Übersicht
- Das Wichtigste: Kurz & knapp
- Gericht zweifelt an Schuldfähigkeit bei Trunkenheitsfahrt ohne Führerschein
- Der Fall vor Gericht
- Die Schlüsselerkenntnisse
- FAQ – Häufige Fragen
- Was versteht man unter „Schuldfähigkeit“ in einem Strafverfahren?
- Wann wird ein psychiatrisches Gutachten im Strafverfahren notwendig?
- Wie beeinflusst die Schuldfähigkeit das Strafmaß?
- Welche Folgen hat die unterbliebene Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen im Strafverfahren?
- Was passiert, wenn die Schuldfähigkeit des Angeklagten nachträglich anders bewertet wird?
- Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
- Wichtige Rechtsgrundlagen
- Das vorliegende Urteil
Das Wichtigste: Kurz & knapp
- Ein Angeklagter wurde wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis und Trunkenheit im Verkehr zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.
- Das Urteil wurde in der Berufung vor dem Landgericht Hildesheim bestätigt.
- Der Angeklagte legte Revision ein mit der Begründung, dass ein psychiatrisches Gutachten zur Prüfung der Schuldfähigkeit unterblieben sei.
- Das Oberlandesgericht Celle hob das Urteil auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung an eine andere Kammer des Landgerichts Hildesheim zurück.
- Das Landgericht hat es versäumt, einen psychiatrischen Sachverständigen zur Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten hinzuzuziehen.
- Das Fehlen dieses Gutachtens macht das Urteil rechtlich angreifbar.
- Das Gericht entschied, dass dieser Mangel einer rechtlichen Überprüfung nicht standhalte.
- Die Entscheidung zeigt die Wichtigkeit von psychiatrischen Gutachten bei Zweifeln an der Schuldfähigkeit.
- Das Urteil hat zur Folge, dass der Fall neu verhandelt wird, wobei die Schuldfähigkeit nun geprüft werden darf.
Gericht zweifelt an Schuldfähigkeit bei Trunkenheitsfahrt ohne Führerschein
Die Frage der Schuldfähigkeit eines Angeklagten steht im Zentrum vieler Strafverfahren. Hierbei geht es darum, ob der Angeklagte zum Zeitpunkt der Tat in der Lage war, das Unrecht seiner Handlung einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Ist dies nicht der Fall, kann ihm die Tat nicht vorgeworfen werden, da er aufgrund einer psychischen Störung oder Krankheit nicht schuldfähig war.
Besonders schwierig wird die Frage der Schuldfähigkeit, wenn Zweifel an der geistigen Gesundheit des Angeklagten bestehen. In solchen Fällen ist es essenziell, dass ein psychiatrischer Sachverständiger hinzugezogen wird. Dieser kann anhand seiner Expertise die psychische Verfassung des Angeklagten zum Tatzeitpunkt beurteilen und damit letztlich die Frage der Schuldfähigkeit klären.
Um die Bedeutung eines psychiatrischen Gutachtens im Strafprozess greifbarer zu machen, schauen wir uns im Folgenden einen konkreten Fall an.
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Der Fall vor Gericht
Unterbliebene psychiatrische Begutachtung bei Trunkenheitsfahrt ohne Führerschein
Der Fall dreht sich um einen Angeklagten, der wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in Tateinheit mit fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr zu einer dreimonatigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Das Amtsgericht Gifhorn hatte dieses Urteil am 19. September 2023 gefällt. Der Angeklagte legte daraufhin Berufung ein, die vom Landgericht Hildesheim am 20. Dezember 2023 als unbegründet verworfen wurde. Gegen diese Entscheidung des Landgerichts richtete sich nun die Revision des Angeklagten beim Oberlandesgericht Celle.
Der Kernpunkt des Falls liegt in der Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagten. Das Landgericht hatte es unterlassen, zur Klärung dieser entscheidenden Frage einen psychiatrischen Sachverständigen hinzuzuziehen. Diese Unterlassung wurde vom Oberlandesgericht Celle als rechtlich nicht haltbar eingestuft.
Bedeutung der Schuldfähigkeit im Strafverfahren
Die Schuldfähigkeit eines Angeklagten ist ein zentrales Element in jedem Strafverfahren. Sie bestimmt, ob eine Person für ihre Handlungen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann. Im vorliegenden Fall hätte die Frage der Schuldfähigkeit besonders sorgfältig geprüft werden müssen, da der Angeklagte nicht nur ohne Führerschein, sondern auch unter Alkoholeinfluss gefahren war.
Die Kombination aus Alkoholkonsum und der Entscheidung, trotz fehlendem Führerschein zu fahren, hätte Anlass zu einer genaueren Untersuchung der geistigen Verfassung des Angeklagten zum Tatzeitpunkt geben müssen. Ein psychiatrisches Gutachten hätte möglicherweise Aufschluss darüber geben können, ob der Angeklagte zum Tatzeitpunkt in der Lage war, die Rechtswidrigkeit seiner Handlungen zu erkennen und nach dieser Einsicht zu handeln.
