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Strafbarkeit bei unzureichenden Ermittlungen

OLG Oldenburg, Az.: 1 Ws 513/15, Beschluss vom 03.12.2015

Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Osnabrück gegen den Beschluss der 1. großen Strafkammer des Landgerichts Oldenburg vom 27. August 2015, durch den die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt worden ist, wird als unbegründet verworfen.

Die Kosten des Rechtsmittels sowie die dadurch entstandenen notwendigen Auslagen des Angeschuldigten trägt die Staatskasse.

Gründe

I.

Das Landgericht Oldenburg – 1. große Strafkammer – hat mit Beschluss vom 27. August 2015, auf dessen Inhalt verwiesen wird, die gegen den Angeschuldigten gerichtete Anklage der Staatsanwaltschaft Osnabrück vom 15. April 2015 nicht zur Hauptverhandlung zugelassen und die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt.

Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft.

1.

Der Angeschuldigte ist angeklagt, in Oldenburg in der Zeit vom 1. August 2011 bis zum 17. November 2013 durch zwei Straftaten wissentlich ganz oder zum Teil vereitelt zu haben, dass ein anderer dem Strafgesetz gemäß wegen einer rechtswidrigen Tat bestraft wird, und zwar als Amtsträger, der zur Mitwirkung bei dem Strafverfahren berufen war, und dadurch jeweils zugleich als Amtsträger sich bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache zugunsten einer Partei einer Beugung des Rechts schuldig gemacht zu haben.

Gegenstand der Anklage ist der Vorwurf, der Angeschuldigte sei im bezeichneten Zeitraum als Oberstaatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Oldenburg für die Führung der Verfahren … gegen den Krankenpfleger … wegen Mordes verantwortlich gewesen. Dabei habe er nicht nur um seine in § 152 Abs. 2 StPO normierte Verpflichtung gewusst, wegen aller verfolgbaren Taten einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, sondern auch um seine aus § 170 Abs. 1 StPO resultierende Verpflichtung, die öffentliche Klage zu erheben, sofern die Ermittlungen dazu genügend Anlass geben. In den nachfolgend dargestellten Fällen habe der Angeschuldigte bewusst gegen diese mit seinem Amt verbundenen gesetzliche Verpflichtungen verstoßen, wobei er es zumindest billigend in Kauf genommen habe, die beschuldigte Person zu begünstigen und damit gleichzeitig zum Nachteil der Allgemeinheit zu handeln. Dabei habe der Angeschuldigte auch gewusst, dass seine Unterlassungen zu einer erheblichen Verzögerung oder sogar vollständigen Verhinderung der Strafverfolgung gegen den Beschuldigten … führen würden, wenn es ihm auch nicht direkt darauf angekommen sei (also nicht absichtlich, sondern wissentlich).

Im Einzelnen:

1.

In der Zeit vom 1. August 2011 bis zum 17. November 2013 habe der Angeschuldigte in keinem einzigen Fall wegen des Verdachts der Tötung von Patienten durch … Ermittlungen aufgenommen und habe dementsprechend keine weiteren Ermittlungen veranlasst, obwohl die in der Zeit seines Dezernatsvorgängers Oberstaatsanwalt … erzielten Untersuchungsergebnisse (bezüglich der exhumierten Leichen der Verstorbenen …), die von der Polizei im Juni/Juli 2011 der Staatsanwaltschaft übergeben worden seien, dazu begründeten Anlass gegeben hätten.

Spätestens durch die von ihm am 20. September 2012 vorgenommenen Vernehmungen der Strafgefangenen … und … und deren Äußerungen („bei 50 aufgehört zu zählen“) sei der Angeschuldigte auf die Dimension des Falles und die Zahl der noch nicht untersuchten Opfer nochmals besonders aufmerksam gemacht worden, habe aber auch danach überhaupt keine weiteren Aufklärungsmaßnahmen (insbesondere keine weiteren Exhumierungen hinsichtlich der während der Dienstzeit des … verstorbenen Patienten) veranlasst.

Tatsächlich seien diese Maßnahmen erst ab 2015 durch die Staatsanwaltschaft Oldenburg veranlasst worden. Auf diese Weise sei die Verfahrensdauer mit der Folge einer zu erwartenden deutlich späteren (erneuten) Verurteilung des … unnötig verlängert worden, sofern nicht die toxikologischen Untersuchungen wegen der inzwischen verstrichenen Zeit infolge zunehmender Verwesung der Leichen überhaupt erfolglos bleiben sollten.

