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Durchsuchungsbeschluss – Fehlen der gebotenen Einzelfallprüfung

LG Nürnberg-Fürth – Az.: 12 Qs 49/22 – Beschluss vom 07.11.2022

I. Soweit sich die Beschwerde gegen den Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 19. März 2021, bestätigt am 24. September 2021, richtet, wird sie als unbegründet, im Übrigen als unzulässig verworfen.

II. Der Beschwerdeführer trägt die Kosten der Beschwerde.

Gründe

I.

Die Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg (GenStA) ermittelt gegen den Beschuldigten, einen Apotheker, wegen Abrechnungsbetrugs. Aufgrund Durchsuchungsbeschlusses des Amtsgerichts Nürnberg vom 19. März 2021, bestätigt am 24. September 2021, führte sie bei ihm am 27. Oktober 2021 eine Durchsuchung durch, wobei die Sichtung der dabei gesicherten elektronischen Daten derzeit noch andauert. Mit Beschluss vom 4. Januar 2022 bestätigte das Amtsgericht Nürnberg auf Antrag der GenStA die vorläufige Mitnahme der sichergestellten Unterlagen zum Zwecke der Durchsicht. Dagegen legte der Beschuldigte mit Schreiben vom 17. Januar 2022 Beschwerde ein. Die Kammer hat diese Beschwerde als unbegründet verworfen; lediglich hinsichtlich zweier Asservate hat sie den Beschluss vom 4. Januar 2022 aufgehoben und deren Herausgabe an den Beschwerdeführer verfügt (Beschluss vom 10. März 2022 – 12 Qs 6/22, juris).

Mit Schriftsatz seines neuen Verteidigers vom 25. August 2022 legte der Beschuldigte erneut Beschwerde ein und beantragte:

1. Die Durchsuchungsbeschlüsse vom 19. März 2021 und vom 24. September 2021 werden aufgehoben. Der Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 4. Januar 2022 wird aufgehoben wie auch der Beschluss der Kammer vom 10. März 2022 (12 Qs 6/22) insoweit, als die Kammer die dagegen gerichtete Beschwerde als unbegründet verworfen hat.

2. Die GenStA wird angewiesen, sämtliche bei der Durchsuchung sichergestellten Gegenstände, Unterlagen und sonstige Asservate herauszugeben. Gesicherte Daten werden gelöscht.

3. Die Staatskasse trägt die Kosten der Beschwerde, einschließlich jene der Verteidigung im Beschwerdeverfahren 12 Qs 6/22 und der Mandatierung von Fachanwälten für Medizinrecht.

Die Ermittlungsrichterin hat der Beschwerde nicht abgeholfen. Die GenStA hat beantragt, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen. Hierzu nahm der Verteidiger des Beschuldigten mit Schriftsatz vom 20. Oktober 2022 Stellung und brachte weitere Gründe gegen den angegriffenen Beschluss vor. Seinen Vortrag ergänzte er mit weiteren Schriftsätzen vom 29. Oktober, 2. und 4. November 2022.

II.

Die Beschwerde ist zulässig, soweit sie sich gegen den Durchsuchungsbeschluss vom 19. März 2021, bestätigt am 24. September 2021, richtet; insoweit ist sie jedoch unbegründet (1). Im Übrigen ist die Beschwerde unzulässig (2). Demgemäß war die Beschwerde teils als unbegründet, im Übrigen als unzulässig zu verwerfen.

1. a) Die Beschwerde gegen den Durchsuchungsbeschluss ist statthaft und zulässig erhoben. Rechtsschutzbedürfnis und Beschwer sind gegeben, da die Durchsuchung noch andauert. Eine Durchsuchungsmaßnahme gilt als nicht abgeschlossen, solange die Durchsicht der dabei mitgenommenen Unterlagen nach § 110 StPO andauert (BGH, Beschluss vom 3. September 1997 – StB 12/97, juris; Tsambikakis in Löwe/Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 105 Rn. 129). Das ist der Fall, weil ausweislich der Auskunft der GenStA die Durchsicht der elektronischen Daten noch nicht abgeschlossen ist.

b) Die Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg, weil der Durchsuchungsbeschluss rechtmäßig ergangen ist.

aa) Die Beschwerde meint, vor Beschlusserlass habe eine eigenverantwortliche Prüfung des Tatvorwurfs durch das Ermittlungsgericht nicht stattgefunden, sodass der Durchsuchungsbeschluss schon aus diesem Grund aufzuheben sei.