Entscheidung des Oberlandesgerichts Celle
Das Oberlandesgericht Celle hat in seinem Beschluss vom 11. April 2024 das Urteil des Landgerichts Hildesheim aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. Diese Entscheidung basiert auf der Aufklärungsrüge, die der Angeklagte in seiner Revision geltend gemacht hatte.
Das Oberlandesgericht begründete seine Entscheidung damit, dass das Landgericht seiner Pflicht zur umfassenden Sachaufklärung nicht nachgekommen sei. Die Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen zur Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten wäre nach Ansicht des Oberlandesgerichts notwendig gewesen, um alle relevanten Aspekte des Falls angemessen zu berücksichtigen.
Auswirkungen auf das weitere Verfahren
Die Entscheidung des Oberlandesgerichts Celle hat weitreichende Folgen für den weiteren Verlauf des Verfahrens. Das Landgericht Hildesheim muss nun in einer neuen Verhandlung alle Aspekte des Falls erneut prüfen, insbesondere die Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagten. Dazu wird es voraussichtlich einen psychiatrischen Sachverständigen hinzuziehen müssen.
Das Gutachten des Sachverständigen könnte erheblichen Einfluss auf das Strafmaß oder sogar auf die grundsätzliche Frage der Strafbarkeit haben. Sollte der Sachverständige zu dem Schluss kommen, dass der Angeklagte zum Tatzeitpunkt schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war, könnte dies zu einer deutlichen Reduzierung der Strafe oder sogar zu einem Freispruch führen.
Für den Angeklagten bedeutet die Entscheidung des Oberlandesgerichts zunächst eine Verzögerung des Verfahrens, bietet ihm aber auch die Chance auf eine gründlichere und möglicherweise für ihn günstigere Beurteilung seines Falls. Die Kosten des Revisionsverfahrens und der neuen Verhandlung werden ebenfalls neu festgesetzt werden müssen.
Die Schlüsselerkenntnisse
Die Entscheidung des OLG Celle unterstreicht die fundamentale Bedeutung der Schuldfähigkeitsprüfung im Strafverfahren, insbesondere bei Trunkenheitsdelikten. Das Gericht stellt klar, dass die Unterlassung einer psychiatrischen Begutachtung in solchen Fällen einen erheblichen Verfahrensmangel darstellt. Diese Entscheidung schärft das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer umfassenden Sachaufklärung und betont die Pflicht der Gerichte, in Zweifelsfällen stets einen Sachverständigen hinzuzuziehen, um die Schuldfähigkeit des Angeklagten zuverlässig zu beurteilen.
Was bedeutet das Urteil für Sie?
Dieses Urteil unterstreicht die Bedeutung einer fairen und gründlichen Prüfung in Strafverfahren, insbesondere wenn es um die Schuldfähigkeit geht. Wenn Sie oder jemand, den Sie kennen, jemals in eine ähnliche Situation geraten, in der Zweifel an der Schuldfähigkeit bestehen, beispielsweise aufgrund von psychischen Erkrankungen oder Beeinträchtigungen, ist es wichtig zu wissen, dass das Gericht verpflichtet ist, diese Zweifel sorgfältig zu untersuchen. Ein psychiatrisches Gutachten kann in solchen Fällen entscheidend sein, um Ihre Rechte zu wahren und sicherzustellen, dass Sie ein gerechtes Verfahren erhalten. Das Urteil zeigt, dass es wichtig ist, sich bei Bedarf rechtlichen Beistand zu suchen, um sicherzustellen, dass alle relevanten Aspekte Ihres Falls berücksichtigt werden.
FAQ – Häufige Fragen
Im Strafrecht spielt die Frage der Schuldfähigkeit eine zentrale Rolle. Was genau bedeutet sie, wann wird sie geprüft und welche Auswirkungen hat sie auf das Strafmaß? Diese und weitere wichtige Fragen beantworten wir Ihnen in unserer FAQ-Rubrik. So erhalten Sie einen verständlichen Überblick über ein komplexes Thema.
Wichtige Fragen, kurz erläutert:
- Was versteht man unter „Schuldfähigkeit“ in einem Strafverfahren?
- Wann wird ein psychiatrisches Gutachten im Strafverfahren notwendig?
- Wie beeinflusst die Schuldfähigkeit das Strafmaß?
- Welche Folgen hat die unterbliebene Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen im Strafverfahren?
- Was passiert, wenn die Schuldfähigkeit des Angeklagten nachträglich anders bewertet wird?
Was versteht man unter „Schuldfähigkeit“ in einem Strafverfahren?
Die Schuldfähigkeit ist ein zentrales Konzept im Strafrecht und bezeichnet die Fähigkeit eines Täters, das Unrecht seiner Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Sie bildet die Grundlage für die strafrechtliche Verantwortlichkeit einer Person.
