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Erkennungsdienstliche Behandlung eines Jugendlichen

Das Sächsische Oberverwaltungsgericht hat die Zulässigkeit einer erkennungsdienstlichen Behandlung eines Jugendlichen bestätigt, obwohl er im zugrundeliegenden Strafverfahren rechtskräftig freigesprochen wurde. Die Rechtmäßigkeit der Maßnahme hängt nicht vom Ausgang des Strafverfahrens ab, sondern von der Prognoseentscheidung, ob der Betroffene künftig als Verdächtiger einer Straftat in Betracht kommt.

→ Weiter zum vorliegenden Urteil Az.: 6 A 628/21

✔ Das Wichtigste in Kürze

  • Die Rechtmäßigkeit einer erkennungsdienstlichen Behandlung wird nicht dadurch berührt, dass die Beschuldigteneigenschaft später wegfällt.
  • Bei Jugendlichen muss besonders sorgfältig geprüft werden, ob tatsächlich der Beginn einer kriminellen Laufbahn oder nur vorübergehendes Fehlverhalten vorliegt.
  • Gehäufte Ermittlungs- und Strafverfahren gegen den Kläger rechtfertigen die Prognose einer künftigen Tatbegehung und damit die Notwendigkeit erkennungsdienstlicher Maßnahmen.
  • Die Einstellung von Ermittlungsverfahren nach § 170 Abs. 2 StPO kann bei der Prognoseentscheidung berücksichtigt werden.
  • Der geringe Warenwert einer von dem Jugendlichen begangenen Tat mindert nicht zwingend die Notwendigkeit erkennungsdienstlicher Maßnahmen.
  • Eine möglicherweise unzutreffende Feststellung zur Wohnungslosigkeit hat keinen Einfluss auf die Bewertung der Notwendigkeit.

Jugendliche und erkennungsdienstliche Maßnahmen: Wann ist die Grenze zur Verhältnismäßigkeit überschritten?

Jugendlicher Straftäter
(Symbolfoto: Gorodenkoff /Shutterstock.com)

Erkennungsdienstliche Maßnahmen wie Fingerabdrucknahme oder Fotoaufnahmen spielen eine wichtige Rolle im deutschen Rechtssystem. Sie dienen dazu, Straftaten aufzuklären und ihre Wiederholung zu verhindern. Allerdings sind solche Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen mit großer Sorgfalt abzuwägen, insbesondere wenn es sich um Jugendliche handelt. Das Jugendstrafrecht sieht hier besondere Schutzvorschriften vor, um eine Stigmatisierung und negative Beeinflussung der Persönlichkeitsentwicklung zu vermeiden.

In der Praxis ergeben sich oft schwierige Einzelfallentscheidungen, bei denen die Interessen von Allgemeinheit und Beschuldigten gegeneinander abgewogen werden müssen. Das vorliegende Gerichtsurteil beschäftigt sich mit der Frage, unter welchen Voraussetzungen die erkennungsdienstliche Behandlung eines Jugendlichen zulässig ist und wann hierbei die Grenzen der Verhältnismäßigkeit überschritten sein können.

Der Fall vor dem Sächsischen Oberverwaltungsgericht im Detail

Erkennungsdienstliche Behandlung trotz Freispruch? – Gericht bestätigt Zulässigkeit

Der vorliegende Fall des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts (Az.: 6 A 628/21) befasst sich mit der Rechtmäßigkeit einer erkennungsdienstlichen Behandlung eines Jugendlichen. Der Kläger wehrte sich gegen die Anordnung der Maßnahme, da er im zugrundeliegenden Strafverfahren rechtskräftig freigesprochen worden war. Das Gericht bestätigte jedoch die Zulässigkeit der erkennungsdienstlichen Behandlung trotz des Freispruchs und lehnte den Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung ab.

Der Kläger wurde ursprünglich beschuldigt, im März 2019 einen Ticketautomaten beschädigt und einen Nothammer entwendet zu haben. In diesem Zusammenhang ordnete die Polizei die erkennungsdienstliche Behandlung an, obwohl der Kläger zu diesem Zeitpunkt noch minderjährig war. Das Strafverfahren endete letztlich mit einem Freispruch vom Vorwurf der Sachbeschädigung, der Diebstahlsvorwurf wurde fallengelassen. Der Kläger argumentierte, dass die erkennungsdienstliche Behandlung aufgrund des Freispruchs rechtswidrig sei und Jugendliche nur in Ausnahmefällen erkennungsdienstlich behandelt werden dürften, da es sich bei Jugendkriminalität oft um vorübergehende Fehltritte handle.

