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Fahrlässige Gefährdung des Straßenverkehrs – Vergewisserung über eigene Fahruntüchtigkeit

OLG Hamm – Az.: III-3 RVs 16/19 – Beschluss vom 11.04.2019

Das angefochtene Urteil wird mit den zugrundeliegenden Feststellungen – mit Ausnahme der Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen – aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision – an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Bielefeld zurückverwiesen.

Gründe

I.

Der Angeklagte ist mit Urteil des Amtsgerichts Bielefeld vom 18. Dezember 2018 wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 30 EUR verurteilt worden. Dem Angeklagten ist die Fahrerlaubnis entzogen, der Führerschein ist eingezogen worden. Die Verwaltungsbehörde ist angewiesen worden, dem Angeklagten vor Ablauf einer Sperrfrist von noch fünf Monaten keine neue Fahrerlaubnis zu erteilen.

Nach den Feststellungen des Amtsgerichts befuhr der Angeklagte am 00. Juni 2018 mit einem PKW eine Straße in C. Dabei kam er zweimal so weit nach links auf die Gegenspur, dass sich die dort fahrenden Autos jeweils so weit nach rechts bewegen mussten, dass sie ihre Fahrspur in Richtung Bankette bzw. Graben verlassen mussten. Trotz Hupens und Lichthupe reagierte der Angeklagte jeweils erst im letzten Moment, konnte aber eine Kollision mit diesen Fahrzeugen noch vermeiden. Im weiteren Straßenverlauf kam der Angeklagte wiederum nach links auf die Gegenfahrbahn und wurde von dem Fahrer des entgegenkommenden Fahrzeugs mit Hupe und Lichthupe gewarnt. Der Fahrer des entgegenkommenden Fahrzeugs wich auf den Grünstreifen aus, was aber nicht mehr ausreichte, um eine Kollision zu verhindern. Beide Fahrzeuge berührten sich mit den Außenspiegeln, wodurch ein Sachschaden entstand. Der Angeklagte fuhr ungeachtet der Kollision weiter. Als der Angeklagte aufgrund stockenden Verkehrs anhielt, gelang es einem anderen Zeugen, sich in das Fahrzeug des Angeklagten zu beugen und den Zündschlüssel abzuziehen. Der Angeklagte machte auf den Zeugen und einen eintreffenden Polizeibeamten einen verwirrten und apathischen Eindruck. Er hatte sich auf seinem Fahrzeugsitz eingenässt. Er war schweißgebadet und konnte nicht sicher stehen. Eine rechtliche Belehrung war dem Polizeibeamten aufgrund des Zustands des Angeklagten nicht möglich.

Das Amtsgericht hat den Angeklagten verurteilt, weil er – so das Amtsgericht – bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt – zumindest nach der ersten Beinahe-Kollision – hätte erkennen können, dass er sich aufgrund der festgestellten geistigen und körperlichen Mängel bei der Tat in einem fahruntüchtigen Zustand befunden habe.

Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das Rechtsmittel als offensichtlich unbegründet zu verwerfen.

II.

Die zulässig erhobene und auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Sprungrevision führt zur Aufhebung des Urteils mit den zugrunde liegenden Feststellungen, soweit sie nicht das äußere Tatgeschehen betreffen.

1.

Nach den vom Amtsgericht getroffenen Feststellungen ist zwar der objektive Tatbestand einer fahrlässigen Straßenverkehrsgefährdung gem. § 315c Abs. 1 Nr. 1b, Abs. 3 Nr. 2 StGB erfüllt. Der Angeklagte erweckte unmittelbar nach dem Tatgeschehen einen verwirrten und apathischen Eindruck, war schweißgebadet und hatte sich auf seinem Fahrzeugsitz eingenässt. Er konnte nicht sicher stehen, eine rechtliche Belehrung war dem Polizeibeamten aufgrund des Zustands des Angeklagten nicht möglich. Kurz darauf musste wegen weiterer Verschlechterung des Zustands des Angeklagten sogar der Rettungsdienst hinzugerufen werden. In Verbindung mit den Fahrfehlern des Angeklagten – dreimaliges Verlassen der eigenen Fahrspur trotz herannahenden Gegenverkehrs, zwei Beinahe-Unfälle und eine Kollision, anschließende Weiterfahrt – bestehen keine vernünftigen Zweifel daran, dass der Angeklagte schon während der Fahrt gesundheitlich erheblich beeinträchtigt war und deshalb infolge geistiger oder körperlicher Mängel nicht in der Lage war, sein Fahrzeug sicher zu führen. Damit handelte er objektiv sorgfaltswidrig und gefährdete Leib und Leben anderer oder Sachen von bedeutendem Wert, was nach objektiven Maßstäben auch vorhersehbar war.