Im deutschen Strafrecht werden drei Stufen der Schuldfähigkeit unterschieden: die volle Schuldfähigkeit, die verminderte Schuldfähigkeit und die Schuldunfähigkeit. Bei voller Schuldfähigkeit kann der Täter uneingeschränkt für seine Handlungen zur Verantwortung gezogen werden. Dies ist der Regelfall bei erwachsenen Personen.
Eine verminderte Schuldfähigkeit liegt vor, wenn die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Täters zum Tatzeitpunkt erheblich eingeschränkt war. Dies kann beispielsweise bei bestimmten psychischen Erkrankungen oder starker Alkoholisierung der Fall sein. Bei verminderter Schuldfähigkeit kann das Gericht die Strafe nach § 21 StGB mildern.
Schuldunfähig ist ein Täter, wenn er aufgrund einer krankhaften seelischen Störung, einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. Dies ist in § 20 StGB geregelt. Schuldunfähige Personen können nicht bestraft werden, da sie für ihr Handeln nicht verantwortlich gemacht werden können.
Die Beurteilung der Schuldfähigkeit erfolgt für den konkreten Tatzeitpunkt. Es ist möglich, dass ein Täter nur vorübergehend schuldunfähig war, etwa aufgrund einer akuten psychotischen Episode. In komplexen Fällen wird häufig ein psychiatrischer Sachverständiger hinzugezogen, um die Schuldfähigkeit des Angeklagten zu beurteilen.
Die Feststellung der Schuldfähigkeit hat weitreichende Konsequenzen für das Strafverfahren. Bei Schuldunfähigkeit erfolgt ein Freispruch, es können jedoch Maßregeln der Besserung und Sicherung angeordnet werden, wie etwa die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Bei verminderter Schuldfähigkeit kann das Gericht die Strafe mildern, muss dies aber nicht zwingend tun.
Für Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren gelten besondere Regelungen. Hier muss im Einzelfall geprüft werden, ob sie zum Tatzeitpunkt die erforderliche Reife besaßen, um das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Kinder unter 14 Jahren gelten generell als schuldunfähig.
Die Beurteilung der Schuldfähigkeit erfordert eine sorgfältige Prüfung aller Umstände des Einzelfalls. Sie ist von großer Bedeutung für ein faires Strafverfahren, da nur schuldfähige Personen für ihre Taten bestraft werden können. In Zweifelsfällen muss das Gericht zugunsten des Angeklagten entscheiden.
Wann wird ein psychiatrisches Gutachten im Strafverfahren notwendig?
Ein psychiatrisches Gutachten wird im Strafverfahren notwendig, wenn Zweifel an der Schuldfähigkeit des Angeklagten bestehen. Das Gericht muss in solchen Fällen einen Sachverständigen hinzuziehen, um die psychische Verfassung des Beschuldigten zum Tatzeitpunkt zu beurteilen.
Konkrete Anlässe für die Beauftragung eines psychiatrischen Gutachtens ergeben sich häufig aus Auffälligkeiten im Verhalten des Angeklagten oder aus Hinweisen in den Ermittlungsakten. Dazu gehören beispielsweise Anzeichen für psychische Erkrankungen, Alkohol- oder Drogenabhängigkeit sowie ungewöhnliche Tatumstände, die auf eine eingeschränkte Steuerungsfähigkeit hindeuten könnten.
Bei Verdacht auf Alkohol- oder Drogeneinfluss zum Tatzeitpunkt ist eine sachverständige Begutachtung oft unerlässlich. Der Gutachter untersucht dabei, inwieweit die Substanzen die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Täters beeinträchtigt haben könnten. Dies ist besonders relevant, da eine erhebliche Beeinträchtigung durch Rauschmittel zu einer verminderten Schuldfähigkeit nach § 21 StGB führen kann.
Auch bei Anzeichen für psychische Störungen ist ein psychiatrisches Gutachten in der Regel erforderlich. Hierzu zählen etwa Schizophrenie, schwere Depressionen oder Persönlichkeitsstörungen. Der Sachverständige prüft, ob diese Erkrankungen zum Tatzeitpunkt vorlagen und inwieweit sie die Schuldfähigkeit beeinflusst haben könnten.
In Fällen von besonders schweren oder ungewöhnlichen Straftaten kann ein Gutachten ebenfalls angezeigt sein. Dies gilt insbesondere bei Kapitalverbrechen oder Taten, deren Motivation auf den ersten Blick nicht nachvollziehbar erscheint. Hier dient die psychiatrische Begutachtung dazu, mögliche zugrunde liegende psychische Störungen oder abnorme seelische Zustände zu identifizieren.
Das Gericht muss die Notwendigkeit eines psychiatrischen Gutachtens sorgfältig prüfen. Es darf nicht leichtfertig davon ausgehen, dass die Schuldfähigkeit uneingeschränkt gegeben ist. Bestehen auch nur geringe Zweifel, ist die Hinzuziehung eines Sachverständigen geboten. Dies ergibt sich aus der richterlichen Aufklärungspflicht gemäß § 244 Abs. 2 StPO.