Abwägung der Interessen und Prognoseentscheidung

Das Gericht betonte, dass die Rechtmäßigkeit der erkennungsdienstlichen Behandlung nicht vom Ausgang des Strafverfahrens abhängig ist, sondern vom Zeitpunkt der Anordnung. Zu diesem Zeitpunkt war der Kläger Beschuldigter in einem Ermittlungsverfahren und somit zulässiger Adressat der Maßnahme.

Zur Begründung führte das Gericht aus, dass erkennungsdienstliche Maßnahmen auch dann notwendig und verhältnismäßig sein können, wenn der Betroffene später freigesprochen wird. Entscheidend sei eine Prognoseentscheidung, ob der Betroffene künftig als Verdächtiger einer Straftat in Betracht kommt und die erkennungsdienstlichen Unterlagen zur Aufklärung beitragen können. In die Prognose fließen verschiedene Faktoren ein, beispielsweise die Art und Schwere der Taten, die Persönlichkeit des Betroffenen und sein bisheriges Verhalten.

Jugendkriminalität und strenge Anforderungen

Das Gericht räumte ein, dass bei Jugendlichen besondere Anforderungen an die Prognoseentscheidung gestellt werden. Es müsse sorgfältig geprüft werden, ob jugendtypische Fehltritte oder der Beginn einer kriminellen Laufbahn vorliegen. Dennoch rechtfertigte die hohe Anzahl an Ermittlungs- und Strafverfahren, die gegen den Kläger geführt wurden und noch laufen, die Annahme einer Wiederholungsgefahr. Diese rechtfertige die erkennungsdienstliche Behandlung.

Unberührte Rechtmäßigkeit der Maßnahme

Das Gericht wies darauf hin, dass auch die Einstellung von Ermittlungsverfahren nach § 170 Abs. 2 StPO (z.B. wegen nicht ausreichender Beweise) bei der Prognose berücksichtigt werden kann. Selbst der geringe Warenwert eines vom Kläger eingeräumten Diebstahls ändere nichts an der Notwendigkeit der Maßnahme. Eine möglicherweise unzutreffende Feststellung des Verwaltungsgerichts zur Wohnungslosigkeit des Klägers sei ebenfalls unerheblich.

Da das Vorbringen des Klägers keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts aufzeigte, lehnte das Oberverwaltungsgericht den Antrag auf Zulassung der Berufung ab.

✔ FAQ zum Thema: Erkennungsdienstliche Behandlung Jugendlicher


Kann eine erkennungsdienstliche Behandlung trotz Freispruch angeordnet werden?

Ja, eine erkennungsdienstliche Behandlung kann auch nach einem Freispruch oder einer Einstellung des Verfahrens angeordnet werden. Dies dient der Strafverfolgungsvorsorge, um die Aufklärung möglicher zukünftiger Straftaten zu erleichtern.

Die Anordnung einer erkennungsdienstlichen Behandlung nach § 81b 2. Alternative StPO setzt lediglich voraus, dass sie für Zwecke des Erkennungsdienstes notwendig ist. Ein unmittelbarer Zusammenhang mit dem konkreten Strafverfahren, in dem der Betroffene beschuldigt wurde, ist nicht erforderlich. Vielmehr geht es darum, erkennungsdienstliche Daten zu erheben, die später die Erforschung und Aufklärung von Straftaten fördern könnten.

Allerdings muss die Anordnung auf einer Abwägung zwischen dem staatlichen Strafverfolgungsinteresse und dem Recht des Betroffenen auf informationelle Selbstbestimmung beruhen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Betroffene nach dem Menschenbild des Grundgesetzes nicht bereits deshalb als potenzieller Rechtsbrecher behandelt werden darf, weil er sich irgendwie verdächtig gemacht hat oder angezeigt wurde.

Die Zulässigkeit einer erkennungsdienstlichen Behandlung nach Freispruch oder Einstellung hängt somit von den Umständen des Einzelfalls ab. Sie darf nicht willkürlich erfolgen, sondern muss auf Tatsachen gestützt sein, die die Annahme rechtfertigen, dass die Daten für die künftige Strafverfolgung von Bedeutung sein können.


Welche Kriterien bestimmen die Rechtmäßigkeit einer erkennungsdienstlichen Behandlung?

