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Fahren ohne Fahrerlaubnis – Wiederaufnahme eines Strafverfahrens

LG Berlin, Az.: 502 Qs 71/16, Beschluss vom 22.12.2016

Auf die Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 06.10.2016 aufgehoben. Die Wiederaufnahme des Verfahrens wird angeordnet, der Strafbefehl vom 10.03.2014 wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht Tiergarten – Strafrichter – zurückverwiesen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Beschuldigten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Landeskasse Berlin zur Last.

Gründe

I.

Mit Strafbefehl vom 10.03.2014 – (zunächst) rechtskräftig seit dem 29.03.2014 – war der Beschwerdeführer wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in zwei Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe von 100 Tagessätzen zu je 20,- Euro verurteilt worden, da er an zwei Tagen in Berlin ein Kraftfahrzeug im Straßenverkehr führte, obwohl ihm mit Bescheid vom 11.05.2010 die Fahrerlaubnis durch das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten Berlin entzogen worden war, wobei die sofortige Vollziehung dieser Maßnahme angeordnet worden war. Nach erfolgloser Widerspruchseinlegung gegen diesen Bescheid und abweisendem erstinstanzlichen verwaltungsgerichtlichem Urteil hob das Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg mit rechtskräftigem Urteil vom 24.04.2014 – OVG 1 B 3.13, VG 4 K 483.10 Berlin – diesen Bescheid (in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.09.2010) – d.h. den Entzug der Fahrerlaubnis des Beschwerdeführers – auf. Dies teilte der Beschwerdeführer der Staatsanwaltschaft mit am 12.05.2014 eingegangenem Schreiben mit, verwies dabei auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und vertrat die Ansicht, dass dadurch auch seine Strafbarkeit rückwirkend entfallen sei. Er bat abschließend darum, das Erforderliche zu veranlassen. Mit Beschluss vom 12.08.2015 – 297/295 Cs 45/15 – hatte das Amtsgericht Tiergarten den in diesem Schreiben gesehenen Antrag auf Wiederaufnahme des rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens als unzulässig verworfen, da er nicht das Formerfordernis des § 366 Abs. 2 StPO erfülle. Danach kann der Wiederaufnahmeantrag nur mittels einer von dem Verteidiger oder einem Rechtsanwalt unterzeichneten Schrift oder zu Protokoll des Geschäftsstelle angebracht werden. Weiter heißt es in dem Beschluss, dass kein Wiederaufnahmegrund gemäß § 359 StPO vorliege, da sich aus dem Urteil des OVG Berlin-Brandenburg keine neuen die Wiederaufnahme des Verfahrens begründenden Tatsachen ergeben würden.

Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 09.06.2016 stellte der Beschwerdeführer ausdrücklich einen Wiederaufnahmeantrag und stützt diesen im Wesentlichen darauf, dass das Urteil des OVG Berlin-Brandenburg zum Zeitpunkt des Erlasses des Strafbefehls noch nicht vorlag und nun durch die rückwirkende Aufhebung des Fahrerlaubnisentzuges ein Wiederaufnahmegrund gemäß § 359 Nr. 4 StPO analog bzw. § 359 Nr. 5 StPO gegeben sei. Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Amtsgericht Tiergarten diesen Antrag als unzulässig verworfen. Zur Begründung wird ausgeführt, dass das jetzige Wiederaufnahmevorbringen bereits verbraucht sei, da mit dem Beschluss vom 12.08.2015 bereits eine rechtskräftige abweisende Sachentscheidung ergangen sei. Darüber hinaus werde kein gesetzlicher Grund zur Wiederaufnahme geltend gemacht, da § 359 Abs. 1 Nr. 4 StPO nicht entsprechend auf Verwaltungsakte angewendet werden könne. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs vermöge eine spätere rückwirkende Aufhebung eines vollziehbaren Verwaltungsaktes durch ein verwaltungsgerichtliches Urteil die bereits vollendete Verwirklichung des Straftatbestandes und damit die Strafbarkeit der Zuwiderhandlung nachträglich nicht zu beseitigen.