Die Entscheidung über die Beauftragung eines psychiatrischen Gutachtens liegt letztlich im Ermessen des Gerichts. Allerdings kann eine unterlassene Begutachtung in bestimmten Fällen einen Verfahrensfehler darstellen. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich aus den Umständen des Falles konkrete Anhaltspunkte für eine mögliche Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit ergeben.
Verteidiger und Staatsanwaltschaft können die Einholung eines psychiatrischen Gutachtens anregen oder beantragen. Das Gericht muss solche Anträge sorgfältig prüfen und seine Entscheidung nachvollziehbar begründen, wenn es dem Antrag nicht folgt.
Die Erstellung eines psychiatrischen Gutachtens dient nicht nur der Beurteilung der Schuldfähigkeit, sondern kann auch für die Strafzumessung relevant sein. Selbst wenn keine Schuldunfähigkeit oder verminderte Schuldfähigkeit festgestellt wird, können die Erkenntnisse des Gutachtens die Persönlichkeit des Täters beleuchten und so zu einer angemessenen Strafbemessung beitragen.
In bestimmten Fällen kann ein psychiatrisches Gutachten auch für die Frage der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB entscheidend sein. Dies kommt in Betracht, wenn der Täter aufgrund eines länger andauernden psychischen Defektzustands als gefährlich für die Allgemeinheit eingestuft wird.
Die Notwendigkeit eines psychiatrischen Gutachtens ergibt sich somit aus einer Vielzahl möglicher Faktoren im Strafverfahren. Es dient der umfassenden Aufklärung des Sachverhalts und trägt dazu bei, eine gerechte und angemessene Entscheidung unter Berücksichtigung der individuellen Umstände des Angeklagten zu treffen.
Wie beeinflusst die Schuldfähigkeit das Strafmaß?
Die Schuldfähigkeit des Angeklagten hat einen erheblichen Einfluss auf das Strafmaß. Das Gericht muss bei der Strafzumessung berücksichtigen, inwieweit der Täter zum Tatzeitpunkt in der Lage war, das Unrecht seiner Handlung einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln.
Bei voller Schuldfähigkeit wird das im Gesetz vorgesehene Strafmaß angewandt. Liegt hingegen eine verminderte Schuldfähigkeit vor, kann das Gericht die Strafe nach § 21 StGB mildern. Dies bedeutet, dass der Strafrahmen nach unten verschoben wird. Bei einer lebenslangen Freiheitsstrafe kann beispielsweise auf eine zeitige Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren erkannt werden.
Eine vollständige Schuldunfähigkeit führt in der Regel zu einem Freispruch, da ohne Schuld keine Strafe verhängt werden kann. Allerdings kann das Gericht in solchen Fällen die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus anordnen, wenn von dem Täter aufgrund seines Zustandes weitere erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind.
Die Beurteilung der Schuldfähigkeit erfordert oft psychologische oder psychiatrische Fachkenntnisse. Daher ziehen Gerichte häufig Sachverständige hinzu, um den Geisteszustand des Angeklagten zum Tatzeitpunkt einzuschätzen. Dies ist besonders wichtig bei Hinweisen auf psychische Erkrankungen oder Suchtprobleme.
Ein Beispiel verdeutlicht die Auswirkungen: Ein Täter begeht unter Alkoholeinfluss eine gefährliche Körperverletzung. Normalerweise sieht das Gesetz hierfür eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren vor. War der Täter jedoch aufgrund seiner Alkoholisierung erheblich in seiner Steuerungsfähigkeit eingeschränkt, kann das Gericht eine mildere Strafe verhängen – etwa eine Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu siebeneinhalb Jahren.
Die Berücksichtigung der Schuldfähigkeit dient dazu, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Strafrecht Rechnung zu tragen. Es soll sichergestellt werden, dass nur derjenige bestraft wird, der für sein Handeln auch tatsächlich verantwortlich gemacht werden kann. Gleichzeitig muss das Gericht aber auch den Schutz der Allgemeinheit im Blick behalten, weshalb bei gefährlichen schuldunfähigen Tätern Maßregeln der Besserung und Sicherung in Betracht kommen.
Welche Folgen hat die unterbliebene Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen im Strafverfahren?
Die unterbliebene Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen im Strafverfahren kann schwerwiegende rechtliche Folgen nach sich ziehen. Wenn Anhaltspunkte für eine mögliche Einschränkung der Schuldfähigkeit des Angeklagten vorliegen, ist das Gericht verpflichtet, einen Sachverständigen hinzuzuziehen, um die Schuldfähigkeit fachkundig beurteilen zu lassen. Versäumt das Gericht diese Pflicht, liegt ein Aufklärungsmangel vor, der zur Aufhebung des Urteils führen kann.