Die Rechtmäßigkeit einer erkennungsdienstlichen Behandlung hängt von mehreren Kriterien ab:

1. Beschuldigteneigenschaft: Der Betroffene muss zum Zeitpunkt der Anordnung Beschuldigter in einem gegen ihn geführten Ermittlungs- oder Strafverfahren sein. Es müssen konkrete Anhaltspunkte vorliegen, die den Verdacht einer Straftat rechtfertigen. Vage Vermutungen reichen nicht aus.

2. Notwendigkeit für Zwecke des Strafverfahrens oder Erkennungsdienstes: Die Maßnahme muss entweder für die Durchführung des konkreten Strafverfahrens oder für präventive Zwecke der Strafverfolgungsvorsorge notwendig sein. Dies erfordert eine Abwägung zwischen dem staatlichen Strafverfolgungsinteresse und dem Recht des Betroffenen auf informationelle Selbstbestimmung.

3. Prognose der Wiederholungsgefahr: Bei der präventiven Variante muss aufgrund bestimmter Tatsachen die Gefahr bestehen, dass der Betroffene zukünftig Straftaten begehen wird. Maßgebliche Kriterien sind dabei insbesondere:

  • Art, Schwere und Begehungsweise der zur Last gelegten Straftaten
  • Persönlichkeit und bisheriges strafrechtliches Erscheinungsbild des Betroffenen
  • Bei Jugendlichen/Heranwachsenden: alterstypisches Fehlverhalten oder Hinweise auf verfestigte kriminelle Neigung

Auch bei Einstellung des Verfahrens oder Freispruch kann ein verbleibender Restverdacht für die Gefahrenprognose herangezogen werden.

4. Verhältnismäßigkeit: Die konkrete Notwendigkeit jeder einzelnen Maßnahme muss dargelegt und begründet werden. Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung müssen auf das erforderliche Maß beschränkt bleiben.

Liegen diese Voraussetzungen vor, kann die erkennungsdienstliche Behandlung auch gegen den Willen des Betroffenen angeordnet und notfalls mit unmittelbarem Zwang durchgesetzt werden. Gegen die Anordnung kann je nach Fallkonstellation Beschwerde eingelegt, ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt oder Klage vor den Verwaltungsgerichten erhoben werden.


Werden eingestellte Ermittlungsverfahren bei der Entscheidung über erkennungsdienstliche Behandlung berücksichtigt?

Ja, auch eingestellte Ermittlungsverfahren können bei der Entscheidung über eine erkennungsdienstliche Behandlung berücksichtigt werden.

Entscheidend ist, ob trotz der Einstellung weiterhin ein Restverdacht besteht, dass die betroffene Person zukünftig Straftaten begehen könnte. Dieser verbleibende Verdacht bildet die Basis für die Gefahrenprognose, die auch nach Freispruch oder Einstellung des Verfahrens aufrechterhalten werden kann.

Dabei kommt es auf den Grund der Einstellung an:

  • Erfolgte die Einstellung mangels Nachweisbarkeit der Täterschaft (§ 170 Abs. 2 StPO), wegen Geringfügigkeit (§ 153 StPO) oder gegen Auflagen (§ 153a StPO), kann der Tatverdacht weiterhin für die Prognose herangezogen werden.
  • Wurde das Verfahren dagegen eingestellt, weil die Unschuld des Betroffenen erwiesen ist oder jeglicher Tatverdacht ausgeräumt wurde, darf es nicht mehr berücksichtigt werden.
  • Auch Einstellungen wegen Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) stehen einer Gefahrenprognose nicht entgegen, wenn die Einsichtsfähigkeit des Betroffenen nicht völlig aufgehoben ist.
  • Selbst Einstellungen mangels Gewichtigkeit der Taten neben anderen Delikten (§ 154 StPO) können in die Prognose einfließen.

Neben dem Restverdacht aus dem konkreten Anlassverfahren dürfen ergänzend auch ältere und neuere Ermittlungsverfahren sowie Verurteilungen zur Begründung der Wiederholungsgefahr herangezogen werden. Liegen über einen längeren Zeitraum immer wieder Ermittlungsverfahren vor, auch wenn diese letztlich eingestellt wurden, kann dies die Annahme einer Wiederholungsgefahr stützen.

