Ein Autofahrer übersah im Kreis Dülmen einen Radfahrer und verursachte durch eine Vorfahrtsverletzung eine schwere Kollision. Das Gericht musste klären, wo die strafrechtliche Grenze zwischen grober Rücksichtslosigkeit und bloßem Augenblicksversagen verläuft.
Übersicht
- Das Wichtigste in Kürze
- Der Fall vor Gericht
- Die Urteilslogik
- Benötigen Sie Hilfe?
- Experten Kommentar
- Häufig gestellte Fragen (FAQ)
- Was droht mir, wenn meine Vorfahrtsverletzung nur als Augenblicksversagen eingestuft wird?
- Bin ich wegen fahrlässiger Körperverletzung strafbar, wenn beim Unfall jemand verletzt wurde?
- Wie geht das Strafverfahren weiter, nachdem der vorläufige Führerscheinentzug abgelehnt wurde?
- Welche Beweise muss ich vorlegen, um Augenblicksversagen erfolgreich nachzuweisen?
- Wann gilt Fahren juristisch als rücksichtslos und wann nur als grob verkehrswidrig?
- Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
- Das vorliegende Urteil
Zum vorliegenden Urteil Az.: 42 Ds-82 Js 12374/24-36/25 | Schlüsselerkenntnis | FAQ | Glossar | Kontakt
Das Wichtigste in Kürze
- Gericht: Amtsgericht Dülmen
- Datum: 17.04.2025
- Aktenzeichen: 42 Ds-82 Js 12374/24-36/25
- Verfahren: Antrag auf vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis
- Rechtsbereiche: Strafrecht, Straßenverkehrsrecht
- Das Problem: Die Staatsanwaltschaft forderte die sofortige Abnahme des Führerscheins. Sie sah eine vorsätzliche Gefährdung des Straßenverkehrs durch eine schwere Vorfahrtsverletzung. Der Angeschuldigte soll beim Rechtsabbiegen einen Radfahrer übersehen und dessen Leben gefährdet haben.
- Die Rechtsfrage: War die Vorfahrtsverletzung so Grob verkehrswidrig und rücksichtslos, dass der Führerschein schon vor der Hauptverhandlung entzogen werden musste?
- Die Antwort: Nein, der Antrag wurde zurückgewiesen. Das Gericht sah nur ein Augenblicksversagen oder eine Unaufmerksamkeit des Angeschuldigten. Dieses Verhalten erfüllt nicht die notwendigen Anforderungen der strafrechtlichen Rücksichtslosigkeit.
- Die Bedeutung: Nicht jeder gefährliche Verstoß gegen die Vorfahrt zählt automatisch als schwere, rücksichtslose Straftat. Ein bloßes Augenblicksversagen begründet in der Regel keine sofortige Entziehung des Führerscheins.
Der Fall vor Gericht
Was unterscheidet einen Fahrfehler von einer Straftat?
Es ist der Albtraum jedes Autofahrers: Eine Sekunde nicht aufgepasst, an einer Einmündung einen Radfahrer übersehen, und schon ist es passiert. Der Schreck sitzt tief, doch die wahren Probleme beginnen erst.

Wenige Wochen später liegt Post von der Staatsanwaltschaft im Briefkasten. Der Vorwurf lautet nicht auf eine simple Ordnungswidrigkeit, sondern auf eine schwere Straftat: vorsätzliche Gefährdung des Straßenverkehrs. Und die Forderung ist drastisch: der sofortige Entzug des Führerscheins. Vor dem Amtsgericht Dülmen ging es genau um diesen schmalen Grat zwischen einem alltäglichen Fehler und krimineller Rücksichtslosigkeit.
Warum wollte die Staatsanwaltschaft den Führerschein sofort einziehen?
Für die Staatsanwaltschaft Münster war der Fall eine klare Sache. Der Autofahrer hatte an einer Einmündung die Vorfahrt eines von rechts kommenden Radfahrers missachtet. Dadurch sei Leib und Leben des Radfahrers gefährdet worden. Die Anklagebehörde sah darin nicht nur einen simplen Vorfahrtsverstoß nach § 8 der Straßenverkehrs-Ordnung (StVO). Sie wertete das Manöver als vorsätzliche Straßenverkehrsgefährdung.