2.

Bezüglich des Fahrlässigkeitsschuldvorwurfs hält der Schuldspruch einer Überprüfung hingegen nicht stand. Zur Begründung des Fahrlässigkeitsschuldvorwurfs muss der Täter nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten in der Lage gewesen sein, die objektive Sorgfaltspflichtverletzung zu vermeiden und die Tatbestandsverwirklichung vorauszusehen (Lackner/Kühl/Kühl, StGB, 29. Aufl. 2018, § 15, Rn. 49 m. w. N.). Hierzu fehlen bislang ausreichende Feststellungen.

Zwar wird von einem Kraftfahrer verlangt, sich stets zu vergewissern, ob er nach seinen körperlichen und geistigen Fähigkeiten imstande ist, den Erfordernissen des Straßenverkehrs zu genügen (BGH, Urteil vom 20. Oktober 1987 – VI ZR 280/86 -, juris). Es besteht indes kein Erfahrungssatz des Inhalts, ein Kraftfahrer sei jederzeit zu dieser Selbstprüfung und dazu in der Lage, eigene Fehler und gegebenenfalls seine eigene Fahruntüchtigkeit zu erkennen (BayObLG, Beschluss vom 16. Januar 1996 – 1 St RR 215/95 -; OLG Oldenburg, Beschluss vom 29. Januar 2001 – 1 Ss 14/01 -; beide zitiert nach juris). Die festgestellten gesundheitlichen Symptome des Angeklagten und seine Fahrfehler genügen mithin nicht für den Schluss, dass er nach seinen subjektiven Fähigkeiten in der Lage war, seine Fahrunsicherheit vorherzusehen und die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer zu vermeiden. Dagegen spricht vielmehr sein Verhalten, die Fahrt trotz wiederholten Geratens in den Gegenverkehr, zweier Beinah-Unfälle und einer Kollision fortzusetzen und im weiteren Verlauf den Zündschlüssel zurückzuverlangen. Schon deshalb liegt die Frage nahe, ob mit dem Zustand des Angeklagten – der offenbar nicht einmal mehr in der Lage war, eine polizeiliche Belehrung zu verstehen – eine Minderung der Fähigkeit zur Selbstbeobachtung und Selbstkritik verbunden war, die einer zutreffenden Einschätzung der eigenen Verkehrstüchtigkeit im Wege stand.

Allein aufgrund seines Alters musste der zum Tatzeitpunkt 79jährige Angeklagte noch keine durchgreifenden Bedenken gegen seine Fahrereignung haben (vgl. Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Auflage 2019, § 2 StVG, Rn. 43 m. w. N.). Auch hat das Amtsgericht nicht festgestellt, dass die Fahrunsicherheit des Angeklagten auf einer bestimmten, ihm bekannten Krankheit beruhte. Insofern kann nicht davon ausgegangen werden, dass er allein deshalb, vielleicht zusätzlich aufgrund entsprechender Warnungen seines Arztes, Anlass zu Zweifeln und entsprechend besonders kritischer Selbstbeobachtung haben musste. Hinzu kommt, dass der Angeklagte den Feststellungen zufolge nicht vorbestraft ist und im Verkehrszentralregister keine Eintragungen vorhanden sind, so dass davon auszugehen ist, dass er sich bis zu dem Vorfall am 15. Juni 2018 beanstandungsfrei im Straßenverkehr geführt hat. Für die Frage, ob der Angeklagte sich seiner Leistungsmängel hätte bewusst sein können, kann auch von Bedeutung sein, wie groß seine Fahrpraxis überhaupt noch war und welche Fahrstrecken mit welcher Verkehrsdichte er noch zurückzulegen pflegte (vgl. BayObLG, a. a. O.).

Das Amtsgericht wird die für die subjektive Erkennbarkeit der Fahrunsicherheit und subjektive Vorhersehbarkeit der Gefährdung anderer Personen und Sachen maßgeblichen Gesichtspunkte, namentlich die Fähigkeit des Angeklagten zur Selbstbeobachtung und Selbstkritik zum Tatzeitpunkt, vor einer erneuten Entscheidung über die Schuld des Angeklagten weiter aufzuklären haben. In Betracht kommen dazu unter anderem die Beiziehung von Unterlagen, die weitere Rückschlüsse auf den Gesundheitszustand des Angeklagten zum Tatzeitpunkt zulassen, oder medizinisch-sachverständige Unterstützung.

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