Oberlandesgericht Sachsen-Anhalt, Az.: 2 Rv 31/16, Beschluss vom 13.05.2016
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Magdeburg vom 13. November 2015 aufgehoben. Der Angeklagte wird freigesprochen.
Die Landeskasse trägt die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Magdeburg hat den Angeklagten wegen Betruges zur Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu jeweils 1 € verurteilt. Dagegen richtet sich die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und sachlichen Rechts rügt.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Revision gemäß § 349 Abs. 2 StPO zu verwerfen.
II.
Die Revision ist zulässig und hat mit der Sachrüge Erfolg. Auf die Verfahrensrüge kommt es daher nicht mehr an.
Der festgestellte Sachverhalt stellt aus Rechtsgründen keine Straftat dar.
Das Amtsgericht hat festgestellt: In Kenntnis der Tatsache, dass sein Vater K. W. am 06.12.2013 verstorben war, unterließ der Angeklagte als Erbe bewusst die Mitteilung dieser Tatsache an das Landesverwaltungsamt Sachsen-Anhalt, welches über diesen Umstand in Unkenntnis gelassen, weiterhin die monatliche Opferpension in Höhe von 250,– € auf das Konto des Verstorbenen zahlte. Nach dem Tod des Vaters besorgte sich der Angeklagte von der ehemaligen Lebensgefährtin des Verstorbenen dessen Kontokarte zum Konto bei der N. Bank GmbH. Mit dieser Kontokarte hob er von den Pensionszahlungen am 30.12.2013 250,– €, am 30.01.2014 235,– € und am 27.02.2014 225,– € vom Konto des Verstorbenen ab, um das Geld für sich zu behalten. Dem Landesverwaltungsamt entstand ein Schaden in Höhe von 683,60 €.
Diese Feststellungen belegen nicht, dass der Angeklagte sich gemäß §§ 263 Abs. 1, 13 StGB wegen Betruges durch Unterlassen strafbar gemacht hat.
Grundsätzlich ist das bloße Ausnutzen eines Irrtums oder Versehens nicht als Täuschung im Sinne des § 263 StGB zu werten (vgl. BGH, Beschluss vom 16. November 1993, Az.: 4 StR 648/93), selbst wenn der Empfänger weiß, dass die Leistung an ihn nicht berechtigt ist. Die Entgegennahme zu Unrecht geleisteter Zahlungen ist vielmehr erst dann betrugsrelevant, wenn den Empfänger eine Pflicht zur Offenbarung trifft, die für ihn eine Garantenstellung i.S.d. § 13 StGB begründet.
Den Angeklagten traf unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt eine solche Garantenpflicht gegenüber dem Landesverwaltungsamt. Sie kann insbesondere nicht aus § 60 Abs. 1 S. 2 SGB I hergeleitet werden. Diese Vorschrift bestimmt, dass denjenigen, der eine Sozialleistung zu erstatten hat, eine Auskunftspflicht entsprechend § 60 Abs. 1 S. 1 SGB I gegenüber dem Leistungsträger trifft.
Es kann offenbleiben, ob sich aus § 60 Abs. 1 S.1 SGB I für den Leistungsempfänger selbst eine Pflicht zur Mitteilung und Offenbarung von Tatsachen ergibt, aus der seine Garantenstellung zugunsten der Vermögensinteressen des Leistungsträgers folgt (h.M., vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 01. März 2012, Az.: III-3 RVs 31/12, OLG Braunschweig, Urteil vom 07. Januar 2015, Az.: 1 Ss 64/14, -juris). Denn jedenfalls trifft eine solche nicht die Angehörigen nach dem Tod des Leistungsempfängers (Fischer, StGB, 63. Auflage, § 263 Rn. 40 b m.w.N.).
Die Mitwirkungspflichten des § 60 Abs. 1 SGB I treffen nach dessen Satz 1 nur denjenigen, der „Sozialleistungen beantragt oder erhält“. Sie gelten damit zum einen nur für den Leistungsempfänger selbst und zum anderen nur während eines anhängigen Verwaltungsverfahrens.
§ 60 Abs. 1 S. 2 SGB I führt entgegen der Auffassung des OLG Düsseldorf (Beschluss vom 01. März 2012, aaO) nicht zu einer Ausweitung der Mitwirkungspflichten auf nicht zum Leistungsempfang berechtigte Dritte. Die Vorschrift bestimmt ihrem Wortlaut nach, dass § 60 Abs. 1 S. 1 SGB I entsprechend für denjenigen gilt, der Leistungen zu erstatten hat. Damit ist jedoch nicht jeder materiellrechtlich Erstattungspflichtige gemeint. Die systematische Einordnung der §§ 60 ff. SGB I unter der Titelüberschrift „Mitwirkung des Leistungsberechtigten“ ergibt vielmehr, dass die Anwendbarkeit der Vorschriften auf den Leistungsberechtigten beschränkt bleibt. Die spezialgesetzliche Rückforderungsregelung des § 118 Abs. 3 und 4 SGB VI, die die Rückforderung überzahlter Renten von einem nichtberechtigten Dritten regelt, steht dagegen außerhalb der das Sozialrechtsverhältnis regelnden Systematik. Eine wenn auch nur analoge Anwendung der Mitwirkungspflichten auf den nichtberechtigten Dritten führt zu einer verfassungsrechtlich bedenklichen Ausweitung der Mitwirkungspflichten allein zu dem Zweck, eine betrugsrelevante Garantenpflicht aus Gesetz zu konstruieren (vgl. Bringewat, Anmerkung zum Urteil des OLG Düsseldorf vom 01. März 2012, a. a. O. juris).