Die Behörde muss aber stets eine Gesamtabwägung vornehmen, bei der Art, Schwere und Begehungsweise der Taten, die Persönlichkeit des Betroffenen und der seit der letzten Tat verstrichene Zeitraum zu berücksichtigen sind. Einstellungen allein reichen nicht aus, es müssen konkrete Anhaltspunkte für eine Wiederholungsgefahr vorliegen.


Wie wird die Prognoseentscheidung bei der Anordnung einer erkennungsdienstlichen Behandlung getroffen?

Die Prognoseentscheidung, ob von einem Betroffenen zukünftig weitere Straftaten zu erwarten sind und damit eine erkennungsdienstliche Behandlung notwendig ist, erfolgt anhand einer Gesamtabwägung verschiedener Kriterien im Einzelfall:

1. Art, Schwere und Begehungsweise der zur Last gelegten Straftaten: Je schwerwiegender die Taten sind, desto eher kann eine Wiederholungsgefahr angenommen werden. Besonders ins Gewicht fallen dabei Delikte, die sich gegen hochwertige Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit oder Eigentum richten. Auch eine besonders brutale, rücksichtslose oder hinterhältige Begehungsweise spricht für eine erhöhte Gefährlichkeit des Täters.

2. Persönlichkeit und bisheriges strafrechtliches Erscheinungsbild des Betroffenen: Anhaltspunkte für die Prognose können sich aus Vorstrafen, laufenden Ermittlungsverfahren oder auch eingestellten Verfahren ergeben. Liegen über einen längeren Zeitraum immer wieder strafrechtliche Auffälligkeiten vor, deutet dies auf eine verfestigte kriminelle Neigung hin. Auch Suchtprobleme oder eine erhöhte Gewaltbereitschaft fließen in die Bewertung ein.

3. Zeitlicher Abstand und Häufigkeit der Taten: Je kürzer die Abstände zwischen den Taten und je höher deren Anzahl, desto wahrscheinlicher erscheint es, dass der Betroffene auch zukünftig straffällig wird. Liegt die letzte Tat schon länger zurück, kann dies für eine günstigere Prognose sprechen.

4. Alter und Entwicklungsstand des Betroffenen: Bei Jugendlichen und Heranwachsenden sind strengere Maßstäbe anzulegen. Hier muss sorgfältig geprüft werden, ob es sich nur um ein entwicklungsbedingtes Fehlverhalten handelt oder schon Anzeichen für eine verfestigte kriminelle Neigung bestehen.

Auch bei einem Freispruch oder einer Verfahrenseinstellung kann ein verbleibender Restverdacht in die Prognose einfließen, sofern die Unschuld des Betroffenen nicht erwiesen ist. Die Behörde muss aber stets eine Gesamtabwägung aller relevanten Umstände vornehmen. Einstellungen oder einzelne Taten allein reichen nicht aus, es müssen konkrete Anhaltspunkte für eine Wiederholungsgefahr vorliegen.


§ Relevante Rechtsgrundlagen des Urteils

  • § 81b StPO: Der Paragraph regelt die erkennungsdienstliche Behandlung von Personen durch die Polizei. Im vorliegenden Fall wurde die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme vom Verwaltungsgericht geprüft, obwohl der Kläger letztlich freigesprochen wurde. Die Anordnung basierte auf der Annahme, dass der Kläger zukünftig als Verdächtiger in Betracht kommen könnte, was zeigt, wie präventive polizeiliche Maßnahmen auch unabhängig vom Ausgang eines Strafverfahrens durchgeführt werden können.
  • § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO: Dieser Paragraph ist entscheidend für die Zulassung einer Berufung im verwaltungsrechtlichen Prozess. Das Oberverwaltungsgericht lehnte die Berufung ab, da es keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts Leipzig sah. Der Kläger konnte nicht überzeugend darlegen, dass die erkennungsdienstliche Behandlung unzulässig war, was die Wichtigkeit einer fundierten Argumentation in solchen Fällen unterstreicht.
  • Jugendstrafrecht: Die speziellen Regelungen und Erwägungen des Jugendstrafrechts spielen eine Rolle bei der Bewertung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen gegenüber jugendlichen Beschuldigten. Der Kläger argumentierte, dass jugendtypische Verhaltensweisen berücksichtigt werden sollten, was das Gericht jedoch anders bewertete, indem es auf die Häufung von Strafverfahren gegen den Kläger verwies.
  • § 154 Abs. 1 StPO: Dieser Paragraph erlaubt es der Staatsanwaltschaft, von der weiteren Verfolgung eines Straftatbestands abzusehen, um sich auf schwerwiegendere Anklagepunkte zu konzentrieren. Im Fall des Klägers wurde von der weiteren Verfolgung des Diebstahls abgesehen, was zeigt, wie strategische Entscheidungen innerhalb des Strafverfahrens die rechtlichen Rahmenbedingungen beeinflussen können.
  • Verhältnismäßigkeitsprinzip: Ein grundlegendes Prinzip im deutschen Recht, das besagt, dass Maßnahmen der öffentlichen Gewalt nicht übermäßig in die Rechte des Einzelnen eingreifen dürfen. Im vorliegenden Fall wurde argumentiert, dass die erkennungsdienstliche Behandlung verhältnismäßig sei, basierend auf der kriminalistischen Vorgeschichte und den aktuellen Ermittlungen gegen den Kläger.
  • Allgemeines Persönlichkeitsrecht: Obwohl nicht explizit im Text erwähnt, ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht eine wichtige Überlegung in Fällen erkennungsdienstlicher Behandlung. Es schützt die individuelle Freiheit und Integrität, die durch solche Maßnahmen berührt werden können, besonders wenn es um Jugendliche geht, bei denen die Persönlichkeitsentwicklung noch nicht abgeschlossen ist.