2.

Nach dem 20. September 2012 (dem Tag der Vernehmung der … belastenden Strafgefangenen … und … durch ihn selbst) bis zu seinem Ausscheiden am 17. November 2013 habe der Angeschuldigte trotz bestehenden hinreichenden Tatverdachts keine Anklage gegen … in dem Verfahren … wegen der Einzelfälle zum Nachteil der verstorbenen Patienten … erhoben. Dadurch sei gegen die sich aus §§ 151, 170 Abs. 2 StPO ergebende Pflicht zur Anklageerhebung „bei genügendem Anlass“ verstoßen.

Obwohl dem Angeschuldigten als erfahrenem Staatsanwalt in beiden vorgenannten Fällen die rechtlichen Notwendigkeiten durchaus bekannt und bewusst gewesen seien, habe er entweder keine oder unzweckmäßige verzögernde Veranlassungen getroffen, um dadurch seine Arbeitsbelastung zu reduzieren.

Wegen der Einzelheiten wird auf die Anklageschrift verwiesen.

2.

Das Landgericht hat die Eröffnung des Hauptverfahrens mit Beschluss vom 27. August 2015 aus tatsächlichen Gründen abgelehnt.

Eine spätere Verurteilung des Angeschuldigten sei nicht wahrscheinlich. Hierbei sei zunächst festzustellen, dass allein ausschlaggebend sei, ob hinreichender Tatverdacht für eine Verurteilung wegen Rechtsbeugung, § 339 StGB, bestehe. Dies folge aus der Sperrwirkung des Rechtsbeugetatbestandes zum Schutz der Unabhängigkeit der Rechtspflege. Danach sei eine Verurteilung wegen einer Tätigkeit bei der Leitung einer Rechtssache nach anderen Vorschriften nur möglich, wenn auch die Voraussetzungen des § 339 StGB gegeben seien.

Tathandlung im Sinne des § 339 StGB sei eine Verletzung von Recht und Gesetz. Dies setze eine Rechtsanwendung voraus, die im Ergebnis nicht vertretbar sei. Der Tatbestand der Rechtsbeugung bedürfe darüber hinaus nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs insoweit einer Einschränkung, als eine „Beugung des Rechts“ nicht schon durch jede (bedingt) vorsätzlich begangene Rechtsverletzung verwirklicht werde. Vielmehr werde vorausgesetzt, dass der Richter (oder Staatsanwalt) „sich bewusst in schwerwiegender Weise von Recht und Gesetz entfernt“. Dabei könne auch die Verletzung prozessualer Normen genügen. Erforderlich sei aber, dass durch die Verfahrensverletzung die konkrete Gefahr einer falschen Entscheidung begründet werde, ohne dass ein Vor- oder Nachteil tatsächlich eingetreten sein müsse.

Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe bestehe in beiden angeklagten Fällen kein hinreichender Tatverdacht. Im Einzelnen:

1. Tatvorwurf (August 2011 bis November 2013)

a) Zutreffend sei der Ausgangspunkt der Staatsanwaltschaft Osnabrück in der Anklageschrift, dass das im Juni/Juli 2012 erfolgte Überreichen der erzielten Untersuchungsergebnisse der Polizei an die Staatsanwaltschaft Anlass zu Überlegungen gegeben habe, die Ermittlungen auszuweiten.