Hiergegen wendet sich der Beschwerdeführer mit seiner sofortigen Beschwerde vom 17.10.2016, in der er maßgeblich auf die von der des Bundesgerichtshofs abweichende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Frage der Strafbarkeit einer strafbewehrten Zuwiderhandlung gegen einen sofort vollziehbaren Verwaltungsakt, der allerdings nachträglich durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit als rechtswidrig aufgehoben wird, hinweist. Auch trägt er im Wesentlichen vor, dass es sich bei dem Beschluss vom 12.08.2015 um keine rechtskräftige abweisende Sachentscheidung handele. Denn der Beschwerdeführer habe in seinem Schreiben vom 10.05.2014 keinen Wiederaufnahmeantrag gestellt – weder ausdrücklich noch sei dies dem Schreiben zu entnehmen, da der Zweck des Hinweises auf das Urteil des OVG Berlin-Brandenburg nicht eindeutig sei – statt der Stellung eines Wiederaufnahmeantrages sei ebenso die Geltendmachung eines Vollstreckungshindernisses denkbar. Deshalb ginge der Beschluss ins Leere und könne keine rechtskräftige abweisende Sachentscheidung sein.

II.

Das Rechtsmittel ist zulässig, insbesondere am 18.10.2016 rechtzeitig innerhalb der Wochenfrist nach Zustellung des Beschlusses am 14.10.2016 erhoben. Auch in der Sache hat es Erfolg. Der Wiederaufnahmeantrag ist im Sinne des § 368 StPO zulässig und gemäß § 370 StPO begründet.

Das Wiederaufnahmevorbringen, wonach die Strafbarkeit des Verhaltens des Beschwerdeführers nach § 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG aufgrund der rückwirkenden Aufhebung der Entziehung der Fahrerlaubnis durch das Urteil des OVG Berlin-Brandenburg entfiele, ist nicht aufgrund des Beschlusses des Amtsgerichts Tiergarten vom 12.08.2015 verbraucht. Denn – wie der Beschwerdeführer zutreffend ausführt – stellte er in seinem Schreiben vom 10.05.2014 gerade keinen ausdrücklichen Wiederaufnahmeantrag. Es widerspräche aber dem Begünstigungsgrundsatz, aus diesem Schreiben einen solchen konkludent gestellten Antrag herzuleiten und ihn dann wegen Formmangels i.S.d. § 366 Abs. 2 StPO als unzulässig zu verwerfen, weil er eben nicht vom Beschwerdeführer selbst durch ein einfaches Schreiben hätte gestellt werden können. Insoweit geht der vorangegangene Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten ins Leere.

Zudem liegt hier ein Wiederaufnahmegrund gemäß § 359 Nr. 4 StPO in entsprechender Anwendung vor. Danach ist die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zugunsten des Verurteilten zulässig, wenn ein zivilgerichtliches Urteil, auf welches das Strafurteil gegründet ist, durch ein anderes rechtskräftig gewordenes Urteil aufgehoben ist. Diese Vorschrift ist entsprechend auf die spätere verwaltungsgerichtliche Aufhebung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes, der die Strafbarkeit begründet hat, anzuwenden (Vgl. BVerfGE 22, 21 = Beschl. v. 23.05.1967, 2 BvR 534/62 – juris Rn. 17; OLG Frankfurt, BeckRS 9998, 111526; LR-Gössel, StPO, 26. Aufl. 2012, § 359 Rn. 47; a.A. BGHSt 23, 86 = Beschl. v. 23.07.1969 – 4 StR 371/68 = BeckRS 9998. 110077; Meyer-Goßner, in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl 2015, § 359 Rn. 17 m.w.N.). Die Argumentation des BGH, wonach dies nicht in Betracht komme, da die Strafbarkeit einer strafbewehrten Zuwiderhandlung gegen einen sofort vollziehbaren Verwaltungsakt auch dann gegeben sei, wenn dieser nachträglich durch ein Verwaltungsgericht mit ex-tunc-Wirkung als rechtwidrig aufgehoben werde, vermag nicht zu überzeugen. Danach müsse dem Betroffenen zugemutet werden, der Anordnung bei Gefahr der Bestrafung nachzukommen, auch wenn noch nicht feststehe, ob eine Zuwiderhandlung letztlich das sachliche Recht verletze, weil noch die Möglichkeit der Aufhebung des Verwaltungsaktes durch das Verwaltungsrecht bestehe (Vgl. BGH, a.a.O.). Dies würden die berechtigten Bedürfnisse der staatlichen Ordnung gebieten, welche auch ein Anliegen der Allgemeinheit seien und denen sich jeder einsichtige Bürger, der Ordnung und Sicherheit wünsche, beugen müsse (Vgl. BGH, a.a.O.). Die spätere Aufhebung eines strafbewehrten Verwaltungsaktes lasse die Strafbarkeit einer bereits vorher begangenen Zuwiderhandlung unberührt, da der spätere Wegfall eines Tatumstandes, der für die Verwirklichung des Straftatbestandes wesentlich gewesen sei, auch dann die bereits vollendete Zuwiderhandlung nicht beseitigen könne, auch wenn der Tatumstand rückwirkend entfalle (Vgl. BGH, a.a.O.).

