OLG Stuttgart – Az.: 4 Rv 28 Ss 175/19 – Beschluss vom 22.05.2019
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts – 23. Kleine Strafkammer – Tübingen vom 16. November 2018 im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Kleine Strafkammer zuständige Abteilung des Landgerichts Tübingen zurückverwiesen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Rottenburg am Neckar verurteilte den Angeklagten am 30. April 2018 wegen vorsätzlicher Körperverletzung und Sachbeschädigung zu der Gesamtgeldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 5 Euro. Gegen dieses Urteil legte allein die Staatsanwaltschaft Tübingen form- und fristgerecht Berufung zu Ungunsten des Angeklagten ein, die sie vor der Berufungshauptverhandlung wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte. Mit ihrem Rechtsmittel verfolgte sie das Ziel, den Ausspruch einer Gesamtfreiheitsstrafe gegen den Angeklagten zu erreichen.
Auf diese Berufung hat das Landgericht – 23. Kleine Strafkammer – Tübingen das Urteil des Amtsgerichts im Rechtsfolgenausspruch mit der Maßgabe abgeändert, dass gegen den Verurteilten eine Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten verhängt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte Revision eingelegt, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt.
Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, die Revision des Angeklagten als unbegründet zu verwerfen.
II.
Die zulässige Revision des Angeklagten hat, wenngleich die Verfahrensrüge unausgeführt blieb und somit unzulässig ist, mit der erhobenen Sachrüge zumindest vorläufig Erfolg.
1. Nach den Feststellungen, die das Amtsgericht im Urteil vom 30. April 2018 getroffen hat, schlug der alkoholisierte, aber in seiner Steuerungsfähigkeit nicht eingeschränkte Angeklagte in den frühen Morgenstunden des 19. November 2017 in Rottenburg einem ihm unbekannten Passanten drei Mal mit der Faust ins Gesicht, wodurch zum einen die Brille des Geschädigten, die einen Wert von 450,- € hatte, verlorenging und der Geschädigte zudem Schmerzen, eine Schürfwunde sowie ein leichtes Hämatom im Gesicht erlitt, was der Angeklagte zumindest billigend in Kauf nahm. Danach warf er aufgrund neuen Tatentschlusses im Bereich eines ehemaligen Bistros vier Windlichter um, wodurch an diesen Scheiben zu Bruch gingen und ein Sachschaden von ca. 200 Euro entstand. Auch dies nahm der Angeklagte zumindest billigend in Kauf. Die Staatsanwaltschaft bejahte in Bezug auf beide Taten das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung, in Bezug auf die erste Tat lag zudem ein form- und fristgerechter Strafantrag des Geschädigten vor. Ausgehend hiervon verurteilte das Amtsgericht den Angeklagten wegen vorsätzlicher Körperverletzung und Sachbeschädigung zu der Gesamtgeldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 5 Euro.
Auf die Berufung der Staatsanwaltschaft, die wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt wurde, hat das Landgericht dieses Urteil im Rechtsfolgenausspruch mit der Maßgabe abgeändert, dass gegen den Verurteilten eine Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten verhängt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Dabei hat es für die beiden Taten Einzelfreiheitsstrafen von fünf Monaten und zwei Monaten verhängt. Diese hielt das Gericht zur Einwirkung auf den Angeklagten für unerlässlich im Sinne des § 47 Abs. 1 StGB. Zur Begründung führte es an, dass die Verhängung einer erneuten Geldstrafe gegen den Verurteilten wirkungslos sei, weil er bereits mehrfach und insbesondere auch wegen Körperverletzungsdelikten verurteilt worden sei, wobei weder jugendrichterliche Zuchtmittel und Erziehungsmaßregeln noch eine am 19. April 2017 wegen versuchter Körperverletzung verhängte Geldstrafe ihn vor dem raschen und einschlägigen Rückfall mit den verfahrensgegenständlichen Aggressionsdelikten im November 2017 bewahrt hätten. Dass die damalige Verhängung der Geldstrafe ohne mündliche Verhandlung im Strafbefehlswege ausgesprochen worden sei, rechtfertige keine andere Bewertung, da der Angeklagte geistig durchaus in der Lage sei, die Bedeutung und Tragweite einer Verurteilung durch einen Strafbefehl zu erfassen.
