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Revision im Strafverfahren – Mängel bei fehlender eigenständiger gerichtlicher Bewertung

KG Berlin –  Az.: (3) 121 Ss 192/13 (186/13) –  Beschluss vom 14.01.2014

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 16. Juli 2013 mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision – an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Tiergarten zurückverwiesen.

Gründe

Das Amtsgericht Tiergarten hat den Angeklagten am 26. Juni 2013 wegen fahrlässiger Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 20,00 Euro verurteilt. Mit seiner gegen dieses Urteil eingelegten Revision rügt der Angeklagte die Verletzung sachlichen Rechts.

1. Der Strafrichter beim Amtsgericht Tiergarten hat folgenden Sachverhalt festgestellt:

„Am Neujahrsmorgen, dem 01.01.2012 gegen 06.05 Uhr, befuhr der Angeklagte mit dem Taxi B-… unter anderem den Kottbusser Damm. Er hatte zuvor die Fahrgäste M… und S… aufgenommen. Der Zeuge S… saß hinter dem Taxifahrer, der Zeuge M… auf dem Beifahrersitz. Die beiden Fahrgäste waren in der Warschauer Straße eingestiegen. Nach sehr zügiger Fahrt (mindestens 80 km/h) setzte der Angeklagte, als er sich auf dem Kottbusser Damm befand, seine Fahrgeschwindigkeit etwas herab, hatte aber beim Annähern an die Kreuzung Kottbusser Damm Ecke Bürknerstraße immer noch eine Geschwindigkeit von mindestens 71 km/h inne. Die Lichtzeichenanlage für den Angeklagten zeigte beim Herannahen an die besagte Kreuzung grünes Licht. Ohne das Taxi zu sehen, betrat der Geschädigte D… bei für ihn Rot abstrahlender Lichtzeichenanlage vom Mittelstreifen kommend den Kottbusser Damm in Richtung Böckstraße. Der Zeuge hatte zuvor Alkohol in größeren Mengen zu sich genommen. Nachdem der Geschädigte die Fahrbahn etwa zu zwei Drittel überquert hatte, er lief allerdings nicht sehr zügig, kam es zur Kollision zwischen ihm und dem Taxifahrer. Dabei streifte der Angeklagte den Zeugen mit der rechten Fahrzeugseite. Der Zeuge D… wurde schwer verletzt und erlitt unter anderem einen Schienbeinbruch rechts und einen Beckenknochenbruch. Er ist nach wie vor in ärztlicher Behandlung. Der nach dem Unfall gemeinsam mit der Zeugin K… zum Unfallort gerufene Polizeibeamte G… fertigte eine Verkehrsunfallskizze, aus der die Endstellung des Pkw und die Lage des Fußgängers hervorgehen. Der Pkw des Angeklagten kam etwa 22 m nach dem Kollisionspunkt zum Stehen, an der Stelle wurden Fahrzeugteile des Taxis gefunden. Die Endlage des geschädigten Fußgängers war unmittelbar hinter der zweiten Linie der Fußgängerfurt in einem Abstand von 6 m zur Mittelinsel.

Der Zusammenstoß mit dem Geschädigten D… erfolgte mindestens bei einer Geschwindigkeit von 55 km/h.

Zum Zeitpunkt des Unfallgeschehens befand sich die Zeugin G… als Fußgängerin auf dem Kottbusser Damm.“

Zur Beweiswürdigung hat das Amtsgericht insbesondere ausgeführt, dass die beiden Fahrgäste des Angeklagten übereinstimmend bekundet hätten, dass ihnen die Fahrt bis zum Unfallort viel zu schnell vorgekommen sei. Der Angeklagte habe sogar eine Tankstelle überfahren, um eine rote Ampel zu umgehen. Einer der Fahrgäste, der Zeuge M…, habe außerdem durch einen Blick auf den Tachometer des Fahrzeugs festgestellt, dass dieser eine Geschwindigkeit von 80 km/h gezeigt habe. Zur Rekonstruktion des Unfalls ist in der Hauptverhandlung ein Sachverständiger gehört worden. Dieser – so das Amtsgericht – habe überzeugend ausgeführt, dass der Fußgänger für den Angeklagten „erkenntlich sei, wenn der Fußgänger etwa 0,5 bis 0,6 Sekunden auf der Fahrbahn befindlich ist“. Zwar seien am Unfallort keine Bremsspuren vorhanden gewesen. Der Sachverständige habe aber überzeugend dargelegt, dass aufgrund der Endstellung des Fahrzeuges und der Lage des Geschädigten die Anstoßgeschwindigkeit des Taxis etwa 55 km/h und die Ausgangsgeschwindigkeit mindestens 71 km/h betragen habe. Während der Unfall bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h und gleicher Reaktion des Angeklagten vermeidbar gewesen wäre, sei die Kollision bei der festgestellten Ausgangsgeschwindigkeit nicht zu verhindern gewesen.

2. Die Beweiswürdigung des Amtsgerichts hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Sie ist lückenhaft, da nicht nachzuvollziehen ist, wie das Gericht zu den konkreten Feststellungen zur Geschwindigkeit des Fahrzeugs, zum Ablauf des Unfalls und zu dessen Vermeidbarkeit gelangt ist.

