OLG Stuttgart – Az.: 4 Rv 25 Ss 983/21 – Beschluss vom 04.07.2022
In dem Strafverfahren hat das Oberlandesgericht Stuttgart – 4. Strafsenat – am 6. Juli 2022 beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts — 3. Große Jugendkammer – Tübingen vom 13. August 2021 aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Tübingen
zurückverwiesen.
Gründe:
Das Amtsgericht – Jugendschöffengericht – Reutlingen verurteilte den Angeklagten mit Urteil vom 18. Dezember 2020 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge u. a. zu der Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten bei Strafaussetzung zur Bewährung. Bei der zu den jeweiligen Tatzeiten heranwachsenden Mitangeklagten im, die die Taten gemeinschaftlich mit dem Angeklagten begangen habe, setzte das Jugendschöffengericht die Entscheidung über die Verhängung einer Jugendstrafe gegen Auflagen und Weisungen zur Bewährung aus.
Auf die Berufungen der Angeklagten hat das Landgericht — 3. Große Jugendkammer — Tübingen am 13. August 2021 das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Angeklagten des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in drei Fällen und des versuchten unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln schuldig gesprochen. Die Jugendkammer verurteilte den Angeklagten zu der Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten, bei der Mitangeklagten pp. setzte sie die Entscheidung über die Verhängung einer Jugendstrafe zur Bewährung aus (§ 27 JGG).
Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die näher ausgeführte allgemeine Sachrüge gestützten Revision.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das Rechtsmittel durch Beschluss nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet zu verwerfen.
II.
Die Revision des Angeklagten ist zulässig und hat (zumindest vorläufig) auch in der Sache Erfolg. Denn die Strafkammer hat die Annahme mittäterschaftlichen Handelns nicht hinreichend begründet.
1. Die Beweiswürdigung ist grundsätzlich Sache des Tatrichters (§ 261 StPO). Zu deren Überprüfung ist das Revisionsgericht nur eingeschränkt in der Lage. Es hat die tatrichterliche Würdigung grundsätzlich hinzunehmen und sich auf die Prüfung zu beschränken, ob die Urteilsgründe Fehler enthalten. Solche sind namentlich dann gegeben, wenn die Beweiswürdigung lückenhaft, in sich widersprüchlich oder unklar ist oder wenn sie gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt. Dabei brauchen die Schlussfolgerungen des Tatrichters nicht zwingend zu sein, sondern es genügt, dass sie möglich sind. Die Urteilsgründe müssen aber ergeben, dass alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, in die Beweiswürdigung einbezogen worden sind und überdies erkennen lassen, dass die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen, verstandesmäßig einsehbaren Tatsachengrundlage beruht und dass die vom Gericht gezogenen Schlussfolgerungen nicht lediglich Vermutungen sind, für die es weder eine belastbare Tatsachengrundlage noch einen gesicherten Erfahrungssatz gibt (BGH, Urteil vom 10. April 2019 — 1 StR 646/18, juris Rn. 12). Weiter muss der Tatrichter zwar nicht jede theoretisch denkbare, den Umständen nach jedoch fern-liegende Möglichkeit der Fallgestaltung berücksichtigen. Er muss aber die in Betracht kommenden Beweise erschöpfend würdigen und darf deshalb von mehreren naheliegenden tatsächlichen Möglichkeiten nicht nur eine in Betracht ziehen und die anderen außer Acht lassen (BGH, NJW 1974, 2295).
2. Von diesen Maßstäben ausgehend hält die Beweiswürdigung des Landgerichts der rechtlichen Überprüfung nicht stand.
a) Ob ein Beteiligter eine Tat als Täter oder als Gehilfe begeht, ist in wertender Betrachtung nach den gesamten Umständen, die von seiner Vorstellung umfasst sind, zu beurteilen. Wesentliche Anhaltspunkte können der Grad des eigenen Interesses am Erfolg der Tat, der Umfang der Tatbeteiligung, die Tatherrschaft oder wenigstens der Wille zu ihr sein (BGH, Beschluss vom 13. Juli 2021 — 1 StR 180/21, juris Rn. 4). Beim Handeltreiben mit Betäubungsmitteln setzt Mittäterschaft in subjektiver Hinsicht eine eigennützige, auf den Umsatz von Betäubungsmitteln gerichtete Tätigkeit voraus, die bloße Förderung fremden Eigennutzes genügt nicht (BGH, Beschluss vom 30. September 2021 — 4 StR 70/21, juris Rn. 8).
