frankfurt/-Oder, Beschluss vom 11. Juli 2013 – 41 BRH 55/12 -, juris, für eine Konstellation, in der das Gericht die Tatbestandsvoraussetzungen der Rehabilitierung verkannt hat). Eine solche offensichtlich unzureichende Sachentscheidung liegt auch hier vor. Denn der angegriffene Beschluss verhält sich mit keinem Wort dazu, wieso der Betroffene nur in der Zeit vom 24. März 1968 bis zum 17. Mai 1968 und vom 7. August 1969 bis zum 7. November 1969, nicht aber in der Zeit vom 7. Mai 1969 bis zum 6. August 1969 zu Unrecht Freiheitsentziehung erlitten haben soll, obwohl der Betroffene bereits in der Antragsschrift vom 10. November 1999 angegeben hat, ab dem 8. Mai 1969 inhaftiert gewesen zu sein, und mit Schriftsatz vom 24. Februar 2000 ausdrücklich eine Rehabilitierung für das Verfahren KIA Pa 177/68 im Zeitraum vom 21. Juni 1968 (Tag des Urteils des Stadtbezirksgerichts Berlin-Pankow) bis zum 7. November 1969 begehrt hat. Es ist nicht einmal ersichtlich, dass das Gericht das weitergehende Begehren des Betroffenen überhaupt zur Kenntnis genommen hat.

b) Auf den erneuten Antrag des Betroffenen ist dieser wie tenoriert zu rehabilitieren und es sind die aus dem Tenor ersichtlichen Haftzeiten festzustellen.

IV.

Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei (§ 14 Absatz 1 StrRehaG). Die Auslagenentscheidung ergibt sich aus § 14 Absatz 2 Satz 1 StrRehaG.

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