LG Aachen – Az.: 71 Ns – 607 Js 784/08 – 146/11 – Urteil vom 09.12.2011
Die Berufung der Staatsanwaltschaft Aachen gegen das Urteil des Amtsgerichts Jülich vom 21. Oktober 2009 – 3 Cs 606/08 – wird auf Kosten der Staatskasse verworfen.
Gründe
I.
Mit Strafbefehlsantrag vom 17. Februar 2009 legte die Staatsanwaltschaft Aachen dem Angeklagten zur Last, am 19. April 2008 in T eine Unfallflucht (§ 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB) begangen zu haben.
Mit Urteil vom 21. Oktober 2009 sprach das Amtsgericht Jülich – 3 Cs 606/08 – den Angeklagten von dem Vorwurf der Unfallflucht frei. Es argumentierte dahin, dass es sich bei dem Schadensereignis um keinen Unfall im Straßenverkehr im Sinne von § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB gehandelt habe. Hiergegen legte die Staatsanwaltschaft Aachen am 23. Oktober 2009 Berufung ein. Die Berufungshauptverhandlung fand am 07. Februar 2011 vor der 3. kleinen Strafkammer des Landgerichts Aachen – 73 Ns 205/09 – statt. Die 3. kleine Strafkammer verwarf die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Amtsgerichts Jülich vom 21. Oktober 2009. Auch die Kammer vertrat die Ansicht, dass das Schadensereignis keinen „Unfall im Straßenverkehr“ im Sinne des § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB darstelle. Hiergegen legte die Staatsanwaltschaft mit Schriftsatz vom 11. Februar 2011 Revision ein. Am 19. Juli 2011 hob der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Köln – 83 Ss 43/11 – das Urteil der 3. kleinen Strafkammer des Landgerichts Aachen vom 07. Februar 2011 auf und verwies die Sache zur Neuverhandlung an eine andere Strafkammer zurück. Der Senat vertrat im Gegensatz zu den Vorinstanzen die Ansicht, dass es sich bei dem Schadensereignis doch um einen „Unfall im Straßenverkehr“ im Sinne von § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB gehandelt hat. In der jetzt durchgeführten Berufungshauptverhandlung hat sich der erstinstanzlich ausgesprochene Freispruch, wenn auch aus anderen Gründen, als zutreffend erwiesen. Die Berufung der Staatsanwaltschaft blieb deshalb letztlich erfolglos.
II.
…
III.
Am 19. April 2008 war der Angeklagte mit seinem LKW XX als Schrotthändler unterwegs, um Schrott einzusammeln, welchen er dann verwerten konnte. So fuhr er an jenem Tag auch durch die Gemeinde T. Insofern befuhr er gegen 13.20 Uhr den A-Weg.
Das Hausgrundstück A-Weg 1 stand damals im Eigentum der mittlerweile verstorbenen Frau M. Am 19. April 2008 waren der Sohn der Frau M sowie ein Bekannter der Familie, der Zeuge W, damit beschäftigt, das Wohngebäude zu entrümpeln. Sie hatten bereits diverse Gegenstände auf den Bürgersteig des A- Wegs gestellt. Als gegen 13.20 Uhr der Angeklagte mit seinem Schrotthändlerfahrzeug vorbeikam, hielt er dieses an und stellte es ab. Er begann damit, den auf dem Bürgersteig abgestellten Schrott auf seinen Schrotthändler-LKW zu werfen. Dabei warf er eines der entsprechend abgestellten Blechteile zu niedrig, so dass es nicht die Ladefläche des LKW erreichte, sondern vom Fahrzeuggehäuse abprallte, von dort gegen die A-Säule des auf dem Vorplatz des Hauses A-Weg 1 geparkten PKW der Frau M flog und die Karosserie dieses Fahrzeugs beschädigte. Es entstand ein Sachschaden an dem PKW in Höhe von ca. 1.890,00 Euro. Der Angeklagte bemerkte sein Missgeschick und fürchtete, der Fahrzeughalterin Schadensersatz leisten zu müssen. Er entschloss sich daher dazu, vom A-Weg wegzufahren, um nicht als Schädiger identifiziert zu werden. Dem anwesenden Zeugen W erklärte er, er müsse kurz wegfahren und komme in einigen Minuten wieder. Tatsächlich kehrte er jedoch, wie von ihm beabsichtigt, nicht zum Ort des Geschehens zurück.