Im Rahmen der konkreten Strafzumessung berücksichtigte das Landgericht bei beiden verfahrensgegenständlichen Taten zugunsten des Angeklagten sein Geständnis, seine alkoholbedingte Enthemmung und seine erhöhte Haftempfindlichkeit wegen fehlender Hafterfahrung. Ferner stellte es strafmildernd ein, dass die Taten länger zurückliegen, der Angeklagte seinen kritischen Umgang mit Suchtmitteln und seine Neigung zu aggressiven Ausbrüchen erkannt hat und er zudem bemüht war, fachliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, um einer Wiederholungsgefahr entgegenzuwirken. Zu Lasten des Angeklagten wertete das Landgericht seine strafrechtlichen Vorauffälligkeiten und den Umstand, dass er mit hoher Rückfallgeschwindigkeit wieder einschlägig in Erscheinung getreten ist und dass er bei der ersten Tat mehrmals mit der Faust auf eine besonders schmerzempfindliche Stelle eingeschlagen hat, wobei er allerdings keine erheblichen oder dauerhaften Verletzungen verursachte.
2. Diese Strafzumessungserwägungen des Landgerichts halten im Hinblick auf die Verhängung kurzer Freiheitsstrafen rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
a) Die Strafzumessung ist zwar grundsätzlich Sache des Tatgerichts. Es ist seine Aufgabe, auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den es in der Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des Täters gewonnen hat, die wesentlichen entlastenden und belastenden Umstände festzustellen, sie zu bewerten und hierbei gegeneinander abzuwägen. Ein Eingriff des Revisionsgerichts in diese Einzelakte der Strafzumessung ist in der Regel nur möglich, wenn die Zumessungserwägungen in sich fehlerhaft sind, wenn das Tatgericht gegen rechtlich anerkannte Strafzwecke verstößt oder wenn sich die verhängte Strafe nach oben oder unten von ihrer Bestimmung löst, gerechter Schuldausgleich zu sein. Eine ins Einzelne gehende Richtigkeitskontrolle ist dagegen ausgeschlossen. Dem Revisionsgericht ist es verwehrt, seine eigene Wertung an die Stelle des Tatgerichts zu setzen. Vielmehr muss es die von ihm vorgenommene Bewertung bis an die Grenze des Vertretbaren hinnehmen (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 13. März 2019 – 1 StR 367/18, juris Rn. 14 und BGH, Urteil vom 10. April 2019 – 2 StR 598/18, juris Rn. 9; KK-StPO/Kuckein/Bartel, 8. Aufl., § 267 Rn. 23).
Zu beachten ist aber, dass nach der gesetzgeberischen Grundentscheidung des § 47 StGB die Verhängung kurzfristiger Freiheitsstrafen weitestgehend zurückgedrängt werden und nur noch ausnahmsweise unter besonderen Umständen in Betracht kommen soll (BGH, Urteil vom 3. Juni 1971 – 1 StR 189/71, juris Rn. 5; BGH, Urteil vom 8. Mai 1996 – 3 StR 133/96, juris Rn. 3; Fischer StGB, 66. Aufl., § 47 Rn.2 und 5). Die Verhängung einer Freiheitsstrafe unter sechs Monaten hat danach regelmäßig nur dann Bestand, wenn sie sich aufgrund einer Gesamtwürdigung aller die Tat und den Täter kennzeichnenden Umstände als unverzichtbar erweist (BGH, Beschluss vom 3. März 1994 – 4 StR 75/94, juris Rn. 3 und BGH, Urteil vom 8. Mai 1996 – 3 StR 133/96, juris Rn. 3; Fischer, aaO, § 47 Rn. 5). Den daraus unter dem Gesichtspunkt der sachlich-rechtlichen Nachprüfbarkeit folgenden Begründungsanforderungen (vgl. KK-StPO/Kuckein/Bartel, aaO, § 267 Rn. 25, 32) wird das angefochtene Urteil nicht gerecht, da ein bestimmender Gesichtspunkt zur Frage der Verhängung kurzer Freiheitsstrafen nicht erörtert wird und sich die Strafzumessung insofern als lückenhaft erweist.