Zur Überzeugung der Kammer habe der Angeschuldigte dies jedoch gerade auch getan. Der Angeschuldigte habe sich dahin eingelassen, dass dieses Ermittlungsergebnis mit dem … und dem … erörtert worden sei. In diesem Gespräch habe … geäußert, dass diese Indizien allein nicht einmal für die Eröffnung eines Verfahrens ausreichen würden. Die Kammer habe zu diesem Beweisthema eine schriftliche Stellungnahme des … eingeholt. Dieser habe darin mitgeteilt, dass es dieses Gespräch tatsächlich gegeben habe und ca. 15 Minuten gedauert habe. Konkrete Erinnerungen an den Inhalt des Gesprächs habe er aufgrund des Zeitablaufs nicht mehr. Allerdings habe er dem Angeschuldigten gegenüber geäußert, dass eine Anklage aus seiner Sicht keinesfalls leichtfertig oder vorschnell auf unsicherer Erkenntnisgrundlage zugelassen werden könne. Schließlich könne es gut sein, dass er geäußert habe, dass allein die bereits im Verfahren zum Nachteil … bekannten Statistiken über Sterbefälle und Gilurytmalverbrauch zur Begründung eines hinreichenden Tatverdachts gegen den Verurteilten … nicht ausreichen würden. Weiter heiße es wörtlich in dieser Stellungnahme „Zum einen belegen diese Statistiken keinen Verdacht gegen den Verurteilten … persönlich, zum anderen war im Verfahren … auch nicht ansatzweise geklärt worden, ob diese Zahlen überhaupt valide sind und auf zutreffend erhobenen Tatsachengrundlagen beruhen“. Die Einlassung des Angeschuldigten sei somit durch die Beweiserhebung im Zwischenverfahren bestätigt worden.

b) Auch im Zeitraum zwischen dem 6. August 2012 und dem 20. September 2012 habe der Angeschuldigte fortlaufend die Akte gefördert. Ob diese Maßnahmen (insbesondere richterliche Vernehmungen) sinnvoll und effizient gewesen seien, sei ohne Bedeutung.

Nach der Stellungnahme des …, die die Kammer im Zwischenverfahren eingeholt habe, habe dieser dem Angeschuldigten vorgeschlagen, die Mitgefangenen, denen gegenüber der Verurteilte … seine Taten „gestanden“ haben solle, persönlich anzuhören. Diesem Vorschlag des weisungsbefugten Vorgesetzten sei der Angeschuldigte in der Folgezeit nachgekommen. Der Angeschuldigte habe am 8. und 10. August 2012 stattgefundene Ferngespräche mit Rechtsanwalt … und … von der PI Delmenhorst vermerkt. Aus diesen Vermerken ergebe sich, dass der Angeschuldigte beabsichtigt habe, den Zeugen … zur Vernehmung vorzuladen. Tatsächlich habe der Angeschuldigte in der Folgezeit die richterliche Vernehmung des Zeugen … und später auch die der Zeugen … und … veranlasst. Auch diese geänderte Vorgehensweise habe er seinem Dienstvorgesetzten mitgeteilt, was der … in seiner Stellungnahme bestätigt habe. Zu einer richterlichen Vernehmung sei es nicht gekommen.

Auch diese Vorgehensweise in Form der Veranlassung der richterlichen Vernehmungen begründe nicht den Vorwurf der Rechtsbeugung. Die Strafprozessordnung sehe die Maßnahmen, die der Angeschuldigte verfügt habe, vor. Eine richterliche Vernehmung sei nicht nur in den Fällen des § 252 StPO angezeigt. Vielmehr komme der richterlichen Vernehmung nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung auch per se ein höherer Beweiswert zu, so dass eine solche entgegen den Ausführungen in der Anklageschrift auf Seite 33 nicht ohne jeglichen Gewinn gewesen wäre. Jedenfalls sei nach den gesamten Umständen die nicht widerlegbare Auffassung des Angeschuldigten, eine solche richterliche Vernehmung könne zur Aufklärung des Sachverhalts weiter beitragen, durchaus vertretbar gewesen.

Vor diesem Hintergrund sei die von dem Angeschuldigten vorgenommene Vorgehensweise nicht zu beanstanden und erfülle nicht den objektiven Tatbestand einer Rechtsbeugung, auch wenn diese Vorgehensweise vorliegend eine lange Zeit in Anspruch genommen habe.