Dem Angeklagten als langjährigem Berufskraftfahrer – Schrotthändler – ist der Tatbestand des § 142 StGB bekannt. Er ging allerdings – in seiner Wertung in der Laiensphäre – nicht davon aus, dass es sich bei seinem „Fehlwurf“ um ein solches Ereignis handelte, welches mit einer entsprechenden Wartepflicht belegt ist. Allerdings hoffte er darauf, durch sein zügiges Verlassen des Geschehensortes, ohne sich dadurch strafbar zu machen, den angefallenen zivilrechtlichen Schadensersatzansprüchen entgehen zu können. Im nachfolgenden Zivilprozess vor dem Amtsgericht Jülich, welcher von der Fahrzeughalterin M als Klägerin angestrengt worden ist, bestritt er dann auch, für den Fahrzeugschaden an dem klägerischen PKW vom 19. April 2008 verantwortlich zu sein. Das Amtsgericht Jülich glaubte ihm nicht und verurteilte ihn am 15. April 2009 – 9 C 442/08 – antragsgemäß zur Zahlung von 1.897,40 Euro Schadensersatz zuzüglich Nebenkosten an Frau M. Das Zivilurteil wurde rechtskräftig.
IV.
Die vorstehenden Feststellungen beruhen in erster Linie auf der Einlassung des Angeklagten. Ergänzend kommen die glaubhaften Bekundungen des auch persönlich glaubwürdigen Zeugen W hinzu. Der Angeklagte hat das Schadensereignis, wie es vorstehend beschrieben worden ist, uneingeschränkt eingeräumt. Damit deckt sich seine Einlassung mit den Bekundungen des Zeugen W. Die Feststellungen zum Schadensbild beruhen auf den ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls durch Verlesen zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemachten Urkunden.
Die Feststellungen zur subjektiven Tatseite beruhen ebenfalls auf der Einlassung des Angeklagten, welche nicht zu widerlegen war. Der Angeklagte hat erklärt, er habe deshalb den Schadensort so schnell verlassen, weil er der geschädigten Fahrzeughalterin keinen Schadensersatz habe leisten wollen. Deswegen habe er gegenüber dem Zeugen W den Vorwand gewählt, er müsse kurz weg und werde in wenigen Minuten wiederkommen. Tatsächlich habe er zu keinem Zeitpunkt beabsichtigt, zum Schadensort zurückzukehren, um nicht als zum Schadensersatz verpflichteter Schädiger identifiziert zu werden. Er sei zu keinem Zeitpunkt auf den Gedanken gekommen, dass es sich bei seinem „Fehlwurf“ um ein solches Ereignis gehandelt habe, welches dem ihm als langjährigem Berufskraftfahrer – Schrotthändler – selbstverständlich bekannten Unfallfluchttatbestand unterliegt. Denn er habe ja lediglich Schrott auf seinen abgestellten Lkw geworfen.