b) Denn das Landgericht setzt sich in den schriftlichen Urteilsgründen nicht mit der Frage auseinander, ob ein – zusätzlich zu einer Geldstrafe – angeordnetes Fahrverbot im vorliegenden Fall die Verhängung der kurzen Freiheitsstrafen von fünf bzw. zwei Monaten entbehrlich machen kann. Dies lässt besorgen, dass die Bestimmung des § 44 StGB in der seit dem 24. August 2017 – und somit zur Tatzeit bereits gültigen – Fassung nicht berücksichtigt wurde, die es nunmehr ermöglicht, ein Fahrverbot als Nebenstrafe über den Bereich der Verkehrsdelikte hinaus bei allen Straftaten anzuordnen. Dabei soll die Anordnung des Fahrverbots bei Delikten ohne Verkehrsbezug, die also nicht bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs oder unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers begangen wurden, nach § 44 Abs. 1 Satz 2 StGB „namentlich“ dann in Betracht kommen, wenn sie zur Einwirkung auf den Täter oder zur Verteidigung der Rechtsordnung erforderlich erscheint oder hierdurch die Verhängung oder Vollstreckung einer Freiheitsstrafe verhindert werden kann. In dieser Aufzählung kommt – neben dem Ziel, auf mit der Geldstrafe nicht hinreichend zu beeindruckende, etwa besonders vermögende Täter besser einwirken zu können – insbesondere auch der Wille des Gesetzgebers zum Ausdruck, durch die Neufassung des § 44 StGB und die dadurch bewirkte Erweiterung des Strafensystems für den Bereich der kleineren bis mittleren Kriminalität die Anordnung und Vollstreckung von Freiheitsstrafen in bestimmten Fällen zu vermeiden (vgl. hierzu die Begründung des Gesetzentwurfs, BT-Drucks. 18/11272, S. 14, 16 f.; zu den verfolgten Zielen auch Schöch in NStZ 2018, 15 (16 ff.); zur Kritik an der Neufassung des § 44 StGB Fischer, aaO, § 44 Rn. 7, 17ff. mwN; Schönke/Schröder/Kinzig StGB, 30. Aufl., § 44 Rn. 1b mwN). Diese vom Gesetzgeber verfolgten Ziele wurden durch die Einfügung des § 44 Abs. 1 Satz 2 StGB betont, die auf die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses erfolgte, um den Gerichten „Leitlinien“ für die Entscheidung an die Hand zu geben und die Fallkonstellationen hervorzuheben, bei denen die zusätzliche Verhängung des Fahrverbots im Falle allgemeiner Straftaten vornehmlich in Betracht kommt (vgl. Begründung der Beschlussempfehlung, BT-Drucks. 18/12785, S. 43).
Diese Ausweitung des Anwendungsbereichs der Nebenstrafe eines Fahrverbots auf allgemeine Straftaten und die mit dieser Ergänzung des Strafensystems verfolgten Ziele begründen zwar, wie auch § 267 Abs. 3 StPO deutlich macht, keine generelle Erörterungspflicht in Urteilen. Dementsprechend bedarf es einer Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Anordnung eines Fahrverbots zu erfolgen hat, insbesondere dann nicht, wenn die Straftat nicht bei oder im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs oder unter Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers begangen wurde, keine auf ein Fahrverbot gerichteten Anträge gestellt wurden und klar auf der Hand liegt, dass die Anordnung des Fahrverbots unter keinem der in § 44 Abs. 1 Satz 2 StGB genannten Gesichtspunkte in Betracht kommt und auch sonst keine besonderen Umstände zu ihrer Anwendung drängen (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 28. März 2019 – 2 RVs 15/19, juris Rn. 9 ff.).
Anders ist dies allerdings zu beurteilen, sofern die Umstände des Falles die Anordnung eines Fahrverbots naheliegend erscheinen lassen (OLG Düsseldorf, aaO, juris Rn. 13), weil etwa eine Fallkonstellation nach § 44 Abs. 1 Satz 2 StGB erörterungsbedürftig erscheint. In solchen Fällen kann die Nichtbehandlung der Frage, ob ein Fahrverbot anzuordnen ist oder dies zu unterbleiben hat, einen sachlich-rechtlichen Mangel begründen, der auf die Sachrüge zur Aufhebung des Urteils führt.