Dieser These schließt sich die Kammer nicht an. Das Fehlen der gebotenen Einzelfallprüfung durch die Ermittlungsrichterin folgt nicht schon daraus, dass sie den Durchsuchungsbeschluss nicht selbst ausformuliert, sondern – entsprechend der hiesigen ständigen Praxis in Wirtschaftsstrafverfahren – die ihr von der StA (bzw. hier der GenStA) vorformuliert vorgelegten Beschlussentwürfe unterzeichnet hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 1. August 2014 – 2 BvR 200/14, juris Rn. 19; Kammer, Beschluss vom 24. September 2021 – 12 Qs 66/21, juris Rn. 15; krit. Meyer-Mewes, HRRS 2020, 286, 288 f.). Von fehlender eigener Prüfung könnte etwa ausgegangen werden, wenn sich die Beschlussbegründung in formelhaften Floskeln ohne Einzelfallbezug oder in der bloßen Benennung des zugrunde liegenden Straftatbestandes erschöpft (BVerfG, Beschluss vom 6. März 2002 – 2 BvR 1619/00, juris Rn. 16; Beschluss vom 8. April 2004 – 2 BvR 1821/03, juris Rn. 16 ff.), oder wenn das Ermittlungsgericht sinnentstellende Fehler oder sonst offenkundige Mängel des Antrags der Staatsanwaltschaft unkorrigiert übernimmt (BVerfG, Beschluss vom 1. August 2014 – 2 BvR 200/14, juris Rn. 19; vgl. auch Tsambikakis in Löwe/Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 105 Rn. 46 m.w.N.).

So liegen die Dinge hier nicht. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die sachbearbeitende Staatsanwältin unmittelbar vor der Zuleitungsverfügung an das Ermittlungsgericht einen fünfseitigen Vermerk zur Akte gebracht hat, in dem sie den Ermittlungsstand in tatsächlicher Hinsicht zusammenfasste und sich mit dessen rechtlichen Implikationen auseinandersetzte – auch im Hinblick auf § 11 Abs. 1 ApoG, § 7 AVV sowie auf die Auswirkungen von Verstößen hiergegen für die Abrechnung gegenüber den Kassen. Damit hatte die Ermittlungsrichterin über den Beschlussentwurf und den blanken Akteninhalt hinaus einen Interpretationsvorschlag an der Hand, den sie prüfen konnte. Der angegriffene Beschluss selbst weist keine groben handwerklichen Fehler auf, enthält eine individualisierte Sachverhaltsschilderung und interpretiert sie in vertretbarer Weise als strafrechtlich relevant. Die von der Beschwerde im Schriftsatz vom 20. Oktober 2022 (S. 5 ff.) formulierten Einwendungen sind so speziell, dass aus dem Fehlen einer expliziten Erörterung der ihnen zugrundeliegenden Rechtsfragen in der Begründung des Durchsuchungsbeschlusses nicht gefolgert werden kann, die Ermittlungsrichterin habe diese Rechtsfragen nicht geprüft, sollte es für sie darauf angekommen sein. Die schriftliche Begründung eines Durchsuchungsbeschlusses ist nicht der Ort, alle Prüfungsschritte im Detail zu dokumentieren, die das Ermittlungsgericht in der gedanklichen Durchdringung des Stoffs abgearbeitet hat.