c) Das Unterlassen der Ausweitung der Ermittlungen auch nach dem am 20. September 2012 hinzugetretenen Umstand in Form der Aussagen der Mitgefangenen … und … stelle ebenfalls keinen Verstoß gegen § 152 Abs. 2 StPO dar. Der Inhalt dieser Aussagen im Zusammenspiel mit den Statistiken habe sicherlich – weiterhin – einen Anfangsverdacht gegen den Verurteilten … begründet. Anklagereife habe mangels Tatkonkretisierung unzweifelhaft nicht bestanden. Als weiterer Ermittlungsansatz habe nach Auffassung der Kammer als einzige Möglichkeit, wenn überhaupt, ex post betrachtet die Exhumierung sämtlicher in Betracht kommender Leichen bestanden. Auch diese weitere Ermittlungshandlung habe der Angeschuldigte gesehen und geprüft. Nach der unwiderlegbaren Einlassung des Angeschuldigten habe dieser aufgrund der mit einer Exhumierung verbundenen schwerwiegenden Belastungen der Angehörigen davon abgesehen, weitere Exhumierungen – zu diesem Zeitpunkt – zu veranlassen. Diese Entscheidung stelle keine Verletzung von Recht und Gesetz dar. Denn auf der einen Seite hätte die Exhumierung als Beweisergebnis nur den Nachweis des Wirkstoffs Gilurytmal erzielen können, eine Täterschaft des Verurteilten … sei hierdurch noch lange nicht nachgewiesen gewesen. Aus diesem Grund habe auch der vorherige Sachbearbeiter dieses Falles bei der Staatsanwaltschaft Oldenburg, der den gleichen Kenntnisstand gehabt habe wie der Angeschuldigte Zobel, ebenfalls keine Exhumierungen angeordnet. Auf der anderen Seite sei der Verurteilte … zu diesem Zeitpunkt bereits rechtskräftig wegen versuchten Mordes verurteilt gewesen und habe sich bereits in Strafhaft befunden. Eine Gefahr für weitere Straftaten durch den Verurteilten … habe daher mitnichten bestanden. Ein weiteres Ermittlungsverfahren wegen Mordes in vier Fällen sei anhängig gewesen und habe zwischenzeitlich zu einer rechtskräftigen Verurteilung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit Feststellung der besonderen Schwere der Schuld und der aufgrund seines Geständnisses dann unzweifelhaften Erkenntnis geführt, dass er weitere gleichartige Taten begangen habe.

d) Letztlich fehle es evident an einem hinreichenden Tatverdacht für ein vorsätzliches Handeln des Angeschuldigten. Die Staatsanwaltschaft gehe davon aus, dass der Angeschuldigte nicht gewollt im Sinne von „absichtlich angestrebt“ gehandelt habe. Er hätte aber in dem Wissen und Bewusstsein gehandelt, dass die von ihm unterlassenen Handlungen genau diesen Effekt – zumindest eine nennenswerte Verzögerung der Strafverfolgung des Verurteilten … – zur Folge haben würden. Dies sei jedoch nicht ausreichend. Der Vorsatz müsse sich darauf richten, das Recht zugunsten oder zuungunsten einer Person zu verletzen. Es reiche nicht aus, dass der Täter sich trotz Zweifels an der Richtigkeit seiner Auffassung entscheide, die Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung dabei also erkenne. Vielmehr müsse er die Möglichkeit der Fehlerhaftigkeit der Rechtsansicht billigend verinnerlicht haben. Der oben dargestellte Ablauf belege zur Überzeugung der Kammer das Gegenteil. Der Angeschuldigte habe sich Rat bei Kollegen und dem zuständigen Strafkammervorsitzenden geholt. Er habe gewusst, dass aufgrund der Verurteilung von … und der noch fortbestehenden Strafhaft keine Eile geboten gewesen sei. Gegen das subjektive Element des Rechtsbeugungsvorsatzes spreche auch die Überlastung des Angeschuldigten. Soweit die Staatsanwaltschaft auf Seite 35 ihrer Anklageschrift darlege, dass der Angeschuldigte seine Überlastung zu keinem Zeitpunkt förmlich angezeigt hätte, sei dies durch die von der Kammer eingeholte Stellungnahme des Leitenden Oberstaatsanwalts … insoweit relativiert, als jedenfalls „nichtförmlich“ eine entsprechende Anzeige erfolgt sei. Der Leitende Oberstaatsanwalt habe bestätigt, dass er mit dem Angeschuldigten zahlreiche Gespräche geführt hätte, im Durchschnitt sicherlich ein bis zwei pro Monat. Bei diesen Gesprächen wäre es auch um das Verfahren gegen den Verurteilten … gegangen. Der Angeschuldigte wäre bemüht gewesen, die Zahl der laufenden Verfahren zu reduzieren. Jedenfalls im Frühjahr 2013 hätte der Angeschuldigte eingeräumt, sehr stark belastet bzw. überlastet zu sein. Die Möglichkeit zu einer anderweitigen Entlastung hätte aufgrund der Personalsituation und der bevorstehenden Urlaubszeit nicht bestanden. Er hätte dem Angeschuldigten daher erklärt, er möge das erledigen, was er leisten könne, den Rest müsse dann die Dezernatsnachfolgerin übernehmen.

