OLG Frankfurt – Az.: 1 Ss 253/16 – Urteil vom 23.12.2016
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Gießen zurückverwiesen.
Gründe
Das Amtsgericht Gießen hat den Angeklagten am 15.07.2014 wegen Erschleichens von Leistungen in 2 Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 10 Euro verurteilt.
Auf die Berufung dagegen hat die 3. kleine Strafkammer des Landgerichts Gießen den Angeklagten mit Urteil vom 18.04.2016 freigesprochen.
Gegen dieses Urteil hat die Staatsanwaltschaft form- und fristgerecht Revision eingelegt und die Verletzung materiellen Rechts gerügt.
Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:
„Der Angeklagte ist ein Politaktivist, der sich gegen die Strafbarkeit der Hinterziehung des Entgeltes für die Beförderung durch die öffentlichen Verkehrsmittel von Bussen und Bahnen wendet und die Kostenfreiheit im öffentlichen Personennahverkehr fordert. Er benutzt in bewusster Provokation Verkehrsmittel in Kenntnis der vertraglichen Mindestbedingung, dass vor Fahrantritt ein für die konkrete Strecke gültiger Fahrausweis erworben werden muss, worauf durch plakative Hinweise an den Einstiegen zu Bussen und Bahnen gesondert und sichtbar hingewiesen wird, während das Kleingedruckte der allgemeinen Geschäftsbedingungen der Bahn in der Informationsflut untergeht. Im Entdeckungsfall verweigert der Angeklagte je nach Situation die Nachlösung eines normalen Fahrscheins oder eines Fahrscheins mit einem Kostenaufschlag zu erhöhtem Beförderungsentgelt, sofern dies überhaupt möglich ist. Zivilrechtliche Ansprüche der Bahn- oder Busbetreiber gehen bei dem pfändungsfreien Angeklagten ins Leere.
Dem Anschein des vertragsgemäßen Verhaltens bei Fahrantritt wirkt der Angeklagte entgegen, indem er aktuell ca. 9 cm mal 10 cm große Kärtchen oder Aufnäher mit der hervorgehobenen Aufschrift an seiner Jacke trägt: „Ich fahre umsonst“. Es folgen in kleinerem Druck nähere Erläuterungen. Wegen der Einzelheiten und Größenverhältnisse wird auf das maßstäblich zu kleine Lichtbild Bl. 69 mit dem zur Tatzeit getragenen Schild von tatsächlich ca. 5,5 cm mal 8,5 cm und auf das neue Schild zu Bl. 171, Protokoll vom 18.04.2016 Bezug genommen. In der Folge des vor ähnlichem Hintergrund freisprechenden Urteils des Amtsgerichts Stadt1 vom ….2015 (…/14) verteilt der Angeklagte zur Verdeutlichung der politischen Botschaft heute zusätzlich entsprechende Flugblätter.
In vorbezeichneter Weise war der Angeklagte noch ohne Flugblätter am ….06.2013 in Stadt2 Nahverkehr auf S-Bahnstrecken unterwegs. Entgegen der Hinweise an den Zugeinstiegen hatte der Angeklagte bewusst keinen gültigen Fahrausweis dabei. Allgemein bekannt können sich Reisende mit Einzel- und Gruppenfahrscheinen, personengebundenen Dauerfahrscheinen oder modern auch Handytickets ausweisen. Eine Zugangskontrolle am Bahnsteig oder Einstieg findet nicht statt. Die früher insbesondere bei Bussen und Straßenbahnen übliche Pflicht, mit Dauerfahrscheinen beim Fahrer einzusteigen oder Einzelfahrscheine bei Fahrtantritt am Automaten zu entwerten, gibt es bei der Bahn ohnehin nicht.
Am ….06.2013 benutzte der Angeklagte so den Zug Nr. 1 der A AG auf der Strecke Stadt3 nach Stadt2 Hbf. Die Kontrolle durch die Zeugin B fand nach Fahrtantritt um 09.27 Uhr im Bereich Stadt4 statt (Bl. 1 d. A.). Der Fahrpreis hätte 6,20 € betragen.
Dann benutzte der Angeklagte ebenfalls am ….06.2013 den Zug Nr. 2 auf der Strecke von Stadt2 Hbf. nach Stadt5. Die Kontrolle durch die Zeugin C fand um 16:17 Uhr im Bereich Sradt5 statt (Bl. 5 d. A.). Der Fahrpreis hätte 6,20 € betragen.