Ein solcher Aufklärungsmangel verletzt den Grundsatz der bestmöglichen Sachaufklärung, der in § 244 Absatz 2 der Strafprozessordnung verankert ist. Das Gericht muss von Amts wegen alle Tatsachen und Beweismittel heranziehen, die für die Entscheidung von Bedeutung sind. Bei Zweifeln an der Schuldfähigkeit gehört dazu zwingend die Expertise eines psychiatrischen Sachverständigen.
Die fehlerhafte oder unvollständige Beurteilung der Schuldfähigkeit kann zu einem Fehlurteil führen. Wird beispielsweise eine verminderte Schuldfähigkeit oder gar Schuldunfähigkeit übersehen, kann dies eine zu harte Bestrafung oder eine Verurteilung trotz Schuldunfähigkeit zur Folge haben. Dies widerspricht dem Grundsatz der Strafzumessung, wonach die Strafe der Schuld des Täters entsprechen muss.
Auch wenn ein Urteil bereits rechtskräftig geworden ist, besteht die Möglichkeit, es aufgrund dieses schwerwiegenden Verfahrensfehlers anzufechten. Die Revision als Rechtsmittel kann in solchen Fällen erfolgreich sein, da der Aufklärungsmangel einen absoluten Revisionsgrund darstellt. Das Revisionsgericht wird das Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung an eine andere Kammer des Gerichts zurückverweisen.
In besonders gravierenden Fällen kann sogar eine Wiederaufnahme des Verfahrens in Betracht kommen. Dies ist möglich, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die eine erhebliche Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit belegen und im ursprünglichen Verfahren nicht berücksichtigt wurden.
Die unterlassene Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen kann zudem einen Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren darstellen, das in Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention garantiert ist. Dies eröffnet dem Betroffenen den Weg zur Verfassungsbeschwerde oder sogar zur Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Für die Justiz bedeutet ein solcher Verfahrensfehler einen erheblichen Mehraufwand. Die erneute Verhandlung bindet personelle und finanzielle Ressourcen. Zudem kann das Vertrauen in die Rechtsprechung Schaden nehmen, wenn der Eindruck entsteht, dass nicht alle notwendigen Schritte zur Wahrheitsfindung unternommen wurden.
Der Angeklagte selbst kann durch die unterbliebene sachverständige Begutachtung erhebliche Nachteile erleiden. Möglicherweise wurde er zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, obwohl bei korrekter Beurteilung seiner Schuldfähigkeit eine mildere Strafe oder sogar ein Freispruch angemessen gewesen wäre. Die psychische Belastung durch ein fehlerhaftes Urteil und ein möglicherweise jahrelanger Rechtsstreit bis zur Korrektur des Fehlers sind nicht zu unterschätzen.
Für die Opfer von Straftaten kann die nachträgliche Aufhebung eines Urteils aufgrund eines solchen Verfahrensfehlers ebenfalls belastend sein. Sie müssen unter Umständen erneut aussagen und sich mit der Tat auseinandersetzen, was den Prozess der Verarbeitung des Erlebten erschweren kann.
Im Interesse einer gerechten und rechtsstaatlichen Strafrechtspflege ist es daher unerlässlich, dass Gerichte bei Anzeichen für eine eingeschränkte Schuldfähigkeit stets einen psychiatrischen Sachverständigen hinzuziehen. Nur so kann sichergestellt werden, dass alle relevanten Aspekte für die Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit berücksichtigt werden und ein faires Verfahren gewährleistet ist.
Was passiert, wenn die Schuldfähigkeit des Angeklagten nachträglich anders bewertet wird?
Eine nachträgliche Neubewertung der Schuldfähigkeit eines Angeklagten kann weitreichende Folgen für das Strafverfahren haben. Wird im Nachhinein festgestellt, dass die Schuldfähigkeit des Angeklagten zum Tatzeitpunkt anders zu beurteilen ist als ursprünglich angenommen, muss das Gericht den Fall neu aufrollen.
Bei einer solchen Neubewertung prüft das Gericht zunächst, ob die neuen Erkenntnisse zur Schuldfähigkeit Auswirkungen auf den Schuldspruch haben. Ergibt sich etwa, dass der Angeklagte zum Tatzeitpunkt schuldunfähig war, kann dies zu einem Freispruch führen. War die Schuldfähigkeit lediglich vermindert, bleibt der Schuldspruch in der Regel bestehen.
In jedem Fall muss das Gericht die Strafzumessung neu vornehmen. Eine nachträglich festgestellte verminderte Schuldfähigkeit kann zu einer milderen Strafe führen. Das Gericht berücksichtigt dabei, inwieweit die psychische Verfassung des Angeklagten seine Steuerungsfähigkeit beeinträchtigt hat.
Auch die Frage nach Maßregeln der Besserung und Sicherung stellt sich neu. Bei einer festgestellten psychischen Erkrankung kann etwa die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet werden.