Aufgrund der von der Kammer eingeholten beiden Stellungnahmen stehe daher jedenfalls auch eindeutig fest, dass der Angeschuldigte zu keinem Zeitpunkt innerhalb des angeklagten Tatzeitraums vorsätzlich gehandelt habe. Er habe nicht das Recht verletzen wollen. Vielmehr habe er sich Rat geholt und habe seinem Dienstvorgesetzten von seiner Überlastung berichtet. Aufgrund der Personalsituation habe behördlicherseits jedoch keine Abhilfe geschaffen werden können.

2. Tatvorwurf (20.09.2012 bis 17.11.2013)

a) Gemäß § 170 Abs. 1 StPO erhebe die Staatsanwaltschaft Anklage, wenn die Ermittlungen genügenden Anlass böten. Zunächst gelte hinsichtlich des objektiven Tatbestandes der Rechtsbeugung das oben Festgestellte. Der Angeschuldigte habe das Verfahren, solange er hierfür zuständig gewesen sei, durchgehend betrieben. Die Akten habe er, nachdem die richterlichen Vernehmungen gescheitert seien, erstmals am 15. Juli 2013 vom Amtsgericht Köln zurückerhalten. In der Zeit vom 16. Juli 2013 bis zu seinem Ausscheiden am 17. November 2013 sei der Angeschuldigte an sieben Arbeitstagen beurlaubt und an drei Arbeitstagen krank gewesen. Im Frühjahr 2013, vermutlich im Mai 2013, also zu einem Zeitpunkt, in dem die Akten noch wegen der verfügten richterlichen Vernehmungen versandt gewesen seien, habe der Leitende Oberstaatsanwalt … dem Angeschuldigten eröffnet, dass sein Dezernat einer zu befördernden Kollegin übergeben werden würde. Anlässlich dieses Gesprächs hätte er – der Leitende Oberstaatsanwalt … – dem Angeschuldigten erklärt, er möge das erledigen, was er leisten könne, den Rest müsse die Dezernatsnachfolgerin erledigen. Eine Weisung nach § 146 GVG, insbesondere das Verfahren … zu fördern oder gar zum Abschluss zu bringen, sei nicht erfolgt. Aufgrund der nicht gegebenen Eilbedürftigkeit, der Verurteilte … sei bereits rechtskräftig verurteilt und das Strafende noch lange nicht erreicht, begründe die Nichtanklageerhebung auch ohne entsprechende Weisung nicht den Vorwurf der Rechtsbeugung. Denn es obliege in diesen Fällen dem Dezernenten selbst zu entscheiden, welchem der von ihm zu erledigenden Dienstgeschäften er den Vorrang vor anderen einräume. Dies gelte umso mehr, als er seine Überlastung – wenn auch nicht förmlich – angezeigt habe und ihm mangels Personals nur habe geraten werden können, das zu erledigen, was er leisten könnte. Der Angeschuldigte habe sich für den Abbau der Resteliste entschieden, was aufgrund der obigen Ausführungen nicht zu beanstanden sei. Darüber hinaus habe er jedoch auch die Akte … weiter gefördert, indem er Akteneinsichtsgesuche beschieden habe.

Nach Auffassung der Kammer sei abschließend noch deutlich zum Ausdruck zu bringen, dass die Dimension des Falles … vor dem Ausscheiden des Angeschuldigten am 17. November 2013 nicht bekannt gewesen sei, so dass die nachträglich bekannt gewordene Brisanz nicht dazu führen könne, einen Rechtsbeugevorwurf zu begründen. Eine Verurteilung des Angeschuldigten komme danach aller Voraussicht nach nicht in Betracht.

II.

Die gegen die Entscheidung des Landgerichts gerichtete sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft, die diese unter dem 9. September 2015 begründet hat und der die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Zuschrift vom 21. September 2015 beigetreten ist, ist zulässig.

In der Sache bleibt das Rechtsmittel ohne Erfolg, weil kein hinreichender Tatverdacht besteht.

1.