Die vorstehende Einlassung des Angeklagten konnte nicht widerlegt werden. Es ist vielmehr nachvollziehbar, wenn der Angeklagte erklärt hat, er sei nicht auf den Gedanken gekommen, dass es sich bei seinem „Fehlwurf“ um einen Unfall im Straßenverkehr im Sinne des § 142 Abs. 1 StGB gehandelt habe. Denn dieselbe Rechtsauffassung ist auch vom Amtsgericht Jülich in der ersten Instanz durch den damals erkennenden Richter vertreten worden. Auch die 3. kleine Strafkammer des Landgerichts Aachen hat in ihrem Berufungsurteil vom 07. Februar 2011 darauf erkannt, dass es sich bei dem Schadensereignis um keinen Unfall im Sinne des § 142 Abs. 1 StGB gehandelt habe. Schließlich vertritt auch der Juraprofessor Dr. Bernd Hecker, Ordinarius für Strafrecht an der Universität Trier, in einer Anmerkung zu der Revisionsentscheidung des Oberlandesgerichts Köln die Auffassung, dass der Senat mit seiner Auslegung den Begriff des „Unfall im Straßenverkehr“ im Sinne von § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB „überdehnt“ habe (Hecker JuS 2011, 1038).
Für die Kammer ist die Auslegung des § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB durch das Oberlandesgericht Köln in der Revisionsentscheidung vom 19. Juli 2011 verbindlich. Die vorstehenden Ausführungen zeigen aber, dass von renommierten Strafjuristen durchaus gegenteilige Auffassungen vertreten werden. Auf diesem Hintergrund erachtet es die Kammer als nachvollziehbar, wenn auch der Angeklagte als erfahrener Berufskraftfahrer nicht davon ausging, dass es sich – in der Laiensphäre gewertet – bei seinem „Fehlwurf“ um einen „Unfall im Straßenverkehr“ im Sinne des § 142 StGB gehandelt hat. Es war, wie aufgezeigt, keineswegs abwegig, wenn der Angeklagte gar nicht darauf kam, darüber nachzudenken, ob hier der Tatbestand des § 142 Abs. 1 StGB verwirklicht sein könnte.
V.
Nach den vorstehenden Feststellungen hat sich der Angeklagte nicht der Unfallflucht im Sinne von § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB strafbar gemacht. Zwar hat er objektiv den entsprechenden Tatbestand verwirklicht. Es fehlt jedoch am Tatvorsatz. Der Angeklagte befand sich vielmehr im Tatbestandsirrtum im Sinne des § 16 StGB, denn er irrte im konkreten Fall über das Vorliegen des ihm in der Laiensphäre bekannten Tatbestandsmerkmals „Unfall im Straßenverkehr“. Da der Angeklagte eine korrekte Vorstellung vom Inhalt des § 142 StGB hatte, aber im Einzelfall über dessen konkrete Anwendung irrte, liegt kein Verbotsirrtum im Sinne von § 17 StGB, sondern ein Tatbestandsirrtum im Sinne von § 16 StGB vor. Es ist nämlich genauso in der Rechtsprechung anerkannt, dass ein Tatbestandsirrtum dann gegeben ist, wenn ein Angeklagter irrigerweise davon ausgeht, dass gar kein „Unfall im Straßenverkehr“ vorliegt, weil er fälschlicherweise davon überzeugt ist, dass kein oder nur ein sehr geringer Schaden entstanden sei (vgl. die zahlreichen Nachweise bei Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl. 2010, § 142, Rdnr. 73 sowie bei Fischer, StGB, 58. Aufl. 2011, § 142 Rdnr. 38 ff.). Hier irrt der Angeklagte in vergleichbarer Art und Weise darüber, dass sich das Schadensereignis „im Straßenverkehr“ abgespielt hat: Der Angeklagte wusste, dass er nach einem Unfall im Straßenverkehr wartepflichtig ist; er verkannte aber im konkreten Fall, dass es sich um einen solchen Unfall im Straßenverkehr handelte.
Deshalb wäre nach § 16 Abs. 1 Satz 2 StGB allenfalls ein fahrlässiges Fehlverhalten des Angeklagten strafbar. Die fahrlässige Unfallflucht ist jedoch nach dem StGB keine pönalisierte Straftat. Deshalb war der Angeklagte nunmehr aus subjektiven Gründen freizusprechen.
VI.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 467 Abs. 1, 473 Abs. 1 StPO.