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Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe – Begründung

KG Berlin – Az.: (5) 161 Ss 44/17 (28/17) – Beschluss vom 22.05.2017

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 7. Dezember 2016 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision – an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Amtsgericht Tiergarten hat gegen den Angeklagten wegen Diebstahls (von Lebensmitteln und Getränken zu einem Verkaufspreis von insgesamt 9,58 Euro) eine Freiheitsstrafe von einem Jahr verhängt. Auf die Berufung des Angeklagten, die dieser in der Berufungshauptverhandlung mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt hat, hat das Landgericht Berlin das angefochtene Urteil dahin abgeändert, dass der Angeklagte zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt wurde. Die Revision des Angeklagten hat mit der allein erhobenen Sachrüge Erfolg.

1. Das Landgericht ist zutreffend von einer wirksamen Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch ausgegangen, was der Senat auf die allgemeine Sachrüge von Amts wegen zu prüfen hatte.

2. Jedoch kann die auf der Grundlage der bindend gewordenen Feststellungen des amtsgerichtlichen Urteils getroffene Rechtsfolgenentscheidung des Landgerichts keinen Bestand haben, da die Begründung der Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe an einem Erörterungsmangel leidet.

a) Grundsätzlich ist die Strafzumessung Sache des Tatrichters und eine ins Einzelne gehende Richtigkeitskontrolle durch das Revisionsgericht ausgeschlossen. Die Nachprüfung hat sich allerdings darauf zu erstrecken, ob der Tatrichter bei der Zumessung der Strafe von unrichtigen oder unvollständigen Erwägungen ausgegangen ist oder sonst von seinem Ermessen in rechtsfehlerhafter Weise Gebrauch gemacht hat. In dem tatrichterlichen Urteil müssen daher nach § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO die für die Bemessung der Strafe wesentlichen Umstände so vollständig wiedergegeben sein, dass es möglich ist, das dabei ausgeübte Ermessen auf Rechtsfehler zu überprüfen (zum Ganzen vgl. BGHSt 34, 345; eingehend KG, Beschluss vom 9. Dezember 2014 − [4] 161 Ss 205/14 [253/14] − m.w.N.; KG, Beschluss vom 4. November 2008 − [4] 1 Ss 375/08 [249/08] − juris).

Die dargelegten Grundsätze zur Kontrolldichte gelten auch bei der Frage, ob die Voraussetzungen für die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe nach § 47 Abs. 1 StGB gegeben sind (vgl. Maier in Münchener Kommentar, StGB 3. Aufl., § 47 Rdn. 61). Das Revisionsgericht hat auf die Sachrüge zu prüfen, ob der Tatrichter maßgebliche Begriffe des materiellen Rechts – insbesondere die Begriffe der Unerlässlichkeit und der besonderen Umstände – verkannt hat, von unvollständigen, widersprüchlichen oder unrichtigen Erwägungen ausgegangen ist oder die Grenzen des ihm eingeräumten Beurteilungsspielraums sonst wie überschritten hat (vgl. OLG Nürnberg OLGSt StGB § 47 Nr.10 – juris Rdn. 12; Dahs, Die Revision im Strafprozess 8. Aufl., Rdn. 477). Die Urteilsgründe müssen erkennen lassen, dass das Gericht einen zutreffenden rechtlichen Maßstab zugrunde gelegt hat (vgl. BGH StraFo 2010, 500 − juris; OLG Dresden StV 2016, 649 − juris Rdn. 19) und sich des verfassungsrechtlichen Übermaßverbotes bewusst gewesen ist (vgl. KG StV 2007, 35 − juris Rdn. 5; Maier, a.a.O., § 47 Rdn. 58).

aa) Nach § 47 Abs. 1 StGB darf eine Freiheitsstrafe unter sechs Monaten nur verhängt werden, wenn besondere Umstände, die in der Tat oder der Persönlichkeit des Täters liegen, die Verhängung einer Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Täter

oder zur Verteidigung der Rechtsordnung unerlässlich machen.

Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe - Begründung
(Symbolfoto: Von LightField Studios/Shutterstock.com)

Unerlässlichkeit bedeutet mehr als Gebotenheit (vgl. BGH a.a.O.; OLG Dresden a.a.O. − juris Rdn. 21). Nach den § 47 StGB zugrunde liegenden kriminalpolitischen Vorstellungen des Gesetzgebers soll die Verhängung kurzfristiger Freiheitsstrafen weitestgehend zurückgedrängt werden und nur noch ausnahmsweise unter ganz besonderen Umständen und als letztes Mittel in Betracht kommen. Dem gesetzgeberischen Gebot ist dadurch Rechnung zu tragen, dass von dieser Ahndungsmöglichkeit äußerst zurückhaltend Gebrauch gemacht wird (vgl. BGHR StGB § 47 Abs. 1 Umstände 7 – juris; HansOLG Hamburg StV 2000, 353 – juris Rdn. 12; KG a.a.O. – juris Rdn. 2). Die Freiheitsstrafe darf nur dann ausgesprochen werden, wenn nicht auf sie verzichtet werden kann, weil der Angeklagte durch eine Geldstrafe nicht nachhaltig zu beeindrucken ist oder weil die zu wahrende Rechtsordnung dies fordert (vgl. OLG Naumburg OLGSt StGB § 47 Nr. 15 – juris Rdn. 19). Das Vorliegen der Ausnahmevoraussetzungen des § 47 Abs. 1 StGB darf dabei nicht schematisch aus einschlägigen Vorstrafen geschlossen werden, sondern ist nach den besonderen Umständen des Einzelfalles festzustellen, wobei die Anzahl, das Gewicht und der zeitliche Abstand der Vorstrafen, die Umstände der Tat und deren Schuldgehalt sowie die Lebensverhältnisse des Täters zu berücksichtigen sind (vgl. OLG Dresden a.a.O. − juris Rdn. 22 f.; OLG Frankfurt am Main StV 1995, 27, 28; KG, Beschluss vom 4. November 2008 – [4] 1 Ss 375/08 [249/08] – juris; Maier, a.a.O., § 47 Rdn.58). Dabei muss beachtet werden, ob der abzuurteilenden Tat Vorbelastungen aufgrund gleicher oder ähnlicher Taten vorangegangen sind oder ob kein Zusammenhang zu etwaigen früheren Straftaten besteht (vgl. OLG Dresden NStZ-RR 2015, 10 − juris Rdn. 19; KG, Beschluss vom 31. Juli 2007 − [3] 1 Ss 178/07 [59/07] −).

Darüber hinaus ist − wie im gesamten Bereich der Strafzumessung − das verfassungsrechtliche Gebot der Verhältnismäßigkeit von Tat und Rechtsfolge zu beachten (vgl. KG StV 2007, 35 − juris Rdn. 3 f.). Die Unverzichtbarkeit einer Freiheitsstrafe liegt umso ferner, je geringfügiger die konkrete Tatschuld ist (vgl. OLG Naumburg a.a.O.; Maier, a.a.O., § 47 Rdn. 47; Stree/Kinzig in Schönke/Schröder, StGB 29. Aufl., § 47 Rdn. 10 m.w.N.). Allerdings steht der Bagatellcharakter einer Tat der Verhängung einer Freiheitsstrafe nicht ausnahmslos entgegen; vielmehr kann auch bei geringfügigen Delikten die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe etwa dann mit den Grundsätzen des § 47 Abs. 1 StGB vereinbar sein, wenn die Taten aus prinzipiell rechtsfeindlicher Gesinnung begangen wurden oder Umstände festgestellt sind, die ausweisen, dass Geldstrafen auf den Täter keine Wirkung entfalten (vgl. OLG München, Beschluss vom 23. Juli 2009 – 5St RR 180/09 – juris; HansOLG Hamburg StV 2007, 305 – juris Rdn. 15 [besonders hohes Handlungsunrecht]; KG a.a.O. und Beschluss vom 4. November 2008 – [4] 1 Ss 375/08 [249/08] – juris; ferner eingehend OLG Nürnberg a.a.O. − juris Rdn. 16 ff.).