Eine Verurteilung des Angeschuldigten käme nur dann in Betracht, wenn sein Verhalten auch den Tatbestand der Rechtsbeugung gemäß § 339 StGB erfüllen würde. Denn nach der jedenfalls bislang vom Bundesgerichtshof vertretenen Auffassung kommt dieser Vorschrift zum Schutz der Unabhängigkeit der Rechtspflege eine Sperrwirkung in dem Sinne zu, dass eine Verurteilung wegen einer Tätigkeit bei der Leitung einer Rechtssache – wozu auch die staatsanwaltschaftliche Ermittlungstätigkeit gehört (vgl. Fischer, StGB., 62. Aufl., § 339 Rz. 6) – nach anderen Vorschriften nur dann möglich ist, wenn die Voraussetzungen des § 339 StGB gegeben sind (vgl. Fischer, StGB., 62. Aufl., § 339 Rz. 48 m.w.N.; einschränkend – allerdings ausdrücklich nicht für den Fall der Strafvereitelung – wohl BGH, Urteil v. 13.05.2015, 3 StR 498/14, bei juris). Hieraus folgt, dass eine Verurteilung des eine Rechtssache Leitenden – hier des ermittelnden Staatsanwalts – wegen Strafvereitelung im Amt (§ 258a StGB) nicht in Betracht kommt, wenn nicht auch eine Rechtsbeugung vorliegt (vgl. BGH, Urteil v. 29.10.2009, 4 StR 97/09, NStZ-RR 2010, 310).

2.

Ob in Bezug auf die dem Angeschuldigten vorgeworfene Rechtsbeugung vorliegend nicht allein – wie es § 339 StGB an sich ausreichen lässt – bedingt vorsätzliches Handeln, sondern mindestens dolus directus 2. Grades (direkter Vorsatz) zu fordern ist, weil die Sperrwirkung des § 339 StGB unterlaufen würde, wenn man für die Rechtsbeugung eine schwächere Vorsatzform genügen ließe als für die Strafvereitelung, erscheint jedenfalls bedenkenswert. Denn die Frage, ob denn überhaupt und welches Recht gebeugt wurde, hängt jedenfalls in dieser Konstellation gerade davon ab, ob eine Strafvereitelung im Amt vorliegt. Der Gesetzgeber hat mit § 258a StGB eine klare Entscheidung darüber getroffen, unter welchen Voraussetzungen er einen Verstoß gegen das durch den Legalitätsgrundsatz aktualisierte Willkürverbot für strafwürdig hält. Daraus folge, so wird vertreten (vgl. Keiser, StraFo 2013, 435), für die Fälle, in denen zwischen § 339 StGB und §§ 258, 258a StGB Tateinheit vorliegt, zwingend, dass eine Rechtsbeugung nur vorliege, wenn der Täter im Hinblick auf die Besserstellung des Begünstigten mit direktem Vorsatz gehandelt habe.

3

Dies kann indessen dahinstehen, weil es schon am objektiven Tatbestand der Rechtsbeugung fehlt.

Rechtsbeugung kann zwar auch durch Verletzung von Verfahrensrecht begangen werden (BGH, Urteile v. 29.10.1992, 4 StR 353/92, BGHSt 38, 381; sowie v. 05.12.1996, 1 StR 376/96, BGHSt 42, 343). Nicht jede unrichtige Rechtsanwendung oder jeder Ermessensfehler ist jedoch bereits eine Beugung des Rechts. Vielmehr indizieren die Einordnung der Rechtsbeugung als Verbrechenstatbestand und die gemäß § 24 Nr. 1 DRiG, § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BeamtStG im Falle einer Verurteilung kraft Gesetzes eintretende Beendigung des Richter- oder Beamtenverhältnisses die Schwere des Unwerturteils (BGH, Urteile v. 29.10.1992, 4 StR 353/92, BGHSt 38, 381; v. 29.10.2009, 4 StR 97/09, NStZ-RR 2010, 310; und v. 18.07.2013, 4 StR 84/13, NStZ 2013, 655). Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erfasst § 339 StGB deshalb nur den Rechtsbruch als elementaren Verstoß gegen die Rechtspflege, bei dem sich der Amtsträger bewusst in schwerwiegender Weise zugunsten oder zum Nachteil einer Partei vom Gesetz entfernt und sein Handeln als Organ des Staates statt an Recht und Gesetz an seinen eigenen Maßstäben ausrichtet (vgl. nur BGH, Beschluss v. 07.07.2010, 5 StR 555/09, NStZ 2011, 52; Urteil v. 18.07.2013, 4 StR 84/13, NStZ 2013, 655, m.w.N.). Insoweit enthält das Tatbestandsmerkmal „Beugung des Rechts“ ein normatives Element, dem die Funktion eines wesentlichen Regulativs zukommt. Ob ein elementarer Rechtsverstoß vorliegt, ist auf der Grundlage einer wertenden Gesamtbetrachtung aller Umstände zu entscheiden. Bei einem Verstoß gegen Verfahrensrecht kann neben dessen Ausmaß und Schwere insbesondere auch Bedeutung erlangen, welche Folgen dieser für die Partei hatte, inwieweit die Entscheidung materiell rechtskonform blieb und von welchen Motiven sich der die Rechtssache Leitende leiten ließ (vgl. BGH, Urteil v. 13.05.2015, 3 StR 498/14, bei juris, m.w.N.). Mit der gesetzlichen Zweckbestimmung nicht zu vereinbaren wäre es, jede unrichtige Rechtsanwendung und jeden Ermessensfehler in den Schutzbereich dieser Norm einzubeziehen. Auf den Maßstab (bloßer) Unvertretbarkeit darf dabei schon im Interesse der Rechtssicherheit nicht abgestellt werden (BGH, Urteil v. 04.09.2001, 5 StR 92/01, BGHSt 47, 105).