Das Gericht muss zudem prüfen, ob die neuen Erkenntnisse Auswirkungen auf die Glaubwürdigkeit von Zeugenaussagen oder die Beweiswürdigung insgesamt haben. Möglicherweise ergeben sich neue Zweifel an der Täterschaft des Angeklagten.
Ein konkretes Beispiel verdeutlicht die möglichen Folgen: Ein wegen Körperverletzung Verurteilter legt Revision ein. Im Revisionsverfahren stellt ein psychiatrisches Gutachten eine bisher unerkannte Schizophrenie fest. Das Revisionsgericht hebt daraufhin das Urteil auf und verweist den Fall zur erneuten Verhandlung zurück. Im neuen Prozess wird die verminderte Schuldfähigkeit berücksichtigt, was zu einer milderen Strafe und der Anordnung einer Therapie führt.
Die nachträgliche Neubewertung der Schuldfähigkeit kann also tiefgreifende Auswirkungen auf das gesamte Verfahren haben. Sie kann zu einer Wiederaufnahme des Prozesses, einer Neuverhandlung oder zumindest einer Neubestimmung des Strafmaßes führen. Für den Angeklagten kann dies eine deutliche Verbesserung seiner rechtlichen Situation bedeuten.
Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
- Schuldfähigkeit: Schuldfähigkeit bezeichnet die Fähigkeit eines Menschen, das Unrecht seiner Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Sie ist Voraussetzung für die strafrechtliche Verantwortlichkeit. Bei Erwachsenen wird die Schuldfähigkeit grundsätzlich vermutet. Sie kann jedoch durch psychische Störungen, Alkohol- oder Drogeneinfluss beeinträchtigt sein. Das Gericht muss in jedem Strafverfahren prüfen, ob der Angeklagte zum Tatzeitpunkt schuldfähig war. Fehlt die Schuldfähigkeit, kann keine Strafe verhängt werden. Bei verminderter Schuldfähigkeit kann die Strafe gemildert werden.
- Psychiatrisches Gutachten: Ein psychiatrisches Gutachten ist eine fachliche Stellungnahme eines psychiatrischen Sachverständigen zur psychischen Verfassung eines Angeklagten. Es wird im Strafverfahren eingeholt, wenn Zweifel an der Schuldfähigkeit bestehen. Der Gutachter untersucht den psychischen Zustand des Angeklagten zum Tatzeitpunkt und beurteilt, ob eine psychische Störung vorlag, die die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit beeinträchtigt hat. Das Gutachten ist für das Gericht nicht bindend, hat aber großes Gewicht für die Beurteilung der Schuldfähigkeit und damit für Strafbarkeit und Strafzumessung.
- Aufklärungsrüge: Die Aufklärungsrüge ist ein Rechtsmittel im Revisionsverfahren. Sie rügt, dass das Gericht seiner Pflicht zur umfassenden Sachaufklärung nicht nachgekommen ist. Der Angeklagte kann damit geltend machen, dass das Gericht relevante Beweismittel nicht erhoben oder wichtige Umstände nicht berücksichtigt hat. Im vorliegenden Fall wurde gerügt, dass kein psychiatrisches Gutachten zur Schuldfähigkeit eingeholt wurde. Eine begründete Aufklärungsrüge führt zur Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung an das Ausgangsgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung.
- Sachaufklärungspflicht: Die Sachaufklärungspflicht verpflichtet das Gericht, den Sachverhalt umfassend aufzuklären. Es muss alle für die Entscheidung relevanten Tatsachen ermitteln und alle verfügbaren Beweismittel ausschöpfen. Bei Zweifeln an der Schuldfähigkeit gehört dazu in der Regel die Einholung eines psychiatrischen Gutachtens. Die Verletzung der Sachaufklärungspflicht ist ein schwerwiegender Verfahrensfehler. Er kann zur Aufhebung des Urteils im Revisionsverfahren führen. Die Sachaufklärungspflicht dient der Wahrheitsfindung und soll ein faires Verfahren gewährleisten.
- Schuldunfähigkeit: Schuldunfähigkeit liegt vor, wenn der Täter bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln (§ 20 StGB). Schuldunfähige Personen können für ihre Taten strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden. Stattdessen können Maßregeln der Besserung und Sicherung wie die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet werden. Die Feststellung der Schuldunfähigkeit erfordert in der Regel ein psychiatrisches Gutachten.
- Verminderte Schuldfähigkeit: Verminderte Schuldfähigkeit liegt vor, wenn die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 StGB genannten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert war (§ 21 StGB). Sie führt nicht zum Ausschluss der Strafbarkeit, ermöglicht aber eine Strafmilderung. Das Gericht hat einen weiten Ermessensspielraum bei der Strafzumessung. Die verminderte Schuldfähigkeit muss durch ein psychiatrisches Gutachten festgestellt werden. Sie kommt häufig bei Alkohol- oder Drogeneinfluss in Betracht.