bb) Die Sanktionsentscheidung nach § 47 Abs. 1 StGB bedarf − dem Ausnahmecharakter der Norm entsprechend − einer besonderen und eingehenden Begründung (vgl. OLG Naumburg a.a.O.; StraFo 2012, 285 – juris Rdn. 9; Beschluss vom 13. August 2015 – 2 Rv 94/15 – juris Rdn. 6; KG StV 2007, 35 – juris Rdn. 5). Dabei deckt sich der Umfang des formellen Begründungszwangs nach § 267 Abs. 3 Satz 2 StPO mit den strengen Anforderungen, die das materielle Recht an die Darlegung der Unerlässlichkeit einer kurzfristigen Freiheitsstrafe stellt (vgl. Stuckenberg in Löwe/Rosenberg, StPO 26. Aufl., § 267 Rdn. 106).

Aus den Urteilsgründen muss nachvollziehbar hervorgehen, dass sich die Sanktion bei Gesamtwürdigung der die Tat und den Täter kennzeichnenden Umstände als unverzichtbar erweist (vgl. BGH StV 2003, 485 – juris Rdn. 8; Maier, a.a.O., § 47 Rdn. 57). Erforderlich ist die umfassende Feststellung und erschöpfende Würdigung aller tat- und täterbezogenen Umstände, die unter Beachtung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses für und gegen die Unverzichtbarkeit einer freiheitsentziehenden Einwirkung sprechen (vgl. BGHR StGB § 47 Abs. 1 Umstände 7 – juris; OLG Naumburg StraFo 2012, 285 – juris Rdn. 9; Beschluss vom 13. August 2015 – 2 Rv 94/15 – juris Rdn. 6; HansOLG Hamburg StV 2000, 353 – juris Rdn. 12; KG a.a.O. − juris Rdn. 3; Theune in Leipziger Kommentar, StGB 12. Aufl., § 47 Rdn. 8; Maier, a.a.O., § 47 Rdn. 58). Es ist anhand konkreter Tatsachen in gründlicher Würdigung der Persönlichkeit, der Taten und ihrer Hintergründe, der Einstellung des Angeklagten sowie der den einschlägigen Vorstrafen zugrunde liegenden Taten darzustellen, warum jedes andere zulässige Reaktionsmittel keine Einwirkung auf den Angeklagten gewährleistet (vgl. BayObLG NStZ-RR 2003, 275, 276; OLG Nürnberg OLGSt StGB § 47 Nr.10 – juris Rdn. 14) oder die Wahrung der Rechtsordnung unbedingt die Freiheitsstrafe fordert (vgl. OLG Naumburg OLGSt StGB § 47 Nr. 15 – juris Rdn. 19 – m.w.N.). Dies gilt umso mehr, wenn die Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wird (vgl. BGHR StGB § 47 Abs. 1 Umstände 1 − juris; HansOLG Hamburg a.a.O.). Die Begründung muss auch erkennen lassen, dass das Gericht sich der Bedeutung des verfassungsrechtlichen Übermaßverbotes bewusst gewesen ist und die besondere Härte der kurzen Freiheitsstrafe im Vergleich zur Geldstrafe in seine Erwägungen einbezogen hat (vgl. KG a.a.O. – juris Rdn. 5).

b) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe kann das angegriffene Urteil keinen Bestand haben. Die Strafzumessungserwägungen sind lückenhaft.