Der entscheidende Hebel für die Staatsanwaltschaft war der Straftatbestand des § 315c des Strafgesetzbuches (StGB). Dieser Paragraph bestraft Fahrer, die durch besonders gefährliche Manöver – die sogenannten „sieben Todsünden“ im Straßenverkehr – andere Menschen konkret gefährden. Die Staatsanwaltschaft ging davon aus, dass der Autofahrer die Vorfahrt „grob verkehrswidrig und rücksichtslos“ verletzt habe. Trifft dieser Vorwurf zu, gilt der Fahrer als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen. Seine Fahrerlaubnis wäre ihm in einem späteren Hauptprozess mit hoher Wahrscheinlichkeit entzogen worden, wie es § 69 StGB vorsieht. Um diese Gefahr sofort zu bannen, beantragte die Staatsanwaltschaft die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a der Strafprozessordnung (StPO). Im Klartext: Der Führerschein sollte weg, noch bevor es überhaupt zu einer Verhandlung kommt.
Was ist der Unterschied zwischen Augenblicksversagen und Rücksichtslosigkeit?
Die Verteidigung des Autofahrers pulverisierte diese Argumentation. Sie zeichnete ein anderes Bild des Vorfalls – eines, das jeder Fahrer nachvollziehen kann. Der Mann hatte vor dem Abbiegen angehalten. Er hatte den Blinker gesetzt. Er hatte den Verkehr von links beobachtet. Sein Fehler: Er übersah den von rechts kommenden Radfahrer. Die Verteidigung argumentierte, dies sei kein Fall von rücksichtslosem Verhalten, sondern ein klassisches Augenblicksversagen. Eine menschliche Unaufmerksamkeit.
Hier liegt der Kern des gesamten Falles. Das Gesetz unterscheidet präzise zwischen einem Fehler und einer rücksichtslosen Tat. Rücksichtslos im Sinne des § 315c StGB handelt, wer sich aus eigensüchtigen Motiven über seine Pflichten hinwegsetzt – etwa weil er schneller ankommen will. Rücksichtslos handelt auch, wer aus purer Gleichgültigkeit die Sicherheit anderer ignoriert. Eine bloße Unachtsamkeit, ein kurzer Moment der Ablenkung oder eine Fehleinschätzung der Verkehrslage reichen dafür nicht aus. Die Verteidigung machte geltend: Der Fahrer wollte niemanden gefährden. Er war nicht gleichgültig. Er hat einfach einen Fehler gemacht. Ein solcher Fehler rechtfertigt keine vorläufige Entziehung des Führerscheins.
Warum lehnte das Gericht den Antrag der Staatsanwaltschaft ab?
Das Amtsgericht Dülmen folgte der Argumentation der Verteidigung. Die Richter analysierten den Sachverhalt nüchtern und stellten fest: Die Beweislage gab die schweren Vorwürfe der Staatsanwaltschaft nicht her. Die Zeugenaussagen bestätigten, dass der Autofahrer sein Fahrzeug gestoppt, geblinkt und den Verkehr beobachtet hatte. Sein Verhalten vor dem Fehler sprach gegen eine generelle Gleichgültigkeit.
Das Gericht stellte klar: Nicht jede Vorfahrtsverletzung, auch wenn sie gefährlich ist, ist automatisch „grob verkehrswidrig“ und „rücksichtslos“ im Sinne der Strafnorm des § 315c StGB. Für diesen schweren Vorwurf fehlen im vorliegenden Fall die Anhaltspunkte. Es gab keine Hinweise auf überhöhte Geschwindigkeit. Es gab kein besonders riskantes Fahrmanöver. Es gab vor allem keine Anzeichen dafür, dass der Fahrer die Gefährdung des Radfahrers bewusst in Kauf genommen hätte.
Die Richter zogen eine klare Linie, die auf jahrelanger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und anderer Obergerichte beruht. Ein Augenblicksversagen ist menschlich. Es ist kein Ausdruck einer charakterlichen Ungeeignetheit, die den sofortigen Entzug der Fahrerlaubnis rechtfertigt. Die Staatsanwaltschaft konnte nicht belegen, dass das Verhalten des Autofahrers über eine bloße Unachtsamkeit hinausging. Damit fehlte es an den „dringenden Gründen“ für die Annahme, dass der Führerschein in der Hauptverhandlung sicher entzogen würde. Der Antrag der Staatsanwaltschaft wurde zurückgewiesen. Der Autofahrer durfte seinen Führerschein behalten.