4.

Hieran gemessen ist das Landgericht zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, dass die Ermittlungen keinen Anlass zur Annahme eines solchen elementaren Verstoßes gegen die Rechtspflege durch den Angeschuldigten bieten.

a.

Soweit dem Angeschuldigten das Unterlassen der Anklageerhebung in den Einzelfällen zum Nachteil der verstorbenen Patienten … zur Last gelegt wird (Fall 2. der Anklage), erscheint bereits zweifelhaft, ob die – in der Anklageschrift auf S. 33-34 dargestellten – Bemühungen des Angeschuldigten um eine richterliche Vernehmung der Zeugen einen Verstoß gegen die sich aus §§ 151, 170 Abs. 2 StPO ergebenden Pflicht zur Anklageerhebung „bei genügendem Anlass“ darstellen. Denn angesichts des durch das Landgericht in der angefochtenen Entscheidung zutreffend dargestellten höheren Beweiswertes einer richterlichen Vernehmung (vgl. BGH, Urteil v. 12.02.2004, 3 StR 185/03, BGHSt 49, 72) einerseits und des Umstandes andererseits, dass es sich bei den Zeugen um verurteilte Straftäter handelte, die sich – was jedenfalls nicht auszuschließen ist – von ihren Angaben auch Vorteile im Rahmen der gegen sie laufenden Strafvollstreckung versprachen, erscheint das Vorgehen des Angeschuldigten nicht einmal unvertretbar. Der Umstand, dass der Angeschuldigte an dieser einmal getroffenen Entscheidung festgehalten hat, obgleich sich deren Umsetzung aus unterschiedlichen Gründen, die nicht in seinen Verantwortungsbereich fielen, erheblich verzögert hat, ist ihm nicht, schon gar nicht als Rechtsbeugung, anzulasten.

Dass der Angeschuldigte, nachdem der Versuch, auch den Zeugen … richterlich vernehmen zu lassen, endgültig fehlgeschlagen war, nach Rückkehr der Akten im Juli 2013 bis zu seinem Ausscheiden aus dem staatsanwaltschaftlichen Dienst im November 2013 keine weitere Förderung des Verfahrens mehr vornahm, stellt demgegenüber zwar einen Verstoß gegen §§ 151, 170 Abs. 2 StPO dar. Indessen ist nach oben Gesagtem bei einem Verstoß gegen Verfahrensrecht auch von Bedeutung, welche Folgen dieser für die Partei hatte und von welchen Motiven sich der die Rechtssache Leitende leiten ließ. Dabei ist vorliegend zu bedenken, dass sich der in anderer Sache Verurteilte … in Haft befand – mit einer vorzeitigen Entlassung gemäß § 57 Abs. 1 StGB war angesichts der laufenden Ermittlungen nicht zu rechnen – , weder ein Beweismittelverlust noch Verjährung der Taten drohte, und dem Angeschuldigten seitens seines Vorgesetzten, dem Leitenden Oberstaatsanwalt …, nach Mitteilung von der erheblichen Dezernatsbelastung – in Kenntnis des Mordermittlungsverfahrens gegen … – freigestellt worden war, welche Verfahren er vorrangig bearbeiten wolle. Vor diesem Hintergrund kann von einem elementaren Verstoß gegen die Rechtspflege nicht ausgegangen werden.

b.