Die Kammer hat zwar ausgeführt, dass sie sich des gesetzgeberischen Gebotes, von der Ahndungsmöglichkeit nach § 47 Abs. 1 StGB äußerst zurückhaltend Gebrauch zu machen, und der hierauf beruhenden obergerichtlichen Rechtsprechung bewusst gewesen sei, und die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe trotz des Bagatellcharakters der Tat mit dem auch in dieser zutage getretenen „eingeschliffenen rechtsfeindlichen Verhalten“ begründet, was − wie dargelegt − grundsätzlich nicht zu beanstanden ist. Die Annahme einer prinzipiell rechtsfeindlichen Gesinnung ist jedoch ebenso wenig tragfähig begründet wie die sonstigen Voraussetzungen des § 47 Abs. 1 StGB; denn die Urteilsgründe lassen die erforderliche umfassende Feststellung und erschöpfende Würdigung aller tat- und täterbezogenen Umstände vermissen.

aa) Die Feststellungen zu einer möglichen Alkoholisierung des Angeklagten und zur Bedeutung seiner Suchtproblematik für die Begehung der verfahrensgegenständlichen Tat sowie früherer (einschlägiger) Delikte erweisen sich als lückenhaft.

In den Strafzumessungserwägungen wird ausgeführt, für eine alkoholbedingte erhebliche Einschränkung der Schuldfähigkeit hätten sich keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte ergeben; der erstmals in der Berufungshauptverhandlung erwähnte pauschale Hinweis auf „Alkoholkonsum zur Tatzeit“, der weder in der polizeilichen Anzeige noch in der Sachverhaltsdarstellung des Tatzeugen Niederschlag gefunden habe, habe mangels konkreter Anknüpfungspunkte für eine mögliche Schuldunfähigkeit die Kammer nicht veranlasst, von Amts wegen „eine Begutachtung des Angeklagten durch einen Blutalkoholsachverständigen nachzuholen“. Damit lässt die Kammer offen, ob sie überhaupt von einer − die Schwelle des § 21 StGB nicht erreichenden, aufgrund der eintretenden Enthemmung aber möglicherweise als allgemeiner Strafmilderungsgrund zu berücksichtigenden (vgl. Fischer, StGB 64. Aufl., § 46 Rdn. 32) − Alkoholisierung des Angeklagten zur Tatzeit ausgeht oder dessen Angaben zu einem (gemeint offenbar: der Tatbegehung vorangegangenen) Alkoholkonsum insgesamt für unglaubhaft erachtet, was in Anbetracht der von der Kammer festgestellten „langjährigen Alkohol- und Drogenproblematik“ des Angeklagten allerdings näherer Darlegung bedurft hätte.

Gänzlich unklar bleibt auch, ob das Suchtproblem, das ausweislich der Feststellungen die Verschuldung und den „erheblichen sozialen Abstieg“ des Angeklagten zur Folge hatte, tatursächlich war oder gar die maßgebliche Ursache für den verfahrensgegenständlichen Diebstahl darstellt. Ebenso wenig wird ausgeführt, welche Bedeutung die Alkohol- und Drogensucht für die vorangegangenen Straftaten hatte, bei denen es sich überwiegend ebenfalls um Diebstahlsdelikte handelt. Entsprechende Darlegungen wären indes erforderlich gewesen, um dem Senat die Nachprüfung zu ermöglichen, ob die vorliegende Tat Ausdruck einer rechtsfeindlichen Gesinnung oder (ebenso wie möglicherweise bereits frühere Straftaten) primär seiner Alkohol- und Drogensucht geschuldet ist (vgl. [zur grundsätzlich unterschiedlichen Bewertung von suchtbedingten und nicht suchtbedingten Wiederholungstaten] OLG Frankfurt am Main StV 1995, 27, 29), die den Feststellungen zufolge bislang auch durch Therapien nicht im Sinne einer dauerhaften Abstinenz beeinflusst werden konnte.

bb) Soweit die Kammer die mangelnde Beeindruckbarkeit des Angeklagten durch Geldstrafen daraus herleitet, dass sich dieser „bereits in acht Fällen wegen einschlägiger Delikte verantworten musste und durch die Verhängung früherer Freiheitsstrafen bereits hätte vorgewarnt sein müssen“, beruht diese Annahme nicht auf einer nachvollziehbaren Tatsachengrundlage. Die Feststellungen zu den Vorbelastungen sind lückenhaft.

