Konflikt im Gerichtssaal: Ausnahmen bei der Kostentragungspflicht im Strafbefehlsverfahren
Der vorliegende Fall dreht sich um einen beantragten Strafbefehl, der vom Amtsgericht Kehl (Az.: 2 Cs 308 Js 17340/22) im Juli 2023 bewertet wurde. Das Kernproblem dieses Verfahrens konzentriert sich auf die Abweichung von der gewöhnlichen Kostenentscheidung. In der Regel muss der Angeklagte die Kosten des Verfahrens tragen, jedoch wurde in diesem Fall eine Ausnahme zugunsten des Beschuldigten gemacht, wodurch ein rechtsmedizinisches Gutachten, das für die Klärung des Sachverhalts notwendig war, von der Staatskasse getragen wurde.
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Übersicht
Diskussion um die Kostenentscheidung
Die Staatsanwaltschaft Offenburg erhob Vorwürfe des tätlichen Angriffs und des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte gegen den Angeklagten. Obwohl die Staatsanwaltschaft anfangs darauf bestand, alle Kosten des Verfahrens einschließlich des rechtsmedizinischen Gutachtens auf den Angeklagten abzuwälzen, wurde dieser Antrag vom Gericht nicht vollständig gebilligt. Die Kosten für das rechtsmedizinische Gutachten, das zur Ermittlung des Zustands des Angeklagten zum Tatzeitpunkt benötigt wurde, wurden von der Staatskasse getragen.
Rechtliche Grundlagen und Interpretationen
Die Anwendung von § 408 Abs. 3 Satz 2 StPO wurde in diesem Verfahren diskutiert. Nach diesem Paragraphen darf der Richter keinen Strafbefehl mit einem vom Antrag abweichenden Inhalt erlassen, ohne eine Hauptverhandlung anzuberaumen. Dennoch hat das Gericht in diesem Fall eine abweichende Entscheidung in Bezug auf die Kosten getroffen, da die Kostenentscheidung nicht als „Rechtsfolge“ im Sinne dieser Norm angesehen wird.
Unbilligkeit bei Kostentragung
Das Gericht stellte fest, dass es unbillig wäre, den Angeklagten mit den Kosten für das Gutachten zu belasten. Die Kosten für das Gutachten entstanden nur, weil die Staatsanwaltschaft zunächst auf ihrem Strafbefehlsantrag beharrte, obwohl es erhebliche Hinweise auf die rauschbedingte Schuldunfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit gab. Der Angeklagte sollte daher nicht für die Auslagen verantwortlich gemacht werden, die notwendig waren, um die Staatsanwaltschaft von dem hinreichenden Tatverdacht wegen Vollrauschs zu überzeugen.
Ausnahmen bestätigen die Regel
Insgesamt stellt dieser Fall eine interessante Ausnahme von der Regel dar, dass der Angeklagte die Kosten des Verfahrens zu tragen hat. Der Fall unterstreicht, dass das Gericht in bestimmten Fällen befugt ist, von der allgemeinen Regel abzuweichen und eine gerechtere Kostenverteilung zu erlassen. Zudem zeigt es, wie wichtig es ist, jeden Fall individuell zu betrachten und abzuwägen, welche Kostenentscheidungen gerecht und angemessen sind.
Das vorliegende Urteil
AG Kehl – Az.: 2 Cs 308 Js 17340/22 – Beschluss vom 18.07.2023
1. Der beantragte Strafbefehl wird gemäß dem von der Staatsanwaltschaft Offenburg eingereichten Entwurf vom 06.06.2023 mit Ausnahme der Kostenentscheidung erlassen.
2. Der Angeklagte trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der Auslagen für das rechtsmedizinische Gutachten des Universitätsklinikums Freiburg vom 22.05.2023, die der Staatskasse zur Last fallen, sowie seine notwendigen Auslagen.
Gründe
I.
Am 23.03.2023 beantragte die Staatsanwaltschaft Offenburg gegen den Angeklagten einen Strafbefehl mit dem Vorwurf des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und mit versuchter Körperverletzung und mit Bedrohung in zwei tateinheitlichen Fällen und mit Beleidigung in zwei tateinheitlichen Fällen gemäß §§ 114 Abs. 1, 113 Abs. 1, 223 Abs. 1 und 2, 241 Abs. 2, 185, 194, 230, 22, 23, 52 StGB zu erlassen, weil er sich am 03.07.2022 gegen 0:55 Uhr tätlich der Ingewahrsamnahme durch die Polizei wegen Trunkenheit widersetzt und die Polizeibeamten dabei beleidigt habe.
Da der Angeklagte nach den Feststellungen der Polizei „volltrunken“ auf dem Gehweg gelegen sei und sich in „einem, die freie Willensausübung ausschließenden Zustand“ befunden habe, gab das Gericht die Sache wegen Bedenken hinsichtlich der Schuldfähigkeit des Angeklagten an die Staatsanwaltschaft zurück und regte an, den Vorwurf auf (fahrlässigen) Vollrausch umzustellen, was die Staatsanwaltschaft mit Verweis auf die Blutalkoholkonzentration, die für die um 3:48 Uhr entnommene Blutprobe 1,77 ‰ betrug, ablehnte.
Das daraufhin vom Gericht eingeholte Gutachten des Universitätsklinikums Freiburg kam zum Ergebnis, dass – nach Aktenlage – von einer maximalen Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit von 2,54 ‰ und einer erheblichen Minderung des Steuerungsvermögens auszugehen sei, wobei ihre vollständige Aufhebung nicht ausgeschlossen werden könne.