Zwar ist die Beweiswürdigung gemäß § 261 StPO Sache des Tatrichters (vgl. BGH NStZ 2009, 284; Meyer-Goßner, StPO 56. Auflage, § 261 Rn. 3 m.w.N.). Es obliegt allein ihm, die für den Urteilsspruch relevanten Tatsachen und Erfahrungssätze festzustellen, in ihrer Beweisbedeutung zu bewerten und sich auf dieser Grundlage eine Überzeugung zu bilden (vgl. BGH a.a.O; Senat, Urteil vom 8. Juni 2009 – (3) 1 Ss 74/09 (51/09) -). Soweit die Ermittlung der Tatsachen – wie augenscheinlich hier – besonderer Sachkunde bedarf, über die das Gericht nicht verfügt, hat es sich diese durch einen Sachverständigen vermitteln zu lassen (BGH a.a.O). Das Gericht muss dabei jedoch die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Darlegungen des Sachverständigen zur fachlichen Begründung für dessen Schlussfolgerung im Urteil so wiedergeben, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit und sonstigen Rechtsfehlerfreiheit durch das Revisionsgericht erforderlich ist (vgl. Senat a.a.O.; Ott in: KK, StPO 7. Auflage, § 261 Rn. 32 m.w.N.). Der Umfang der Darlegungspflicht hängt dabei von der Beweislage und der Bedeutung, die der Beweisfrage für die Entscheidung zukommt, ab (vgl. BGH NStZ 2000, 106 [107]; BGH NStZ 1993, 592 [593]).

Diesen Anforderungen entspricht das angefochtene Urteil nicht. Es teilt bereits nicht mit, auf welcher Grundlage die Ausgangsgeschwindigkeit des Taxis ermittelt wurde. Die Angaben der in Hauptverhandlung vernommenen Zeugen sind weder für sich allein noch in der Gesamtschau geeignet, die vom Amtsgericht festgestellte Geschwindigkeit zu belegen. Insbesondere die Angabe des Zeugen M…, er habe auf den Tachometer des Taxis gesehen, der eine Geschwindigkeit von 80 km/h angezeigt habe, kann diese Feststellung nicht stützen, zumal im Urteil nicht einmal mitgeteilt wird, wo sich das Taxi konkret befand, als der Zeuge diese Beobachtung gemacht hat. Hinzu kommt, dass der Angeklagte nach den getroffenen Feststellungen des Amtsgerichts die Geschwindigkeit anschließend „etwas herabsetzte“. Konkretere Feststellungen zur Maß der Geschwindigkeitsreduzierung enthält das Urteil indes nicht, sodass anhand der Zeugenaussagen nicht nachzuvollziehen ist, wieso die Geschwindigkeit des Taxis mindestens 71 km/h betragen haben soll.

Da keine Bremsspuren festzustellen waren, ist auch nicht ersichtlich, wie der Sachverständige zu der Feststellung der Ausgangsgeschwindigkeit von 71 km/h gelangt ist. Das Urteil teilt insbesondere nicht mit, auf welche Weise der Sachverständige anhand der Endstellung des Fahrzeugs und der Lage des Geschädigten die Ausgangs- und die Kollisionsgeschwindigkeit festgestellt hat. Den Urteilsgründen ist lediglich zu entnehmen, dass der Angeklagte den Geschädigten „etwa 0,5 bis 0,6 Sekunden“ nach Betreten der Fahrbahn hätte wahrnehmen müssen. Ungeachtet der Tatsache, dass diese Schlussfolgerung mangels Mitteilung von Anknüpfungstatsachen weder nachvollziehbar noch vom Revisionsgericht überprüfbar ist, belegt dieser Umstand auch nicht, dass der Angeklagte den Geschädigten zu diesem Zeitpunkt auch tatsächlich wahrgenommen und nach einer Reaktionszeit, die das Urteil ebenfalls nicht mitteilt, die Bremsung des Fahrzeugs eingeleitet hat.

Vor diesem Hintergrund belegen weder die im Urteil dargelegten Ausführungen des Sachverständigen allein, noch in der Zusammenschau mit den Bekundungen der Zeugen den vom Amtsgericht dargelegten Unfallhergang.

Darüber hinaus mangelt es dem Urteil an der erforderlichen eigenständigen Würdigung und Prüfung des Sachverständigengutachtens. Das Gericht verfehlt die ihm nach § 261 StPO obliegende Aufgabe, wenn es Feststellungen und Beurteilungen eines Sachverständigen ungeprüft und ohne eigene Bewertung des Beweisergebnisses übernimmt (vgl. BGH NStZ 2009, 284; Senat a.a.O.). Schließt sich der Tatrichter ohne eigene Erwägungen dem Gutachten eines Sachverständigen an, muss er regelmäßig die wesentlichen tatsächlichen Grundlagen, an die die Schlussfolgerungen des Gutachtens anknüpfen, und die Art dieser Folgerungen wenigstens insoweit im Urteil mitteilen, als dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner gedanklichen Schlüssigkeit im Revisionsrechtszug erforderlich ist (vgl. BGH a.a.O.; BGHSt 8, 113 [118]; BGH VRS 31, 107 f.; NStZ 2013, 177 [178]; 2000, 106 [107]; Stuckenberg in: Löwe/Rosenberg, StPO 26. Auflage, § 267 Rn. 66). Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich – wie hier – um Schlussfolgerungen handelt, die nach den zur Anwendung zu bringenden Erfahrungssätzen nicht zwingend sind, sondern nur Wahrscheinlichkeitsaussagen mit mehr oder weniger großer Richtigkeitsgewähr zu liefern vermögen (vgl. Senat, a.a.O.; BGH NStZ 2009, 284). So liegt die Sache hier. Von der eigenständigen Würdigung hätte das Amtsgericht nur dann absehen können, wenn wenigstens die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Darlegungen des Gutachtens im Urteil wiedergegeben worden wären (vgl. Senat a.a.O.), was hier jedoch – wie ausgeführt – nicht der Fall ist.

Der Senat hebt daher das angefochtene Urteil auf und verweist die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision – an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zurück.

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