Schließlich folgt das Fehlen der individuellen Befassung der Ermittlungsrichterin mit dem Stoff nicht daraus, dass sie in ihrer Zuleitungsverfügung vom 26. August 2022 vermerkt hat, der Vorgang sei ihr unbekannt und eine Prüfung der Begründetheit der Beschwerde sei ihr daher nicht möglich; sie helfe der Beschwerde nicht ab. Der von ihr unterschriebene Durchsuchungsbeschluss datiert vom 19. März 2021. Dessen Bestätigung vom 24. September 2021 wurde, wie auch die Bestätigung der Mitnahme zur Durchsicht am 4. Januar 2022, nicht von ihr, sondern von einem ihrer Kollegen beschlossen. Bei diesem zeitlichen Abstand wäre es ausgesprochen bemerkenswert, hätte die Ermittlungsrichterin den Fall noch gekannt. Auf einem anderen Blatt steht, ob mit der zitierten Verfügung das Abhilfeverfahren (§ 306 Abs. 2 StPO) ordnungsgemäß durchgeführt wurde. Das kann indes auf sich beruhen, weil eine Zurückverweisung der Sache zur Nachholung der Abhilfeprüfung hier nicht in Betracht kam (vgl. dazu Hoch in SSW-StPO, 4. Aufl., § 306 Rn. 18; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 306 Rn. 10, je m.w.N.).

bb) Die Beschwerde hält den Durchsuchungsbeschluss auch deshalb für rechtswidrig, weil er den Anforderungen an die Begrenzung des Grundrechtseingriffs nicht genüge. Er nenne nicht die notwendigen Indiztatsachen, die den Anfangsverdacht rechtfertigten könnten.

Auch insoweit vermag die Kammer der Beschwerde nicht zu folgen. Die Beschreibung der aufzuklärenden Straftat im Durchsuchungsbeschluss schützt die Grundrechte des Betroffenen. Sie macht Umfang und Reichweite des Grundrechtseingriffs deutlich und zeigt, worauf sich die Durchsuchung bezieht. So wird den mit der Vollziehung der Anordnung betrauten Beamten klargemacht, worauf sie ihr Augenmerk richten sollten, und so der Zugriff auf Beweisgegenstände begrenzt (Kammer, Beschluss vom 10. März 2022 – 12 Qs 6/22, juris Rn. 21 m.N. zur Rspr. des BVerfG). Die gleiche Funktion hat die Bezeichnung derjenigen Gegenstände im Durchsuchungsbeschluss, nach denen gesucht werden soll (BVerfG, Beschluss vom 4. März 2008 – 2 BvR 103/04, juris Rn. 20). Weiterhin sind gem. § 34 StPO die wesentlichen Verdachtsgründe darzulegen, d.h. die Tatsachen, die den behaupteten Anfangsverdacht belegen sollen. Deren Angabe kann nur unterbleiben, wenn die Bekanntgabe den Untersuchungszweck gefährden würde (BGH, Beschluss vom 18. Dezember 2008 – StB 26/08, juris Rn. 7 f.).

Diese Anforderungen erfüllt der angegriffene Durchsuchungsbeschluss. Er enthält eine detaillierte Auflistung derjenigen Unterlagen, Daten und Gegenstände, nach denen gesucht werden sollte. Ebenso ist der dem Beschuldigten vorgeworfene Sachverhalt in seinen Grundzügen umrissen und nach zeitlichem Rahmen, Art der Tatbegehung, mutmaßlichen Geschädigten und Schadenshöhe individualisiert. Als tatsächliche Grundlage des Anfangsverdachts benennt der Beschluss unter Ziff. II der Gründe die Stellungnahmen der anzeigeerstattenden Krankenkassen, dort insbesondere deren statistische Auswertungen, weiterhin Rezepte und Stellungnahmen von Ärzten und Patientenangehörigen sowie eine Stellungnahme der X GmbH (fortan: X) im Retaxverfahren, wobei teils auf konkrete Fundstellen in der Ermittlungsakte verwiesen wird.