Einer bereits am 30. März 1998 ausgesprochenen Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe kommt erkennbar keine nennenswerte Bedeutung für die Annahme der Unerlässlichkeit einer kurzen Freiheitsstrafe im hiesigen Verfahren zu, zumal die Strafe nach Ablauf der Bewährungszeit erlassen werden konnte. Zu dem Urteil vom 11. August 2011, mit dem wegen Diebstahls (geringwertiger Sachen) in drei Fällen, Erschleichens von Leistungen in drei Fällen und versuchter Nötigung eine Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung verhängt wurde, fehlt es an aussagekräftigen Feststellungen. Die Kammer teilt − mit Ausnahme des Datums der letzten Tat − weder die Tatzeiten noch die Umstände der Taten und die damaligen Lebensverhältnisse des Angeklagten mit. Zu den beiden nachfolgenden Verurteilungen wird nur ausgeführt, dass das Amtsgericht Tiergarten gegen den Angeklagten am 14. November 2013, rechtskräftig seit dem 22. November 2013, wegen Diebstahls (geringwertiger Sachen) in zwei Fällen (Tatzeit zuletzt: 26. März 2013) eine Gesamtgeldstrafe von 90 Tagessätzen und am 2. Dezember 2014, rechtskräftig seit dem 19. Juni 2015, wegen eines am 28. Juli 2014 begangenen Diebstahls (geringwertiger Sachen) eine Freiheitsstrafe von zwei Monaten verhängte, die dieser vom 26. Oktober bis zum 25. Dezember 2015 verbüßte. Der Zeitpunkt, zu dem der erste der Verurteilung vom 14. November 2013 zugrunde liegende Diebstahl begangen wurde, wird ebenso wenig dargelegt wie die näheren Umstände und der Hintergrund der drei Diebstahlsdelikte. Die Mitteilung der näheren Umstände der Vortaten war auch nicht ausnahmsweise entbehrlich, da es auf diese bei der Bejahung der Ausnahmevoraussetzungen des § 47 StGB entscheidend ankam (dazu vgl. OLG Frankfurt am Main a.a.O.; OLG Karlsruhe StV 2005, 275 – juris Rdn. 5 f.).

Soweit die Kammer zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt hat, dass dieser wegen der mit Urteil vom 11. August 2011 ausgesprochenen Bewährungsstrafe und des nachfolgenden zweimaligen Bewährungsversagens in den Jahren 2013 und 2014 (gemeint offenbar: in Gestalt neuer Straftaten) noch mit dem Widerruf der Strafaussetzung und einer anschließenden Strafvollstreckung habe rechnen müssen, wird dies durch die getroffenen Feststellungen nicht nachvollziehbar belegt. Zu der Verurteilung vom 11. August 2011 teilt die Kammer zwar − neben dem Eintritt der Rechtskraft am 19. August 2011 − mit, dass eine Bewährungszeit von zwei Jahren festgesetzt, die Strafaussetzung nach der fruchtlosen Verlängerung der Bewährungszeit widerrufen und die Strafe vom 26. Dezember 2015 bis zum 6. August 2016 vollstreckt worden ist. Aus den Urteilsgründen ergibt sich jedoch nicht, wann, aus welchem Grund und bis zu welchem Zeitpunkt die Bewährungszeit verlängert wurde. Ebenso wenig ist ersichtlich, wann und aus welchem Grund die Strafaussetzung schließlich widerrufen wurde. Es ist daher schon nicht nachvollziehbar, ob die Tat vom 28. Juli 2014 in die (verlängerte) Bewährungszeit fällt und damit – neben der Tat vom 26. März 2013 – ein zweites Bewährungsversagen darstellt. Ebenso wenig ist ersichtlich, ob der Angeklagte bei Begehung der verfahrensgegenständlichen Tat noch mit dem Widerruf der Strafaussetzung rechnen musste oder ob dieser bereits ausgesprochen und dem Angeklagten bekannt gegeben worden war.

cc) Vor allem aber hat sich die Kammer nur unzureichend mit den Lebensverhältnissen und der Einstellung des Angeklagten im Zeitpunkt der Berufungshauptverhandlung auseinandergesetzt.

Bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 47 Abs. 1 StGB vorliegen, ist auf den Zeitpunkt der Hauptverhandlung und nicht auf den Zeitpunkt der Tatbegehung abzustellen (vgl. Maier, a.a.O., § 47 Rdn. 11); das Nachtatverhalten ist, soweit es Rückschlüsse auf die künftige Lebensführung ermöglicht, in die Gesamtwürdigung einzubeziehen (vgl. OLG Saarbrücken NStZ 1994, 192; Theune, a.a.O., § 47 Rdn. 26). Daher hat das Gericht in Fällen, in denen die Umstände zur Tatzeit für die Unerlässlichkeit einer kurzen Freiheitsstrafe sprechen, zu prüfen, ob sich seither Veränderungen ergeben haben, die die Verhängung einer solchen Sanktion nunmehr entbehrlich erscheinen lassen. Dies kann etwa bei einer deutlichen und dauerhaften Verbesserung der persönlichen Verhältnisse seit der Tat (vgl. BGH StV 2003, 485 – juris Rdn. 8; OLG Zweibrücken StV 1992, 323; OLG Frankfurt am Main StV 1995, 27, 28 f.; KG, Beschlüsse vom 31. Juli 2007 – [3] 1 Ss 178/07 [59/07] – und 4. November 2008 – [4] 1 Ss 375/08 [249/08] – juris Rdn. 6; Maier a.a.O.), der nach der Tat begonnenen Durchführung einer Therapie zur Bekämpfung einer tatursächlichen Drogenabhängigkeit (vgl. OLG Naumburg, Beschluss vom 13. August 2015 – 2 Rv 94/15 – juris Rdn. 7; HansOLG Hamburg StV 2007, 305 – juris Rdn. 18) oder der erstmaligen Erfahrung einer nicht nur kurzzeitigen Freiheitsentziehung nach Begehung der verfahrensgegenständlichen Tat (vgl. OLG Naumburg StraFo 2012, 285 – juris Rdn. 10; HansOLG Hamburg StV 2000, 353 – juris Rdn. 12; OLG Köln StV 1992, 149, 151; Maier, a.a.O., § 47 Rdn. 35, 59; Theune, a.a.O., § 47 Rdn. 19; Stree/Kinzig, a.a.O., § 47 Rdn. 13; Fischer, a.a.O., § 47 Rdn. 10 f.) der Fall sein.

Diese Grundsätze hat die Kammer nur unzureichend beachtet. Sie hat bei der Prüfung der Unerlässlichkeit maßgeblich auf den Zeitpunkt der Tatbegehung abgestellt und im Übrigen lediglich pauschal ausgeführt, sie habe „keine derartigen positiven Änderungen in den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten“ gesehen, dass dieser – gemeint offenbar: bei Verhängung [nur] einer Geldstrafe – „nach über 20−jähriger Straffälligkeit keine Straftaten mehr begeht“. Eine nachvollziehbare – auf Tatsachen gestützte – Erörterung der Frage, ob (auch) unter Berücksichtigung möglicher günstiger Veränderungen in den Lebensverhältnissen des Angeklagten die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe unerlässlich ist, findet nicht statt.

(1) Bereits die Feststellungen zu den gegenwärtigen Lebensverhältnissen des Angeklagten erweisen sich als lückenhaft. In den Urteilsgründen wird lediglich mitgeteilt, dass der Angeklagte „nunmehr“ − seit einem nicht näher bezeichneten Zeitpunkt nach seiner Haftentlassung − beim Jobcenter gemeldet sei und eine Unterkunft gefunden habe. Im Übrigen führt die Kammer zwar aus, dass der Angeklagte „bereit zu sein scheint, seine − angeblich fortbestehende − Alkoholproblematik aufzuarbeiten“, dass er „nach eigenen Angaben regelmäßig eine Selbsthilfegruppe der Anonymen Alkoholiker aufsucht“ und dass er die Absicht geäußert habe, „Privatinsolvenz anzumelden und eine stationäre Alkoholtherapie sowie eine ambulante Psychotherapie anzustreben“. Inwieweit sie der diesbezüglichen Einlassung des Angeklagten folgt, bleibt jedoch offen; die Kammer verweist lediglich darauf, dass es ihr an Kontrollmöglichkeiten fehle.