Hiergegen ist zunächst mit dem Bundesverfassungsgericht einzuwenden, dass zwischen der verwaltungsrechtlichen Durchsetzung eines sofort vollziehbaren Verwaltungsaktes und der Ahndung einer Zuwiderhandlung gegen diesen nach dem Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht zu unterscheiden ist (Vgl. BVerfGE 87, 399 = Beschl. v. 1.12.1992 – 1 BvR 88/91, 1 BvR 576/91 – juris Rn. 54). Der Grund dafür, dass es bei der Durchsetzung eines sofort vollziehbaren Verwaltungsaktes nicht auf dessen Rechtmäßigkeit ankommt, liegt in der Situationsgebundenheit der Entscheidung, deren Vollzug nicht bis zur verbindlichen oder auch nur vorläufigen Klärung der Rechtsfrage aufgeschoben werden kann (Vgl. BVerfG, a.a.O.). Bei der Verhängung einer Sanktion für die Nichtbefolgung der Anordnung fehlt dieser Grund. Sie erfolgt immer erst nach dem Ereignis und erlaubt daher eine verbindliche Klärung der Rechtmäßigkeit (Vgl. BVerfG, a.a.O.).

Entscheidend ist, dass die Rechtswidrigkeit des strafbarkeitsbegründenden Verwaltungsaktes von Anfang an – aufgrund der ex-tunc Wirkung der Aufhebung – bestand, weshalb in Wahrheit mangels Rechtsgutsbeeinträchtigung gar kein Unrecht begangen wurde und es damit mit dem Gegenstand des Schuldvorwurfs auch an diesem selbst fehlt (Vgl. LR-Gössel, a.a.O., § 359 Rn. 47). Der Strafausspruch verstößt in solchen Fällen daher gegen den Grundsatz „nulla poena sine culpa“ und entspricht einem obrigkeitsstaatlichen Denken, das in einem Rechtsstaat verfehlt erscheint (Vgl. LR-Gössel, a.a.O.).

Wird nun der sofort vollziehbare Verwaltungsakt nachträglich im Verwaltungsrechtsweg aufgehoben, nachdem das Strafverfahren bereits rechtskräftig abgeschlossen wurde, so ist die Wiederaufnahme des Verfahrens in entsprechender Anwendung des § 359 Nr. 4 StPO möglich. Insofern trägt hier ein Erst-Recht-Schluss, da die Vorschrift ihrem Sinn nach nicht nur auf „zivilgerichtliche“ Urteile, sondern auch wegen der vergleichbaren Interessenlage u.a. auf Urteile der Verwaltungsgerichte anzuwenden ist; dann muss dies aber auch für die ihrer Natur nach mehr am Grundsatz der Zweckmäßigkeit ausgerichteten Verwaltungsentscheidungen gelten (Vgl. LR-Gössel, a.a.O., § 359 Rn. 47).

Demzufolge wurde hier die Entziehung der Fahrerlaubnis durch das OVG Berlin-Brandenburg ex-tunc aufgehoben, so dass der Beschwerdeführer nicht ohne Fahrerlaubnis ein Fahrzeug im Straßenverkehr führte. Es besteht insofern der ursächliche Zusammenhang zwischen dem nun aufgehobenen Verwaltungsakt und der strafrechtlichen Verurteilung, so dass der auf den Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 4 StPO analog gestützte Wiederaufnahmeantrag auch begründet ist (Vgl. hierzu: Meyer-Goßner, a.a.O., § 370 Rn. 3).

Die hier ausgesprochene Wiederaufnahmeanordnung beseitigt die Rechtskraft des Strafbefehls und versetzt das Strafverfahren in das Stadium vor dessen Erlass zurück (Vgl. hierzu Meyer-Goßner, a.a.O., § 370 Rn. 9 ff.). Die Kammer als Beschwerdegericht konnte hier nicht in der Sache selbst entscheiden und musste die Sache zurückverweisen, da der Wiederaufnahmeantrag als unzulässig gemäß § 368 Abs. 1 StPO verworfen worden war (Vgl. hierzu Meyer-Goßner, a.a.O., § 372 Rn. 8). Das Amtsgericht Tiergarten hat nun erneut nach § 408 StPO darüber zu entscheiden, ob es einen Strafbefehl gegen den Beschwerdeführer erlässt. Nach der hier vertretenen Ansicht wäre der Erlass eines Strafbefehls wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis gemäß § 408 Abs. 2 StPO abzulehnen.

III.

Die Landeskasse Berlin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Beschuldigten, weil sonst niemand dafür haftet.

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