b) Diese Voraussetzungen sind in dem angefochtenen Urteil nicht hinreichend belegt. Weder werden einzelne Tatbeiträge des Angeklagten erörtert, noch hat sich die Jugendkammer erkennbar mit der Frage der Tatherrschaft befasst. Aus der Beweiswürdigung ergibt sich auch nicht, dass der Angeklagte eigennützig handelte. Zudem fehlt eine Auseinandersetzung mit der jedenfalls nicht fernliegenden Möglichkeit, dass es sich um Drogengeschäfte der Mitangeklagten pp., bei der ausweislich der Urteilsfeststellungen bereits seit 2013 eine Drogenproblematik besteht, handelte und der Angeklagte zwar von derartigen Ge-schäften wusste, ohne selbst mit Betäubungsmitteln zu handeln.
aa) Stattdessen wird lediglich darauf abgestellt, dass die Angeklagten in einer Einzimmerwohnung leben und eine feste Beziehung führen. Die Annahme, es gebe deshalb keine festen Zeiten, in denen zumindest eine Person nicht in der Wohnung ist, weshalb ein unbemerktes Bestellen oder Annehmen von Sendungen unwahrscheinlich sei, ist nicht durch Tatsachen belegt. Auch gibt es keinen Erfahrungssatz dahingehend, dass Paare ihre Zeit ganz überwiegend oder gar durchgehend gemeinsam verbringen.
Überdies hätte es auch keiner regelmäßigen Abwesenheiten eines der Angeklagten bedurft, um die insgesamt fünf bestellten Päckchen in Empfang zu nehmen, lässt sich der Eingang solcher Sendungen doch anhand des Bestellzeitpunktes und der inzwischen bei allen gängigen Paketdienstleistern möglichen Sendungsverfolgung durchaus präzise vorhersehen, sodass ohne größeren Aufwand Vorkehrungen für eine unbemerkte Entgegennahme getroffen werden können.
bb) Weiter legt die Strafkammer nicht konkret dar, weshalb es aufgrund der wohnlichen Situation ausgeschlossen sein soll, unbemerkt Päckchen zu lagern. Aus den im Urteil in Bezug genommenen Lichtbildern der Wohnung ergibt sich dies nicht. Vielmehr lässt die über-schaubare Menge der bestellten Betäubungsmittel eine heimliche Lagerung jedenfalls nicht ausgeschlossen erscheinen. Außerdem hätte auch die Möglichkeit bestanden, einmal in Empfang genommene Betäubungsmittel später andernorts zu lagern.
cc) Auch der von der Strafkammer herangezogene Marihuanakonsum der beiden Angeklagten belegt die angenommene Mittäterschaft nicht. Die Bezugsquelle der konsumierten Betäubungsmittel ist unbekannt, sodass nicht ausgeschlossen werden kann, dass nur einer der Angeklagten das Marihuana bezog und der Partnerin bzw. dem Partner anschließend den (Mit-)Konsum ermöglichte.
Zudem wurden vorliegend auch Ecstasy-Tabletten und Amphetamine bestellt; in Bezug auf diese Betäubungsmittel ergeben sich aus dem eigenen Konsumverhalten der Angeklagten keine Anhaltspunkte für eine Mittäterschaft.
dd) Auch die Verwendung des Klarnamens der Mitangeklagten pp. im Fall 4 bzw. des An-geklagten im Fall 5 begründet mittäterschaftliches Handeln nicht. Es liegt jedenfalls nicht fern, dass sich einer der beiden Angeklagten lediglich mit der Verwendung der Klarnamen einverstanden erklärte, ohne dabei selbst eigennützig zu handeln. Auch insoweit hätte eine Abgrenzung zur Beihilfe erfolgen müssen.
3. Das Urteil des Landgerichts Tübingen ist daher mit den Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückzuverweisen (§ 349 Abs. 4, § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO).
4. Eine Erstreckung der Urteilsaufhebung auf die Mitangeklagte pp. kommt nicht in Betracht. § 357 StPO findet vorliegend keine Anwendung, da die nach Jugendstrafrecht verurteilte Mitangeklagte keine Revision einlegen konnte (§ 55, § 109 Abs. 2 Satz 1 JGG; vgl. BGH, NJW 2006, 2275, 2276; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 357, Rn. 7).