Soweit die Beschwerde für einzelne Tatbestandselemente des Betrugs bzw. der diesem vorgelagerten sozial- und ordnungsrechtlichen Normen die explizite Benennung von Indiztatsachen vermisst, überspannt sie die Anforderungen an die Darlegung des Anfangsverdachts. Letztere kann knapp gehalten sein und es müssen nur die wesentlichen Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes belegt sein (vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. September 2006 – 2 BvR 1219/05, juris Rn. 16; Tsambikakis in Löwe/Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 105 Rn. 48 m.w.N.), also die des Betrugs nach § 263 StGB.

cc) Die Beschwerde ist weiter der Auffassung, dass sich der Durchsuchungsbeschluss nicht auf das erforderliche Maß beschränke, namentlich auf das Auffinden derjenigen Unterlagen, die eine verbotene Absprache belegen.

Damit dringt die Beschwerde nicht durch. Gegenstand des Tatvorwurfs ist mutmaßlicher Abrechnungsbetrug. Der Umstand, dass dem mutmaßlich eine Absprache i.S. einer verbotenen Zuweisung von Verordnungen zugrunde liegen könnte, betrifft lediglich eine Vorfrage eines einzelnen Tatbestandselements des Betrugs, nämlich der Täuschungshandlung. Letztere besteht darüber hinaus aus der Einreichung entsprechender Abrechnungen, die einen gewissen Zeitraum und zahlreiche Patienten betreffen. Insofern sind Erhebungen in größerem Umfang notwendig. Hierbei handelt es sich auch nicht um eine Sammlung von „Daten auf Vorrat“, wie die Beschwerde meint. Es geht – um aus dem Katalog der zu suchenden Unterlagen im Durchsuchungsbeschluss exemplarisch die Ziff. 1 zu zitieren – nicht darum, „sämtliche Unterlagen, die Kassenpatienten betreffen“ zu suchen, sondern, und darauf liegt der Schwerpunkt, nur solche „die darüber Aufschluss geben können, an welche Patienten im Zeitraum von 01.10.2018 bis 31.12.2018 die Arzneimittel V., A. und G. abgegeben wurden…“. Dass bei dem unmittelbaren Zugriff vor Ort die Scheidung von relevantem und irrelevantem Material noch nicht vollständig gelingt (vgl. dazu Kammer, Beschluss vom 10. März 2022 – 12 Qs 6/22, juris Rn. 15 ff.), liegt bei großen Mengen an Papierunterlagen oder bei elektronischen Daten in der Natur der Sache. Ort und Zeit für diese Unterscheidung findet sich bei der Durchsicht nach § 110 StPO.

dd) Der angegriffene Beschluss war entgegen der Beschwerde auch nicht deshalb aufzuheben, weil im maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des Durchsuchungsbeschlusses und unter Zugrundelegung des Kenntnisstandes des Ermittlungsrichters (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. September 2010 – 2 BvR 2561/08, juris Rn. 28; Köhler in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 105 Rn. 15a), der Anfangsverdacht des Abrechnungsbetruges nicht bestanden hätte. Ein Anfangsverdacht setzt voraus, dass tatsächliche Umstände vorliegen, die in Verbindung mit kriminalistischer Erfahrung es möglich erscheinen lassen, dass eine Straftat begangen worden ist und dass der Verdächtige als deren Täter oder Teilnehmer in Betracht kommt (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Juli 2022 – StB 29/22, juris Rn. 6; BGH, Beschluss vom 5. Oktober 2022 – StB 40/22, juris Rn. 5; BVerfG, Beschluss vom 21. Juli 2022 – 2 BvR 1483/19, juris Rn. 17). Eine vertretbare Einschätzung der Staatsanwaltschaft ist dabei vom Gericht hinzunehmen (Kammer, Beschluss vom 27. Mai 2022 – 12 Qs 24/22, juris Rn. 20 m.w.N.), was beinhaltet, dass es auch andere Interpretationen des Tatsachenmaterials geben kann. Die Kammer hat in ihrem Beschluss vom 10. März 2022 (12 Qs 6/22, juris Rn. 9 ff.) das Bestehen des Anfangsverdachts bereits geprüft und bejaht. Hieran hält sie fest. Ergänzend zu den dortigen Erwägungen ist im Hinblick auf das Beschwerdevorbringen auszuführen:

(1) Legt man zugrunde, was die GenStA in den Entwurf des Durchsuchungsbeschlusses (vgl. Ziff. II der Beschlussgründe) aufgenommen hat und was – unter anderem – von der Ermittlungsrichterin sodann geprüft und gebilligt worden ist, so stellt sich das tatsächliche Verdachtsmaterial zusammengefasst wie folgt dar:

Die B Krankenkasse berichtet in ihrer Anzeige vom 20. Dezember 2019, die Apotheke des Beschuldigten habe bei vier Patienten Arzneimittel gegen pulmonale arterielle Hypertonie abgerechnet, die jeweils nach dem Tod der Patienten verordnet worden seien. Die Arzneimittel in dreien dieser Fälle müssten mit einem Vernebler appliziert werden. Diese Hilfsmittel würden entsprechend einer Vereinbarung mit B von der X geliefert. Dazu habe X ein Patientenbetreuungsprogramm aufgesetzt, an dem Patienten teilnehmen können. Die notwendigen Arzneimittel selbst würden, über X organisiert, bundesweit von der Apotheke des Beschuldigten geliefert. Es müsse dazu eine Vereinbarung zwischen X und dem Beschuldigten bestehen, wie ein Schreiben von X belege, wonach „die Apotheke vereinbarungsgemäß in der Verantwortung [ist] … zu prüfen, ob der Patient lebt oder nicht.“

Die AOK R legte eine statistische Auswertung vor, in der sie die Abgaben von Arzneimitteln gegen pulmonale arterielle Hypertonie durch die Apotheke des Beschuldigten und durch alle anderen Apotheken zusammenstellte. Hieraus ergibt sich, dass der Beschuldigte insbesondere bei den Präparaten V., A. und G. einen sehr hohen Marktanteil habe (V.: fast 50 %, A.: ca. 14 %, G.: ca. 18 %, je bezogen auf die gesamte Abrechnungssumme des jeweiligen Medikaments). Die Behandlung mit den Arzneimitteln V. und A. solle von einem Arzt eingeleitet und überwacht werden. Dazu scheine es ein Patienten-Support-Programm und ein Rezeptmanagement zu geben. Ergänzend wies die AOK auf ein Urteil des VG Chemnitz vom 16. April 2019 (4 K 772/15) hin, wonach das Recht der freien Apothekenwahl durch eine Kooperationsvereinbarung zwischen dem Arzt und einer Apotheke auch im Rahmen der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung grundsätzlich nicht eingeschränkt werden dürfe.

Die T Krankenkasse hat mitgeteilt, ihren Versicherten seien im Zeitraum Januar 2018 bis November 2020 164 Packungen V. verordnet worden, davon 164 von Ärzten mit Praxissitz außerhalb von Bayern und 95 Packungen G., davon 81 von Ärzten mit Praxissitz außerhalb von Bayern (die Apotheke des Beschuldigten liegt in Bayern).

Im Schreiben der DRK-Kliniken E heißt es, es sei ein Rezept für eine im Zeitpunkt der Verordnung bereits verstorbene Patientin auf Anforderung der X nach Nürnberg zu X versandt worden. Ähnliches berichtet das Uniklinikum M. In der Stellungnahme gegenüber dem Uniklinikum teilt X mit, dass die Abgabe des Arzneimittels durch die Apotheke des Beschuldigten vereinbarungsgemäß erfolgt sei, nachdem die Mitteilung ihres Ablebens bei dem Klinikum, bei X oder beim Beschuldigten ausgeblieben sei. Der Mitteilung des Patientenangehörigen H kann entnommen werden, dass das Arzneimittel V. für seine zwischenzeitlich verstorbene Frau zuletzt am 26. Januar 2018 von einem Fahrer aus N angeliefert worden sei, obwohl die Rezepte bei der Apotheke des Beschuldigten eingelöst worden seien. Nach dem Tod seiner Frau, so H, habe er die übrig gebliebenen Arzneimittel der X zur Abholung angeboten, worauf X aber nicht reagiert habe.