Darüber hinaus gelten die Mitwirkungspflichten des § 60 Abs. 1 SGB I auch nur für das Leistungsverfahren und nicht für das gesamte Sozialversicherungsverhältnis. Die Auskunftspflicht des Leistungsempfängers knüpft an ein auf den Leistungsbezug gerichtetes Verwaltungsverfahren an, weil sie nur den trifft, der „Sozialleistungen beantragt oder erhält“. Sie beginnt mit Eröffnung des Verwaltungsverfahrens und dauert während aller Phasen des Sozialleistungsverhältnisses bis zum Ablauf des Leistungsbezuges an (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 27. Juli 2012, Az.: 3 Ws 381/12,- juris).
Entsprechend beginnen die Mitwirkungspflichten nach § 60 Abs. 1 S. 2 SGB I ebenfalls erst mit der Anhängigkeit des Erstattungsverfahrens, welche mit dem Erlass eines Verwaltungsaktes einsetzt. Denn § 60 Abs. 1 S. 2 SGB I schreibt ausdrücklich die entsprechende Geltung des § 60 Abs. 1 S. 1 SGB I vor. Damit ist klargestellt, dass der Leistungsberechtigte erst mit Beginn des Erstattungsverfahrens zur Mitwirkung verpflichtet ist. Das bloß materielle Bestehen eines Erstattungsanspruchs löst eben noch keine Mitwirkungspflicht im Erstattungsverfahren aus.
Aus der Gesetzesbegründung zu § 60 Abs. 1 S. 2 SGB I kann auch nicht der Wille des Gesetzgebers entnommen werden, dass die Einführung der Vorschrift dazu dienen sollte, den materiellrechtlichen Bestand eines Erstattungsanspruchs für die Begründung der Mitwirkungspflicht ausreichen zu lassen. Zweck der Gesetzesänderung sollte nach dem Ausschussbericht (BT-Drucks. 10/4212, Seite 7) nur sein, dass die Mitwirkungspflichten des § 60 Abs,. 1 S. 1 SGB I auch für den Fall von Erstattungen gelten. Ein darüber hinausgehender Wille des Gesetzgebers, den Anwendungsbereich über die bestehende Regelung des § 60 Abs. 1 S. 1 SGB I zu erweitern, lässt sich der Gesetzesbegründung dagegen ebensowenig entnehmen wie ein Wille, Fälle der Rückerstattung von Rentenzahlungen nach § 118 Abs. 4 SGB VI in den Geltungsbereich des Gesetzes einzubeziehen.
Auch über den Umweg des § 99 Satz 2 SGB X gibt es keine betrugsrechtlich relevante Mitteilungspflicht der Angehörigen des Leistungsempfängers (so aber Tiedemann in Leipziger Kommentar, StGB, 12. Auflage, § 263 Rn. 57). Die Vorschrift regelt die Auskunftspflicht von Angehörigen für den Fall, dass diese durch den Leistungsträger von Sozialleistungen zum Ersatz seiner Aufwendungen herangezogen werden (sogenannte Rückgriffsansprüche) und schreibt die entsprechende Geltung des § 60 Abs. 1 Nr. 1 und 3 SGB I vor. Bei unberechtigter Zahlung von Opferpension besteht aber kein Rückgriffsanspruch, sondern schlicht ein Erstattungsanspruch. Eine Gleichsetzung ist auch hier nicht möglich, um zu einer betrugsspezifischen Aufklärungspflicht des nichtberechtigten Dritten zu gelangen.
Auch aus dem allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) lässt sich eine Garantenpflicht des Angeklagten nicht ableiten. Für die Begründung einer derartigen Aufklärungspflicht setzt die Rechtsprechung ein besonderes Vertrauensverhältnis voraus. Gefordert werden „besondere Umstände im zwischenmenschlichen Bereich“ (vgl. BGH, Urteil vom 16. November 1993, Az.: 4 StR 648/93, -juris). Zwischen dem Angeklagten und dem Landesverwaltungsamt bestand aber zu keinem Zeitpunkt irgendein Rechtsverhältnis. Erst Recht begründete dieses Verhältnis kein besonderes Vertrauen des Landesverwaltungsamtes in die Lauterkeit des Angeklagten. Es hatte ja gar keine Kenntnis davon, dass der Angeklagte Zugriff auf das Konto des Leistungsempfängers hatte und konnte deshalb kein schützenswertes Vertrauen in seine Person aufbauen. Ebensowenig besteht eine besondere Pflicht des Erben, das Vermögen des Landesverwaltungsamtes zu schützen (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 27. Juli 2012, aaO).
Aus dem das Sozialversicherungsrecht tragenden Solidaritätsprinzip ergibt sich nichts anderes (so aber Möhlenbruch, NJW 1988, 1894 f.). Dieses für alle geltende Prinzip begründet keine besonderen Umstände, welche die Annahme einer Garantenstellung aus dem Grundsatz von Treu und Glauben rechtfertigen könnten.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 467 Abs. 1 StPO.