Aber auch soweit dem Angeschuldigten vorgeworfen wird, trotz des Vorliegens des Ergebnisses toxikologischer Untersuchungen und sodann der Aussagen der Mithäftlinge des Verurteilten … keine weiteren Ermittlungen veranlasst zu haben (Fall 1. der Anklage), besteht der hinreichende Tatverdacht einer Rechtsbeugung nicht.

Allerdings weist die Staatsanwaltschaft in ihrer Beschwerdebegründung zutreffend darauf hin, dass es insoweit nicht auf die Frage ankommt, ob bereits ein die Anklageerhebung rechtfertigender hinreichender Tatverdacht gegeben war, sondern ob Anlass zu weiteren Ermittlungen bestand. Wenn allerdings der Angeschuldigte – in dem Zeitraum vor den Aussagen der Mithäftlinge – davon ausgehen musste, dass auch für den Fall, dass die anzuordnenden Exhumierungen und die nachfolgenden toxikologischen Untersuchungen den Nachweis des Wirkstoffs Gilurytmal erbracht hätte, eine Anklageerhebung nicht erfolgversprechend gewesen wäre, dann kann ihm, zumal unter Berücksichtigung der mit den Maßnahmen verbundenen Störungen der Totenruhe, der Vorwurf einer fehlerhaften Sachbehandlung nicht gemacht werden.

Anders stellt sich dieses zwar für die Zeit nach dem Bekanntwerden der angeblichen Offenbarung des Verurteilten … gegenüber Mitgefangenen dar. Insoweit musste nämlich der Angeschuldigte, sollten diese ihre Angaben im Rahmen der richterlichen Vernehmungen wiederholen, etwa wegen der fortschreitenden Verwesung einen Beweisverlust befürchten. Indessen erweist sich auch dieses Verhalten nicht als elementarer Verstoß gegen die Rechtspflege im Sinne des § 339 StGB. Bei dieser Bewertung darf nämlich, worauf bereits das wegen des Antrags auf vorläufige Dienstenthebung des Angeschuldigten mit der Sache befasste Niedersächsische Dienstgericht für Richter in seiner Entscheidung vom 8. Juni 2015 (113 DG 2/15) hingewiesen hat, nicht außer Betracht bleiben, dass auch die Dezernatsnachfolgerin des Angeschuldigten im Interesse der Beherrschbarkeit der Ermittlungen im Einvernehmen mit der Behördenleitung weitere 15 Monate mit der Ausweitung der Ermittlungen auf weitere Straftaten des Verurteilten … zuwarten durfte (a.a.O. S. 16 unten).

Angesichts eines bis dahin fehlenden, auf konkrete Einzelfälle bezogenen Geständnisses des Beschuldigten … kamen zwar als einzig erfolgversprechende Ermittlungsmaßnahmen nur die Exhumierungen sämtlicher Leichen der in dessen Dienstzeit verstorbenen Patienten in Betracht. Wenn aber der Angeschuldigte (und zunächst auch dessen Dezernatsnachfolgerin) in Absprache mit dem Behördenleiter – und in Kenntnis wohl auch der weiteren Dienstvorgesetzten, denen die Umstände des Falles … nicht verborgen geblieben sein können – zunächst von der Exhumierung zahlreicher Leichen absah, stellt dieses auch unter Berücksichtigung dessen, dass es um Mordermittlungen ging, keinen bewussten elementaren Verstoß gegen die Verpflichtung, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, und damit keine subjektiv schwere Rechtsverletzung im Sinne einer Rechtsbeugung dar.

5.

Da das Landgericht eine Strafbarkeit des Angeschuldigten wegen Rechtsbeugung im Ergebnis zu Recht bereits aus objektiven Gründen verneint hat, kommt wegen der insoweit bestehenden Sperrwirkung bereits aus diesem Grund eine Verurteilung wegen Strafvereitelung im Amt (§ 258a StGB) nicht in Betracht.

III.

Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 u. 2 StPO.

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