(2) Die wertende Zusammenschau dessen ließ es jedenfalls als möglich erscheinen, dass es zwischen dem Beschuldigten, X und den behandelnden Ärzten Absprachen oder zumindest eine eingespielte Übung gegeben hat, die u.a. auch die Einlösung der verordneten Arzneimittel beim Beschuldigten beinhaltete. Es erschien dabei weiter möglich, dass die ausgestellten Rezepte einen Weg zum Beschuldigten gefunden haben, der quasi „über die Köpfe der Patienten“ führte, ihnen also die Auswahl der Apotheke also nicht eröffnet war, nicht zuletzt, weil X hier nicht als neutral eingestuft werden könnte (vgl. Rixen in Rixen/Krämer, ApoG, § 11 Rn. 36). Die erkennbaren Wege der Rezepte und die – bei Beschlusserlass im Detail nicht bekannten – Patienten-Support-Programme könnten Grundlage einer Umgehung der Patienten gewesen sein. Insgesamt lagen tatsächliche Anhaltspunkte vor, die eine verbotene Zuweisung von Verschreibungen möglich erscheinen ließen.

(3) Die Kammer hat unter Berufung auf obergerichtliche Rechtsprechung aus der Sozialgerichtsbarkeit und auf Literaturstimmen angenommen, dass bei einem Verstoß gegen § 11 Abs. 1 ApoG der Vergütungsanspruch des Apothekers entfalle und dass das Abrechnungsbegehren des Apothekers die konkludente Erklärung enthalte, nicht gegen diese Vorschrift verstoßen zu haben. Deshalb soll widrigenfalls eine betrugsrelevante Täuschung vorliegen (12 Qs 6/22, juris Rn. 12 m.N. auch zur a.A.; zweifelnd auch Wesser in Kieser/Wesser/Saalfrank, ApoG, 2017, § 11 Rn. 161). Das wurde mit dem Argument kritisiert, § 11 Abs. 1 ApoG sei keine in einem zwischen Krankenkassen und Apothekerverbänden geschlossenen Vertrag (§ 129 Abs. 2, 5 SGB V) enthaltene Vorschrift, sondern stelle eine Marktverhaltensregel dar (Cordes, medstra 2022, 268). Ferner handele es sich bei dieser Regelung, so die Beschwerde, um keine Abgabebestimmung; deren Verletzung lasse den gesetzlich entstandenen Vergütungsanspruch des Apothekers nicht entfallen.

Zutreffend ist an der Kritik jedenfalls, dass die Behauptung, ein Verstoß gegen § 11 Abs. 1 ApoG lasse den Vergütungsanspruch entfallen, über die vom Bundessozialgericht getroffene Abgrenzung hinausgeht, wonach die Entstehung des Vergütungsanspruchs des Apothekers unter der Bedingung der Abgabe in Gemäßheit mit den kollektivvertraglichen Bestimmungen steht. § 11 Abs. 1 ApoG ist – was auch die Kammer nicht übersehen hat – nicht Teil der kollektivvertraglichen Bestimmungen. Ob damit über die Täuschungsrelevanz eines (verschwiegenen) Verstoßes gegen § 11 Abs. 1 ApoG schon alles gesagt ist – das ist es ohnehin nicht, da eine höchstrichterliche Entscheidung hierzu fehlt –, muss im Rahmen einer Beschwerdeentscheidung gegen einen Durchsuchungsbeschluss nicht vertieft werden. Denn jedenfalls auf dem Boden bereits gesicherter höchstrichterlicher Rechtsprechung (BGH, Urteil vom 19. August 2020 – 5 StR 558/19, juris Rn. 63; nicht beanstandet vom BVerfG im Beschluss vom 5. Mai 2021 – 2 BvR 2023/20, juris) ist der Anfangsverdacht gegeben.