➜ Das vorliegende Urteil vom Sächsischen Oberverwaltungsgericht

Oberverwaltungsgericht – Az.: 6 A 628/21- Beschluss vom 27.12.2023

Der Antrag des Klägers, die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Leipzig vom 7. September 2021 – 3 K 1589/19 – zuzulassen, wird abgelehnt.

Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,00 € festgesetzt.

Gründe

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Sein Vorbringen, auf dessen Prüfung der Senat gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO beschränkt ist, lässt nicht erkennen, dass der geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gegeben ist.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage des am 21. Juni 2002 geborenen Klägers gegen seine mit Bescheid des Polizeireviers L… vom 8. April 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. August 2019 angeordnete erkennungsdienstliche Behandlung abgewiesen. Zur Begründung hat es festgestellt, dass der Kläger im Zeitpunkt der Anordnung Beschuldigter eines Ermittlungsverfahrens und damit zulässiger Adressat der Anordnung gewesen sei. Zu diesem Zeitpunkt sei der Kläger beschuldigt gewesen, in der Nacht zum 13. März 2019 einen Ticketautomaten der … GmbH beschädigt zu haben. Ferner sei er im Verdacht gestanden, einen zur Beschädigung benutzten Nothammer der … GmbH entwendet zu haben. Der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft Leipzig mit der Anklageerhebung am 31. März 2020 von der Weiterverfolgung des Vorwurfs des Diebstahls auf Grundlage des § 154 Abs. 1 StPO abgesehen habe und der Kläger letztlich am 2. Juli 2021 vom Vorwurf der Sachbeschädigung freigesprochen worden sei, ändere hieran nichts. Der spätere Wegfall der Beschuldigteneigenschaft durch die Einstellung des Verfahrens oder durch Freispruch lasse die Rechtmäßigkeit der angeordneten Maßnahme grundsätzlich unberührt. Auch unter Berücksichtigung der strafrechtlichen Entwicklung des Klägers sei es sachgerecht und vertretbar, ihn als Verdächtigen in den Kreis potentieller Beteiligter an einer noch aufzuklärenden strafbaren Handlung einzubeziehen. Vor dem Hintergrund der gehäuften Ermittlungs- und Strafverfahren, die gegen den Kläger geführt worden seien und aktuell geführt würden, erscheine die Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung auch nicht unverhältnismäßig.

Zur Begründung ernstlicher Zweifel trägt der Kläger vor, es habe bei ihm keinen Grund für eine erkennungsdienstliche Behandlung gegeben, da er kein Beschuldigter mehr sei, er sei rechtskräftig freigesprochen worden. Im Übrigen „vergesse“ das Gericht auch, dass er Jugendlicher sei. Bei Jugendlichen gehe es „allenfalls um Phasen der Selbstfindung“. Nach kriminalistischer Erfahrung sowie Sinn und Zweck des Jugendstrafrechts würden sich „die strafbar rechtlichen Taten mit dem Erwachsenwerden legen“. Das Imponiergehabe und das Ausprobieren weiche der „Erwachsenenrealität“. Den Diebstahl von Süßigkeiten am 7. März 2018 im Wert von 1,09 € habe er im Übrigen eingeräumt. Diesen als Grundlage für eine erkennungsdienstliche Maßnahme zu nehmen, sei nicht nachvollziehbar. Dann müsse man alle Personen erkennungsdienstlich behandeln. Im Übrigen sei er auch nicht wohnungslos, wie das Verwaltungsgericht unzutreffend festgestellt habe.