So verhält es sich hier. Dem Urteil liegt eine Konstellation zugrunde, für die der Gesetzgeber mit der Neufassung des § 44 Abs. 1 StGB dem Gericht die Prüfung ermöglichen wollte, ob durch die Kombination einer Geldstrafe mit einem Fahrverbot die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe vermieden werden kann. Angesichts der insofern eröffneten Ermessensentscheidung und den hierzu in § 44 Abs. 1 Satz 2 StGB formulierten „Leitlinien“ für typische Anwendungsfälle des Fahrverbots bei Nichtverkehrsstraftaten (vgl. BT-Drucks. 18/12785, S. 43), handelt es sich vorliegend um einen bestimmenden Aspekt der Strafzumessung, der nach § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO in den Urteilsgründen zu behandeln ist. Die Erörterung ist zwingend geboten, weil die verfahrensgegenständlichen Delikte dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen sind, der Angeklagte ausweislich der Urteilsfeststellungen über eine Fahrerlaubnis verfügt und die im Rahmen des § 47 StGB angestellten Erwägungen – zumal das Amtsgericht in der erstinstanzlichen Entscheidung schon die Verhängung einer Gesamtgeldstrafe für ausreichend erachtet hatte – jedenfalls nicht derart eindeutig für die Verhängung kurzer Freiheitsstrafen sprechen, dass diese nicht möglicherweise doch durch die zusätzliche Sanktionierung mit einem Fahrverbot vermieden werden könnten. Dabei ist auch zu sehen, dass der Angeklagte zwar schon mehrfach strafrechtlich und darunter auch wiederholt wegen Körperverletzungs- und Aggressionsdelikten in Erscheinung getreten ist. Auf diese Taten wurde aber – neben Verfahrenseinstellungen nach den §§ 45, 47 JGG – durch Urteile vom 21. Mai 2012 und 25. September 2013 noch mit jugendstrafrechtlichen Mitteln der richterlichen Weisungen sowie Arbeits- und Geldauflagen reagiert. Erst durch einen Strafbefehl des Amtsgerichts Rottenburg vom 19. April 2017 erfolgte dann eine Sanktionierung nach Erwachsenenstrafrecht, wobei wegen Beleidigung in drei tateinheitlichen Fällen, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Beleidigung und mit versuchter vorsätzlicher Körperverletzung sowie wegen Beleidigung in zwei tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit Bedrohung eine Gesamtgeldstrafe von 60 Tagessätzen à 10 Euro gegen ihn verhängt wurde. Der Angeklagte wurde bislang noch nicht zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und auch ein Fahrverbot wurde gegen ihn offenbar noch nicht verhängt. Zudem zeigte sich der Angeklagte ausweislich der Feststellungen, die im angegriffenen Berufungsurteil getroffen wurden, geständig und einsichtig im Hinblick auf seinen problematischen Suchtmittelkonsum und seine Neigung zu aggressivem Verhalten, zumal er sich diesbezüglich um die Erlangung fachlicher Hilfe bemüht hatte.
c) Ob vor diesem Hintergrund und etwaiger ergänzend zu treffender Feststellungen zur persönlichen Situation und Entwicklung des Angeklagten eine Kombination aus Geldstrafe und Fahrverbot ausreichen kann, um auch ohne die Verhängung von Freiheitsstrafe in dem erforderlichen Maße auf den Angeklagten einzuwirken und neue Straftaten zu vermeiden oder ob dies vorliegend nicht genügt, weil etwa die Aggressions- und Suchtmittelproblematik zu stark sowie der Eindruck einer Bewährungsstrafe und damit einhergehende Bewährungsweisungen erforderlich sind, kann im Revisionsverfahren nicht entschieden werden, sondern muss der noch vorzunehmenden Prüfung durch das Tatgericht vorbehalten bleiben. Dabei wird auch die spezifische Wirkung des Fahrverbots auf den Angeklagten zu berücksichtigen sein, ob und ggf. wie schwer ihn dieses also – möglicherweise auch in beruflicher Hinsicht – treffen würde und wie sehr es ihn zu beeindrucken vermag. Ferner bleibt zu beachten, dass aus der Kombination von Geldstrafe und zusätzlich verhängtem Fahrverbot keine unverhältnismäßige Belastung folgen, das Maß der Tatschuld nicht überschritten und auch nicht gegen das Verschlechterungsverbot verstoßen werden darf (vgl. zum Ganzen BT-Drucks. 18/12785, S. 43; Fischer, aaO, § 44 Rn. 18, 25 und 40).