Der Bundesgerichtshof hat ausgesprochen, dass dem Abrechnungsbegehren eines Apothekers, der gegen § 7 Abs. 1 AVV verstoßen hatte, Täuschungscharakter im Sinne des Betrugstatbestandes zukommt, wenn er die von § 7 Abs. 1 AVV untersagte Kooperation nicht zugleich offenlegt. Bei § 7 Abs. 1 AVV (i.d.F. vom 1. April 2016, nunmehr § 18 AVV i.d.F. vom 1. März 2021) handelt es sich um eine kollektivvertragliche Regelung. Deren Voraussetzungen – verstanden im Sinne des Anfangsverdachts im Zeitpunkt der Prüfung durch den Ermittlungsrichter – lagen vor.

§ 7 Abs. 1 AVV bestimmt – unter der Überschrift „Allgemeine Zusammenarbeit“ –, dass die Versicherten weder von den Apotheken zulasten der Ersatzkassen, noch von den Ersatzkassen zugunsten bestimmter Apotheken beeinflusst werden dürfen. Das gilt auch für die Zuweisung von Verordnungen an einzelne Apotheken.

Das bei Beschlusserlass vorliegende Tatsachenmaterial ließ es ebenfalls als möglich erscheinen, dass Verstöße gegen das in der genannten Vorschrift statuierte Verbot von Kooperationen und Zuweisungen erfolgt sein könnten. Dies hätte dann die vom Bundesgerichtshof bereits festgestellte Folge für den Betrugstatbestand. Eine abweichende rechtliche Beurteilung – der Durchsuchungsbeschluss zitiert allein § 11 Abs. 1 ApoG, nicht § 7 AVV, wobei § 7 AVV aber im Zuleitungsvermerk der GenStA vom 4. März 2021 diskutiert wurde – durch das Beschwerdegericht ist möglich, solange diese an die dem Ermittlungsrichter damals bekannten tatsächlichen Umstände anknüpft (Tsambikakis in Löwe/Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 105 Rn. 132; Köhler in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 105 Rn. 15a, je m.w.N.), zumal es hier nur um eine inzident zu prüfende Norm geht, der Tatvorwurf des Betrugs aber derselbe bleibt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. September 2006 – 2 BvR 1219/05, juris Rn. 19).

ee) Soweit die Beschwerde meint, der Strafverfolgung stünde entgegen, dass die anzeigeerstattenden Krankenkassen eine gewisse Zeit lang nichts unternahmen, obwohl sie möglicherweise Verdacht wegen verbotener Zuweisungen von Verordnungen hegten und obwohl sie die normvertraglich zwingend vorgesehenen Retaxverfahren nicht durchgeführt haben, so beruht das nach Auffassung der Kammer auf einem Fehlverständnis des Strafrechts und der Kompetenzen der Ermittlungsbehörden. Es mag sein, dass man im weiteren Verfahrensfortgang die Frage näher erörtern muss, ob aufseiten der Krankenkassen ein Irrtum vorlag (wobei ein Zweifel oder ein Verdacht den Irrtum nicht ausschlösse, vgl. BGH, Urteil vom 5. Dezember 2002 – 3 StR 161/02, juris Rn. 10 ff.). Dass Apotheker und Krankenkasse aufgrund der zwischen ihnen geltenden Bestimmungen im Übrigen verpflichtet sind, etwaige Streitigkeiten über die Berechtigung einer Abrechnung in den dort geregelten Bahnen auszutragen, nimmt den Ermittlungsbehörden aber nichts von ihren gesetzlichen Befugnissen, einem Anfangsverdacht mit den Mitteln der Strafprozessordnung nachzugehen. Eine „unzulässige Selbstermächtigung“ liegt darin nicht.

ff) Ob im Weiteren auch noch der Anfangsverdacht wegen zwei Verstößen gegen § 96 Nr. 13 AMG vorliegt, kann dahinstehen, denn dessen etwaiges Fehlen würde Bestand und Umfang des Durchsuchungsbeschlusses oder die Kostenfolge nicht berühren.