(2) Vor allem aber werden die dargelegten Umstände (die von der Kammer nicht für ausreichend erachtet werden, um eine positive Prognose zu rechtfertigen) erst im Zusammenhang mit der Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung erörtert. Auch der Umstand, dass der Angeklagte nach Begehung der verfahrensgegenständlichen Tat − im Zeitraum vom 26. Oktober 2015 bis zum 6. August 2016 − erstmals eine (nicht nur kurzfristige) Freiheitsstrafe verbüßt hat, wird allein bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 56 Abs. 1 StGB berücksichtigt. Er wird in den Urteilsgründen als maßgebender Grund für die Gewährung der Strafaussetzung angeführt, bei der vorrangig zu prüfenden Frage, ob die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe anstelle einer Geldstrafe unerlässlich ist, jedoch gänzlich außer Betracht gelassen.

Die Frage, welche Wirkungen die Haft auf den Angeklagten hatte, ist indes − ebenso wie sonstige Veränderungen in seinen Lebensverhältnissen (vgl. OLG Naumburg, Beschluss vom 13. August 2015 – 2 Rv 94/15 – juris Rdn. 7) − nicht erst im Rahmen der Bewährungsentscheidung, sondern schon bei der Frage zu prüfen, ob die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe unerlässlich ist oder eine (unter Umständen empfindliche) Geldstrafe zur Einwirkung auf den Angeklagten als ausreichend angesehen werden kann (vgl. Stree/Kinzig, a.a.O., § 47 Rdn. 13). Eine negative Kriminalprognose führt nicht zwingend zur Unerlässlichkeit der Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe (vgl. OLG Naumburg a.a.O.). Erst recht sind (neue) günstige Umstände im Rahmen der nach § 47 Abs. 1 StGB vorzunehmenden Gesamtwürdigung zu erörtern, wenn die Strafe zur Bewährung ausgesetzt wird. Es gelten erhöhte Begründungsanforderungen, wenn das Gericht − wie hier − die Voraussetzungen der Unerlässlichkeit einer Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Angeklagten bejaht, ihm aber dennoch eine günstige Prognose stellt (vgl. BGHR StGB § 47 Abs. 1 Umstände 1 − juris; HansOLG Hamburg a.a.O.). Denn die Annahme der Voraussetzungen des § 47 Abs. 1 StGB zieht regelmäßig – wenngleich nicht ausnahmslos (zur Unerlässlichkeit der Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe bei Entbehrlichkeit ihrer Vollstreckung vgl. BGHSt 24, 164; Theune, a.a.O., § 47 Rdn. 15; Maier, a.a.O., § 47 Rdn. 34; Stree/Kinzig, a.a.O., § 47 Rdn. 12) – eine negative Indizwirkung für die Aussetzungsfrage nach sich; die Urteilsgründe zu § 47 StGB und zu § 56 StGB dürfen sich nicht widersprechen (vgl. OLG Dresden NStZ-RR 2013, 41 − juris Rdn. 8; zum Ganzen vgl. Maier, a.a.O., § 47 Rdn. 59). Ein derartiger Widerspruch ergibt sich vorliegend daraus, dass die Kammer auf die erstmalige Hafterfahrung des Angeklagten die „wohlwollende Einschätzung künftiger Rechtstreue“ stützt, nachdem sie zuvor − ohne Berücksichtigung der erlittenen Strafhaft − ausgeführt hat, es gebe keine Änderungen dahingehend, dass der Angeklagte „nach über 20−jähriger Straffälligkeit keine Straftaten mehr begeht“.

3. Die aufgezeigten Erörterungsmängel begründen eine Verletzung des sachlichen Rechts. Der Senat hebt das angefochtene Urteil daher gemäß § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen auf und verweist die Sache gemäß § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts Berlin zurück.

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