An seiner auf den Knien liegenden Jacke trug der Angeklagte jeweils deutlich für Fahrgäste und Kontrolleure sicht- und lesbar ein wenigstens scheckkartengroßes Schild mit dem Aufdruck:
Ich fahre umsonst weil genug für alle da ist und Preise nur Menschen ausschließen von etwas, was für ein gutes Leben wichtig ist und niemanden stört, dass sie es auch bekommen.
Vor der Entdeckung hätte der Angeklagte jeweils an mehreren Stationen, ca. 3 bis 4mal die Gelegenheit gehabt auszusteigen, um der Kontrolle zu entgehen. Der Angeklagte gab freiwillig seine Personalien bekannt. Dem Angeklagten wurde vorgehalten, warum er keinen Fahrschein gekauft habe. Eine Nachlöseforderung im Zug erfolgte nicht. Des Zuges verwiesen wurde der Angeklagte auch nicht.“
In der Beweiswürdigung ist ausgeführt:
„Die Feststellungen zur Sache beruhen auf den Angaben des Angeklagten zu seinen politischen Forderungen und der Aktionen gegen die Verurteilung von Schwarzfahrern. Aus der vom Angeklagten vorgespielten Videopräsentation ergaben sich die Einzelheiten zur Protestaktion und den Verhältnissen auf den Bahnsteigen und Zugeinstiegen. Die Daten zu den beiden Zugfahrten im Nahverkehr und dem primär hinterzogenen Fahrpreis der Bahn um Stadt2 wurden durch Verlesung der Strafanzeigen zum Gegenstand der Beweisaufnahme gemacht. Sie wurden so wie festgestellt vom Angeklagten nicht bestritten.
Ergänzend wurden die erstinstanzlichen Aussagen der Kontrolleurinnen nach § 325 StPO verlesen. Danach trug der Angeklagte unwiderleglich ein wie oben beschriebenen Schild an der Jacke, das von beiden Kontrolleurinnen wahrgenommen und verstanden wurde. Mit diesen Aussagen dürfte das Schild etwas kleiner gewesen sein, als das aktuelle. Im Vergleich mit dem in Augenschein genommenen Lichtbild von der Jacke, das im Maßstab leicht zu vergrößern ist, war es wenigstens ca. 5,5 cm bis ca. 8,5 cm groß. Dies entspricht den Maßen eines Personalausweises oder einer Bankkarte, wie von der Zeugin B beschrieben.
Mit der plakativen Aussage in hervorgehobener Schriftgröße nötigt der Sticker nach der Einschätzung der Kammer geradezu zum Weiterlesen.“
Das Landgericht hat den Angeklagten aus Rechtsgründen freigesprochen, da der in der Beweisaufnahme festgestellte Sachverhalt keine geeignete Grundlage für eine Verurteilung des Angeklagten wegen Beförderungserschleichung ergebe. Es fehle an der gemäß § 265a StGB vorausgesetzten manipulativen Handlung des Angeklagten, mit der er in die Gunst der Beförderung in der Absicht zu gelangen trachtete, das Beförderungsentgelt nicht zu entrichten. Er habe entweder den Anschein vertragsgerechten Verhaltens nicht erweckt oder aber sei diesem Anschein entgegengetreten. Jedenfalls sei in dubio pro reo zugunsten des Angeklagten sein unübersehbarer Protest gegen die Fahrpreiserhebung für maßgeblich zu erklären. Sofern ein vernünftiger Betrachter nicht nur die Aussage des Angeklagten auf seinem Sticker für Schabernack halte oder gar nach dem Studium des Textes auf dem Schilde wie das Amtsgericht erster Instanz zu anderweitigen Auslegungsergebnissen käme und deshalb den Anschein nicht durchbrochen sehe, könne eine solche Interpretation wiederum in dubio pro reo nicht zum Nachteil des Angeklagten gewertet werden.