Wichtige Rechtsgrundlagen
- § 20 StGB (Schuldunfähigkeit): Dieser Paragraph regelt, dass jemand, der aufgrund einer psychischen Störung nicht in der Lage ist, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, nicht schuldfähig ist. Im vorliegenden Fall hätte die mögliche Schuldunfähigkeit des Angeklagten aufgrund seines Alkoholkonsums geprüft werden müssen.
- § 21 StGB (Verminderte Schuldfähigkeit): Dieser Paragraph findet Anwendung, wenn die Fähigkeit des Täters, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aufgrund einer psychischen Störung erheblich vermindert ist. Auch dies hätte im vorliegenden Fall geprüft werden müssen, da der Angeklagte unter Alkoholeinfluss stand.
- § 339 StPO (Revision): Dieser Paragraph ermöglicht es dem Angeklagten, das Urteil eines Landgerichts durch das Oberlandesgericht überprüfen zu lassen. Im vorliegenden Fall hat der Angeklagte erfolgreich Revision eingelegt und das Oberlandesgericht hat das Urteil aufgehoben.
- § 246 StPO (Pflicht zur Sachaufklärung): Dieser Paragraph verpflichtet das Gericht, alle Umstände des Falles zu ermitteln, die für die Entscheidung relevant sind. Im vorliegenden Fall hat das Oberlandesgericht entschieden, dass das Landgericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist, indem es keine psychiatrische Begutachtung zur Schuldfähigkeit des Angeklagten eingeholt hat.
- § 69 StGB (Entziehung der Fahrerlaubnis): Dieser Paragraph erlaubt es dem Gericht, die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn der Täter ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen ist. Die Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagten ist auch in diesem Zusammenhang relevant, da sie Einfluss auf die Beurteilung seiner Fahreignung haben kann.
Das vorliegende Urteil
OLG Celle – Az.: 3 ORs 10/24 – Beschluss vom 11.04.2024
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil der 7. kleinen Strafkammer des Landgerichts Hildesheim vom 20. Dezember 2023 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Hildesheim zurückverwiesen.
Gründe
Mit dem angefochtenen Urteil hat das Landgericht die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Gifhorn vom 19. September 2023, durch das der Angeklagte wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in Tateinheit mit fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt worden war, als unbegründet verworfen. Die dagegen gerichtete Revision des Angeklagten hat mit der zulässig erhobenen Aufklärungsrüge Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).
Das Landgericht hat davon abgesehen, zur Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagten einen psychiatrischen Sachverständigen zu hören. Das hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
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Nachdem das Landgericht festgestellt hat, dass der Angeklagte seit 2013 – und damit auch zum Tatzeitpunkt – an einer paranoiden Schizophrenie leidet, derentwegen er seitdem fortlaufend in ärztlicher Behandlung ist und Neuroleptika als Depotmedikation erhält, gebot die Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) die Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen. Dies galt hier umso mehr, als der Angeklagte nach dem weiteren Ergebnis der Beweisaufnahme zum Tatzeitpunkt unter der Einwirkung von Amphetamin und des Neuroleptikums Paliperidon stand, zwischen denen nach dem eingeholten gerichtsmedizinischen Gutachten Wechselwirkungen wahrscheinlich waren.
Zwar gibt es – abgesehen von § 246a StPO – keine allgemeinen Vorgaben, wann das Tatgericht bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit einen Sachverständigen hinzuziehen muss oder aufgrund eigener Sachkunde entscheiden kann (vgl. BGH StV 2008, 618). Liegen indes Anhaltspunkte vor, die geeignet sind, Zweifel an der vollen Schuldfähigkeit des Angeklagten bei Tatausführung zu wecken, so ist die Anhörung eines Sachverständigen in aller Regel geboten; denn derartige Zweifel rufen im Allgemeinen Beweisfragen hervor, zu deren zuverlässiger Beantwortung oft nicht einmal eine allgemeine ärztliche Ausbildung, sondern nur die intensive Arbeit innerhalb eines besonderen Fachgebiets befähigt (vgl. BGH NStZ-RR 2003, 19; 2007, 83; Becker in: Löwe/Rosenberg, StPO 27. Aufl., § 244 Rn 78 mwN). Solche Anhaltspunkte liegen etwa vor, wenn der Angeklagte in nervenärztlicher Behandlung stand oder steht oder wenn er erklärt hat, dass er an Schizophrenie leide und Medikamente benötige (BGH StV 1982, 54; 2011, 647; Becker aaO mwN). Die Beurteilung endogener Psychosen, zu denen auch die paranoide Schizophrenie gehört, sowie mehrerer belastender Faktoren im Zusammenwirken – wie etwa Drogenkonsum und psychopathische Persönlichkeit – bedarf stets sachverständiger Beratung (vgl. Verrel/Linke/Koranyi in: Leipziger Kommentar, StGB 13. Aufl., § 20 Rn. 236 mwN).