2. Die weiteren Anträge der Beschwerde sind unzulässig.

a) Soweit die Beschwerde darauf anträgt, den Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 4. Januar 2022 vollständig wie auch den Beschluss der Kammer vom 10. März 2022 (12 Qs 6/22) insoweit aufzuheben, als die Kammer die dagegen gerichtete Beschwerde als unbegründet verworfen hat, so ist die Beschwerde unstatthaft. Gegen den Beschluss der Kammer ist ein weiteres Rechtsmittel nicht gegeben (§ 310 Abs. 2 StPO), weil keiner der Fälle vorliegt, in denen die weitere Beschwerde zum Oberlandesgericht eröffnet wäre (§ 310 Abs. 1 StPO). Über den Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 4. Januar 2022 hat die Kammer in ihrem Beschluss vom 10. März 2022 entschieden.

b) Unzulässig ist auch der Antrag, die GenStA anzuweisen, sämtliche bei der Durchsuchung sichergestellten Gegenstände, Unterlagen und sonstige Asservate herauszugeben und gesicherte Daten zu löschen. Dieses Herausgabebegehren ist zwischenzeitlich unstatthaft geworden.

Ist – wie hier mit der Entscheidung des Amtsgerichts Nürnberg vom 4. Januar 2022 – eine richterliche Bestätigung der vorläufigen Sicherstellung zum Zwecke der Durchsicht nach § 98 Abs. 2 Satz 1 StPO analog ergangen, so ist allein diese beschwerdefähig (BGH, Beschluss vom 18. Mai 2022 – StB 17/22, juris Rn. 10).

Die Mitnahme sichergestellter Unterlagen zur Durchsicht ist noch Teil der fortdauernden Durchsuchung (BVerfG, Beschluss vom 30. November 2021 – 2 BvR 2038/18, juris Rn. 44 m.w.N.). Betroffene können die Sicherstellung deshalb grundsätzlich mit der Beschwerde gegen die Durchsuchungsanordnung angreifen – wird sie aufgehoben (wie hier nicht), entzieht dies der vorläufigen Sicherstellung regelmäßig die Grundlage – oder analog § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO eine erstinstanzliche Entscheidung herbeiführen (BGH, Beschluss vom 20. Mai 2021 – StB 21/21, juris Rn. 9 m.w.N.). Hier hat das Amtsgericht Nürnberg am 4. Januar 2022 auf Antrag der GenStA in entsprechender Anwendung von § 98 Abs. 2 Satz 1, 2 StPO bereits über die vorläufige Sicherstellung zum Zweck der Durchsicht entschieden. Damit hat es einen nach § 304 Abs. 1 StPO beschwerdefähigen Beschluss gefasst. Der dagegen vorgesehene Rechtsschutz geht der Beschwerde gegen den Durchsuchungsbeschluss vor. Denn der nach § 98 Abs. 1 StPO zuständige Richter ist regelmäßig sachverhaltsnäher als das Beschwerdegericht. Seine Entscheidung ist zudem aktueller; sie kann auch tatsächliche Entwicklungen nach Erlass des Durchsuchungsbeschlusses berücksichtigen. Dies entspricht zudem der Rechtslage im Haftrecht, wo der Beschuldigte nur die jeweils letzte Haftentscheidung anfechten kann (BGH, Beschluss vom 18. Mai 2022 – StB 17/22, juris Rn. 12). Die (erneute) Anfechtung der Bestätigung ist allerdings ausgeschlossen, weil die Kammer die dagegen gerichtete Beschwerde des Beschuldigten schon verbeschieden hat (Beschluss vom 10. März 2022 – 12 Qs 6/22, juris), womit auch der Rechtsmittelzug sein Ende gefunden hat.

III.

Die Kostenfolge beruht auf § 473 Abs. 1 StPO. Über die Kostentragung im Beschwerdeverfahren 12 Qs 6/22 hat die Kammer bereits entschieden. Für die beantragte Überwälzung der dortigen Kosten auf die Staatskasse im Rahmen des hiesigen Verfahrens und für die begehrte Feststellung, es seien die Mehrkosten eines Fachanwalts für Medizinrecht zu ersetzen, fehlt es an einer Grundlage.

 

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