Das Vorbringen rechtfertigt nicht die Zulassung der Berufung.

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung bestehen dann, wenn der Antragsteller des Zulassungsverfahrens einen tragenden Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten so in Frage stellt, dass der Ausgang des Berufungsverfahrens als ungewiss zu beurteilen ist (SächsOVG, Beschl. v. 8. Dezember 2019 – 6 A 740/19 -, juris Rn. 3; st. Rspr.). Das leistet die Antragsbegründung nicht.

1. Anders als der Kläger vorbringt, steht der erkennungsdienstlichen Behandlung nicht entgegen, wenn die im Zeitpunkt ihrer Anordnung – wie hier unstreitig der Fall – bestehende Beschuldigteneigenschaft später wegfällt. Aus der unterschiedlichen Zweckbestimmung der erkennungsdienstlichen Maßnahmen in den verschiedenen Varianten des § 81b StPO (jetzt: § 81b Abs. 1 StPO) folgt, dass die Rechtmäßigkeit einer auf die 2. Alternative gestützten Anordnung – im Gegensatz zur Rechtmäßigkeit von Maßnahmen nach der 1. Alternative – nicht dadurch berührt wird, dass der Betroffene nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens vor dem Vollzug des Verwaltungsakts die Beschuldigteneigenschaft verliert (BVerwG, Urt. v. 27. Juni 2018 – 6 C 39.16 -, juris Rn. 16). Das Verwaltungsgericht hat daher für die Frage der Beschuldigteneigenschaft des Klägers zu Recht auf den Zeitpunkt des Erlasses der Anordnung abgestellt.

2. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen auch nicht im Hinblick auf die vom Verwaltungsgericht festgestellte Notwendigkeit zur Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen.

Erkennungsdienstliche Maßnahmen sind im Sinne von § 81b Alt. 2 StPO notwendig, wenn angesichts aller Umstände des Einzelfalles tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, der Beschuldigte könne künftig als Verdächtiger einer Straftat in Betracht kommen, deren Aufklärung die erkennungsdienstlichen Unterlagen den Kläger überführend oder entlastend fördern können. Zu den Umständen, die bei dieser Prognoseentscheidung zu berücksichtigen sind, gehören das Ermittlungsergebnis des strafprozessualen Anlassverfahrens sowie Art, Schwere und Begehungsweise der dem Beschuldigten im Anlassverfahren zur Last gelegten Straftaten, seine Persönlichkeit sowie der Zeitraum, während dessen er strafrechtlich nicht mehr in Erscheinung getreten ist (st. Rspr., BVerwG, Urt. v. 27. Juni 2018 – 6 C 39.16 -, juris Rn. 22). Das Erfordernis der Notwendigkeit trägt dem Gebot der Verhältnismäßigkeit Rechnung. § 81b 2. Alt. StPO a. F. stellt hinsichtlich der Notwendigkeit nicht (nur) auf den Zeitpunkt des Erlasses der Anordnung, sondern auf den Zeitpunkt der tatsächlichen Vornahme der Maßnahmen ab. Im Rahmen der gerichtlichen Kontrolle einer noch nicht vollzogenen Anordnung kommt es deshalb für die Notwendigkeit erkennungsdienstlicher Maßnahmen auf die Sachlage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz – hier also auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Senats – an. Damit kann in zeitlicher Hinsicht dem Übermaßverbot mit Blick auf mögliche, dem Betroffenen günstige Änderungen der Sachlage hinreichend Rechnung getragen werden (SächsOVG, Urt. v. 13. März 2023 – 6 A 284/20 -, juris Rn. 21 m. w. N.).

Es trifft nicht zu, dass das Verwaltungsgericht unberücksichtigt gelassen hat, dass der Kläger bei mehreren strafbaren Taten, deretwegen gegen ihn ermittelt wurde, zum Tatzeitpunkt noch nicht volljährig war. Das Verwaltungsgericht hat ausdrücklich ausgeführt, dass es keinen Erfahrungssatz gebe, wonach Jugendkriminalität mit dem Eintritt in das Erwachsenenalter automatisch ende.