Die Urteilsgründe belegen auch nicht, dass hier trotz des Zusammentreffens mehrerer der vorstehend aufgezeigten Faktoren ein Ausnahmefall vorlag, in dem das Tatgericht über eine besondere Sachkunde verfügte oder aufgrund sonstiger Umstände Auswirkungen der psychischen Störung auf die Tatbegehung von vornherein auszuschließen waren. Solche ergeben sich insbesondere nicht daraus, dass der Angeklagte angegeben hat, am Tattag „weder Stimmen gehört noch unter Verfolgungswahn gelitten zu haben“ (S. 17 UA) und dass der Angeklagte „damals wegen seiner paranoiden Schizophrenie bereits medikamentös behandelt“ wurde und dies „nach den Angaben des Angeklagten zu einer Stabilisierung seines psychischen Zustands geführt habe“ (S. 17 UA). Denn die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Sachverständigen ist unabhängig von der Selbsteinschätzung des Angeklagten zu beurteilen (vgl. BGHR StGB § 21 Sachverständiger 8). Sie ist bei Vorliegen von Anzeichen, die auch nur eine gewisse Möglichkeit dafür geben, dass der Angeklagte in geistiger Hinsicht von der Norm abweichen könnte, selbst dann geboten, wenn der Angeklagte sich in der Hauptverhandlung nicht auf einen solchen Zustand beruft (BGH NStZ-RR 2006, 140).
Ungeachtet dessen hat sich der Angeklagte hier ausweislich der Urteilgründe dahin eingelassen, dass er „am Tattag psychotisch und aufgrund einer Phobie nicht in der Lage gewesen sei, mit dem Bus (…) zu fahren“ (S. 17 UA). Der Umstand, dass er seinem Vater gegenüber zuvor erklärte, er werde mit dem Bus fahren, steht dem nicht entgegen. Abgesehen davon, dass bereits die zeitliche Nähe zwischen diesem Gespräch und der Fahrt nicht genau festgestellt ist („unmittelbar vor dem 18.01.2023 bzw. am 18.01.2023“, S. 18 UA), existiert kein allgemeiner Erfahrungssatz, dass bei Vorliegen einer Phobie auch deren Erwähnung in diesem Zusammenhang zwingend zu erwarten gewesen wäre. Erst recht ist aber nicht ohne besondere Sachkunde zu beurteilen, wie sich dies bei Personen mit einer paranoiden Schizophrenie im Zusammenwirken mit Amphetaminintoxikation darstellt. Die Möglichkeit des späteren Auftretens der Symptome oder einer krankheitsbedingten Einengung der kognitiven Fähigkeiten in Bezug auf Handlungsalternativen und Problemlösung begründete die Notwendigkeit sachverständiger Beratung.
Hinzu kommt, dass der Angeklagte sich nach den Feststellungen zu den Vorstrafen auch schon gegenüber dem Amtsgericht Magdeburg auf eine vergleichbare Phobie berufen hat (S. 7 UA). Gerade mit Blick auf die wiederholte Behauptung einer Phobie war die Hinzuziehung eines Sachverständigen geboten. Denn endogene Psychosen wie die paranoide Schizophrenie sind differentialdiagnostisch von Persönlichkeitsstörungen abzugrenzen, die eine ähnliche Symptomatik aufweisen, insbesondere dem Borderline-Syndrom, welches mit – vorübergehenden oder dauerhaften – Symptomen wie Phobien, Zwangshandlungen oder Wahn einhergehen kann (Verrel/Linke/Koranyi aaO Rn. 85 mwN).
Auch zielstrebiges und folgerichtiges Verhalten steht der Annahme einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit nicht unbedingt entgegen (vgl. BGH NStZ-RR 2007, 83; 2009, 115). Abgesehen davon hat das Landgericht in seine Würdigung des Verhaltens des Angeklagten als „durchweg sachgerecht und unauffällig“ (S. 18 UA) sowie „völlig situationsgerecht“ (S. 19 UA) nicht einbezogen, dass der Angeklagte sich im Zustand einer Amphetaminintoxikation, die „erhebliche Auffälligkeiten“ (S. 15 UA) verursachte, sowie unter Mitführen einer Umhängetasche, die u.a. zwei Klemmleistenbeutel mit Marihuana, zwei Klemmleistenbeutel mit Amphetaminanhaftungen und drei Klemmleistenbeutel mit Ecstasy-Tabletten enthielt, auf den Weg zu einem Termin mit seiner Bewährungshelferin machte.
Vor diesem Hintergrund und angesichts der Feststellung, dass „der Angeklagte psychisch instabil ist und trotz der Einnahme der ihm ärztlicherseits verordneten Medikamente dazu neigt, kriminelle Handlungen zu begehen“ (S. 23 UA), durfte von der Hinzuziehung eines psychiatrischen Sachverständigen nicht abgesehen werden.
Auf diesem Rechtsfehler beruht das Urteil.