Der erneuten, nunmehr zusätzlich auf das Gutachten gestützten Anregung des Gerichts, den Vorwurf auf Vollrausch umzustellen, kam die Staatsanwaltschaft zwar mit dem Antrag vom 06.06.2023 unter Vorlage eines entsprechend neu gefassten Entwurfs des Strafbefehls nach. Der Auffassung des Gerichts, dass es hinsichtlich der Kostenentscheidung im Strafbefehl angezeigt erscheine, die Auslagen für das Gutachten gemäß § 465 Abs. 2 StPO der Staatskasse aufzuerlegen, verschloss sie sich indes, sodass der von der ihr vorbereitete Strafbefehlsentwurf hinsichtlich der Kosten vorsieht, dass der Angeklagte „die Kosten des Verfahrens und [seine] notwendigen Auslagen zu tragen“ habe; eine Kostentragungspflicht des Angeschuldigten einschließlich der Kosten für das rechtsmedizinische Gutachten sei nicht zu beanstanden, weil vorliegend keine abweichende Entscheidung aus Gründen der Billigkeit geboten sei, wie es bei einem sogenannten fiktiven Freispruch oder bei Reduzierung des Tatvorwurfs auf ein minder schweres Delikt der Fall sei.
II.
1. Dem Antrag der Staatsanwaltschaft auf Erlass eines Strafbefehls war zu entsprechen, weil keine Bedenken entgegenstehen, insbesondere hinreichender Tatverdacht besteht, wobei das Gericht eine vom Entscheidungsentwurf abweichende Kostenentscheidung treffen durfte.
Zwar bestimmt § 408 Abs. 3 Satz 2 StPO, dass der Richter nicht eigenmächtig einen Strafbefehl mit einem vom Antrag abweichenden Inhalt erlassen darf, sondern Hauptverhandlung anberaumt, wenn er eine andere als die beantragte Rechtsfolge festsetzen will und die Staatsanwaltschaft bei ihrem Antrag beharrt. Die Kostenentscheidung ist aber nicht Rechtsfolge in diesem Sinne, selbst wenn sie – wie hier – bereits in dem von der Staatsanwaltschaft vorbereiteten Entscheidungsentwurf enthalten ist. Vielmehr umfasst der eigentliche Strafbefehlsantrag neben der zu ahndenden Tat und ihrer rechtlichen Bewertung nur die Rechtsfolgen der Tat im Sinne des Dritten Abschnitts des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuchs.
Ursprünglich bestimmte § 408 StPO in der § 448 der Strafprozessordnung vom 01.07.1877 (RGBl. S. 253) entsprechenden Fassung (RGBl. I 1924 S. 322), dass der Antrag der Staatsanwaltschaft auf eine bestimmte Strafe zu richten (Abs. 1 Satz 1) und die Sache zur Hauptverhandlung zu bringen ist, wenn der Amtsrichter eine andere als die beantragte Strafe festsetzen will und die Staatsanwaltschaft bei ihrem Antrage beharrt (Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Satz 1); zugleich bestimmte § 464 Abs. 1 Satz 1 StPO, wie immer noch, dass jeder Strafbefehl darüber Bestimmung treffen muss, von wem die Kosten des Verfahrens tragen sind. An dieser inhaltlichen Trennung zwischen Strafbefehlsantrag und – im Übrigen auch ohne Antrag der Staatsanwaltschaft von Amts wegen zu treffenden (vgl. KK-StPO/Gieg, 9. Aufl. 2023, StPO § 464 Rn. 1) – Kostenentscheidung hat sich seitdem nichts geändert. Lediglich der Anwendungsbereich des Strafbefehlsverfahrens wurde durch das Zweite Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs vom 26.11.1964 (BGBl. I S. 921) um die Festsetzung bestimmter Nebenfolgen sowie Maßregeln der Sicherung und Besserung neben der Strafe erweitert, wobei diese Aufzählung später zur sprachlichen Anpassung unter Übernahme des Begriffes aus dem Strafgesetzbuch (BTDrs. 7/550, S. 300, 306) mit dem Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch vom 02.03.1974 (BGBl. I S. 469) durch „Rechtsfolge“ ersetzt wurde.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 465 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 und 2 StPO. Wegen seiner Verurteilung hat der Angeklagte grundsätzlich die Kosten des Verfahrens sowie seine notwendigen Auslagen zu tragen. Ihn mit den Auslagen für das Gutachten zu belasten wäre jedoch – jedenfalls im jetzigen Verfahrensstand – unbillig, weil diese Auslagen nur entstanden sind, um die Staatsanwaltschaft, die trotz gewichtiger Anhaltspunkte für die rauschbedingte Schuldunfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit zunächst bei ihrem Strafbefehlsantrag beharrte, davon zu überzeugen, dass lediglich hinreichender Tatverdacht wegen Vollrauschs besteht.
IV.
Die Entscheidung über die Kosten und die notwendigen Auslagen ist für die Staatsanwaltschaft gemäß § 464 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 2 StPO unanfechtbar, weil ihr – jedenfalls bei antragsgemäßem Erlass des Strafbefehls wie hier – kein eigenes Rechtsmittel gegen die Hauptentscheidung zusteht (MüKoStPO/Eckstein, 1. Aufl. 2019, StPO § 410 Rn. 41; Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2022, § 408, Rn. 40; KK-StPO/Maur, 9. Aufl. 2023, StPO § 408 Rn. 16).