Richtig ist, dass an die Prognose der Wiederholungsgefahr bei einem noch in der Persönlichkeitsentwicklung befindlichen Jugendlichen andere Anforderungen zu stellen sind als bei einem erwachsenen Beschuldigten. Es muss besonders sorgfältig geprüft werden, ob tatsächlich der Beginn einer kriminellen Laufbahn gegeben ist oder doch eher ein typischerweise vorübergehendes jugendliches Fehlverhalten vorliegt. Insoweit bedarf es in diesen Fällen einer besonders intensiven Abwägung zwischen dem Bedürfnis der Allgemeinheit an einer vorbeugenden Verbrechensbekämpfung im Bereich der Jugendkriminalität und der Gefahr, dass durch die erkennungsdienstliche Behandlung jugendlicher Beschuldigter und die Aufbewahrung der Unterlagen eine störungsfreie Entwicklung der Persönlichkeit erheblich nachteilig beeinflusst werden kann, wenn der Jugendliche infolge der erkennungsdienstlichen Unterlagen deliktspezifisch „gleichsam automatisch“ immer wieder in das Blickfeld der Ermittlungsbehörden gerät (OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 3. Dezember 2013 – 1 S 234.13 -, juris Rn. 12). Ein solches jugendtypisches Fehlverhalten bringt indes nur zum Ausdruck, dass derartige Verfehlungen von Jugendlichen im Vergleich zu Erwachsenen besonders häufig begangen werden und lenkt den Blick auf die hierfür bestehenden Gründe, wie etwa ein jugendtypisches Imponierbedürfnis. Eine das vorwerfbare Verhalten relativierende Bewertung stellt dies indes nicht dar. Auch kann dieses Moment für die Würdigung, ob die Verfehlungen einen Rückschluss auf eine innere Einstellung oder charakterliche Veranlagung des Täters bezüglich künftig von ihm zu erwartender Rechtstreue zulassen, erst nach Abschluss dieser Lebensphase bei entsprechend fortgeschrittenem Alter des Betreffenden Bedeutung gewinnen (NdsOVG, Beschl. v. 20. November 2008 – 11 ME 297/08 -, juris Rn. 15).

Nach diesem Maßstab ist das Verwaltungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass die erkennungsdienstliche Behandlung des Klägers angesichts der gehäuften, gegen ihn geführten Ermittlungs- und Strafverfahren notwendig und damit verhältnismäßig ist. Zurecht hat es darauf hingewiesen, dass der Kläger auch nach Erreichen der Volljährigkeit wegen eines am 7. September 2020 begangenen Körperverletzungsdelikts polizeiauffällig geworden sei. Damit setzt sich der Kläger nicht auseinander.

Aus dem vom Beklagten in der mündlichen Verhandlung dem Gericht übergebenen Auszug aus dem polizeilichen Auskunftssystem vom 1. September 2021 geht im Übrigen hervor, dass gegen den Kläger danach weitere Ermittlungsverfahren geführt wurden: Wegen eines Vorfalls am 9. November 2020 ein Verfahren wegen Beleidigung ohne sexuelle Grundlage (§ 185 StGB), am 4. Mai 2021, 7. Mai 2021, 16. Mai 2021 und 28. Mai 2021 jeweils wegen Sachbeschädigung (§ 303 StGB) sowie am 23. Mai 2021 wegen Diebstahls (§ 242 StGB), die jeweils nicht wegen erwiesener Unschuld des Klägers, sondern mit der Bemerkung „Tätersch./Tat/Tatumst. nicht beweisbar“ gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt wurden, weswegen sie im Rahmen der anzustellenden Prognose grundsätzlich berücksichtigt werden können (SächsOVG, Beschl. v. 8: Dezember 2021 – 6 A 580/19 -, juris Rn. 6). Auch wenn man den dem Kläger angelasteten Diebstahl vom 7. März 2018 mit einem Warenwert von 1,09 €, dessen Begehung der Kläger zudem eingeräumt hatte, wegen des geringen Werts mit wenig Gewicht berücksichtigt, würde dies an der Notwendigkeit seiner erkennungsdienstlichen Behandlung nichts ändern. Dies gilt auch, wenn das Verwaltungsgericht möglicherweise unzutreffend darauf abgehoben haben sollte, dass der Kläger wohnungslos sei.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG und folgt der Festsetzung der Vorinstanz.

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

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