Mit der Revision rügt die Staatsanwaltschaft, dass die tatsächlichen Feststellungen unzureichend seien. Zwar werde das vom Angeklagten benutzte Schild nach Größe und Aufschrift beschrieben. Es bleibe jedoch unklar, ob dieses Schild für andere wahrzunehmen und lesbar gewesen sei. Es würden nähere Ausführungen, an welchem Teil der Jacke es angebracht gewesen sei und wie der Angeklagte die Jacke auf seinen Knien abgelegt habe, fehlen. Da die Jacke nicht getragen worden sei, sei ihre Oberfläche nicht glatt; vielmehr müsste sie gefaltet werden, um abgelegt zu werden. Hierbei liege es nahe, dass das nur scheckkartengroße Schild verdeckt worden sei und dass die Aufschrift zu den Knien zeige. Dies gelte umso mehr, als dieses Schild bei beiden Taten sichtbar gewesen sein solle. Soweit der Angeklagte zudem ein scheckkartengroßes Schild an seiner zur Tatzeit jeweils nicht getragenen Jacke befestigt gehabt habe, genüge dies nicht, um den Anschein ordnungsgemäßer Nutzung zu erschüttern. Der Angeklagte habe sich wie ein zahlender Fahrgast verhalten.
Die Revision hat mit der Sachrüge Erfolg und führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.
Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main führt in ihrer Stellungnahme vom 31.08.2015 u.a. aus:
„Das Landgericht hat bereits den objektiven Tatbestand des Erschleichens von Leistungen nach § 265a StGB verneint. Doch nach seinen Feststellungen ist dieser Tatbestand erfüllt, denn der Umstand, dass an der Jacke des Angeklagten ein Kärtchen oder Aufnäher mit der Aufschrift „Ich fahre umsonst…“ aufgebracht war, lässt das „Erschleichen“ der Leistung nicht entfallen.
In Anlehnung an die Entscheidungen des OLG Köln (NStZ-RR 2016, 92 ) und des KG Berlin (NJW 2011, 2600) vermag das Kärtchen/der Aufnäher den äußeren Anschein, im Besitz eines gültigen Fahrausweises zu sein und den geltenden Beförderungsbedingungen nachzukommen, nicht zu erschüttern oder zu beseitigen.
Vielmehr hat der Angeklagte durch Betreten der Züge in schlüssiger Weise erklärt, den Beförderungsbedingungen der A AG nachzukommen. Auf den dem Angeklagten ohnehin bekannten Umstand, dass er zuvor einen Fahrausweis erwerben musste, war er ausweislich der Feststellungen durch entsprechende Hinweise aufmerksam gemacht worden.
Dass an seiner Jacke das Kärtchen/der Aufnäher angebracht war, wonach er „umsonst“ fahre, hat den allgemeinen Anschein, sich ordnungsgemäß zu verhalten, nicht beseitigt. Insoweit wäre erforderlich gewesen, dass in offener und unmissverständlicher Weise nach außen zum Ausdruck gebracht wird, die Beförderungsbedingungen nicht erfüllen und den Fahrpreis nicht entrichten zu wollen (OLG Köln, a.a.O.; KG Berlin, a.a.O.; OLG Naumburg, Beschluss vom 06.04.2009 – 2 Ss 313/07 -). Dies war dem gesamten Auftreten des Angeklagten allerdings nicht zu entnehmen. Ausweislich der Feststellungen war lediglich an der Jacke des Angeklagten, die auf seinen Knien lag, das Kärtchen/der Aufnäher angebracht. Seine „Botschaft“ war mithin nur zu erkennen, wenn der Blick direkt auf die Jacke fiel, was allenfalls bei einem Bruchteil der Mitreisenden überhaupt möglich gewesen sein kann. Anhaltspunkte dafür, dass er sich ansonsten auffällig verhielt, liegen nicht vor.
Ungeachtet dessen war auch die Aufschrift nicht eindeutig, da sie auch als bloße Provokation oder als ein Eintreten für freies Fahren in Bus und Bahn im Sinne einer politischen Stellungnahme gedeutet werden können (vgl. KG Berlin, a.a.O.). Damit trat erst durch die Kontrolle des Angeklagten dessen Weigerung, den Fahrpreis zu entrichten und die Beförderungsbedingungen einzuhalten zu Tage, weshalb er die Beförderungsleistungen erschlichen hat.
Wegen des aufgezeigten Rechtsfehlers unterliegt das Urteil insgesamt der Aufhebung. Da der Angeklagte es nicht anfechten konnte, scheidet die Möglichkeit, Feststellungen zum äußeren Tathergang (teilweise) aufrechtzuerhalten, von vornherein aus. Die Sache bedarf insgesamt neuer tatrichterlicher Überprüfung und Entscheidung (vgl. BGH, Urteil vom 23. Februar 2000 – 3 StR 595/99 -, Rn. 12, juris).“
Dem tritt der Senat bei.
Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und die Sache war zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Gießen zurückzuverweisen (§§ 353, 354 Abs. 2 StPO).