Die Urteilslogik
Gerichte ziehen eine scharfe Trennlinie zwischen dem menschlichen Augenblicksversagen und der strafrechtlich relevanten, rücksichtslosen Gefährdung des Straßenverkehrs.
- Der Vorsatz definiert die Rücksichtslosigkeit: Wer im Straßenverkehr einen Fehler begeht, handelt nur dann grob verkehrswidrig und rücksichtslos im strafrechtlichen Sinne, wenn er seine Pflichten aus eigensüchtigen Motiven missachtet oder die Sicherheit anderer aus Gleichgültigkeit hinnimmt.
- Unaufmerksamkeit rechtfertigt keine Ungeeignetheit: Eine bloße Unachtsamkeit oder Fehleinschätzung der Verkehrslage gilt als menschliches Augenblicksversagen, das keine charakterliche Eignungslücke des Fahrers beweist, selbst wenn daraus eine konkrete Gefährdung resultiert.
- Dringende Gründe müssen den Entzug belegen: Die sofortige Abnahme der Fahrerlaubnis setzt voraus, dass die Ermittlungen bereits jene zwingenden Beweise liefern, die eine spätere Verurteilung und den endgültigen Entzug der Fahrerlaubnis als höchstwahrscheinlich erscheinen lassen.
Die Anwendung des Strafrechts erfordert stets den Nachweis von Vorsatz oder grober Gleichgültigkeit; bloße Fahrlässigkeit verschiebt die Sanktion in den Bereich der Ordnungswidrigkeiten.
Benötigen Sie Hilfe?
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Experten Kommentar
Wer einen Radfahrer übersieht, hat einen Fehler gemacht – keine Frage. Der entscheidende Punkt ist, wie weit die Staatsanwaltschaft diesen Fehler treiben darf, um daraus eine Straftat zu konstruieren, die den sofortigen Entzug des Führerscheins rechtfertigt. Dieses Urteil liefert die wichtige Klarstellung: Ein Augenblicksversagen ist keine bewusste Gleichgültigkeit oder Rücksichtslosigkeit im strafrechtlichen Sinne. Praktisch bedeutet das, dass der schnelle Antrag auf vorläufigen Führerscheinentzug scheitert, wenn der Fahrer nicht völlig ignorante Fahrmanöver gezeigt hat. Die Verteidigung muss gezielt auf jene Details zeigen, die belegen, dass der Mandant kurz unaufmerksam war, statt andere bewusst zu gefährden.
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Was droht mir, wenn meine Vorfahrtsverletzung nur als Augenblicksversagen eingestuft wird?
Die Einstufung als Augenblicksversagen ist juristisch eine immense Erleichterung, da sie die Annahme krimineller Rücksichtslosigkeit widerlegt und damit den Entzug Ihrer Fahrerlaubnis nach § 69 StGB abwendet. Allerdings gilt der zugrundeliegende Verstoß gegen die Straßenverkehrs-Ordnung weiterhin als Ordnungswidrigkeit. Sie entgehen zwar dem schweren Strafverfahren, müssen aber mit einem empfindlichen Bußgeld und Punkten in Flensburg rechnen.
Der wesentliche Unterschied liegt im Fokus des Gesetzes. Wenn das Gericht ein Augenblicksversagen annimmt, entscheidet es damit, dass Ihnen die für eine Straftat nach § 315c StGB notwendige subjektive Gleichgültigkeit fehlte. Juristen nennen das die fehlende Rücksichtslosigkeit. Ohne diesen Vorsatz oder die grobe Fahrlässigkeit fällt der schwere Straftatbestand weg. Das Risiko einer Freiheitsstrafe und der automatische Verlust des Führerscheins sind damit vom Tisch.
Allerdings beseitigt die Milde des Gerichts nicht den tatsächlichen Fahrfehler. Der Verstoß gegen die Vorfahrtsregel (§ 8 StVO) ist objektiv geschehen und bleibt eine Pflichtverletzung. Dieser objektive Fehler wird nun im Rahmen des Ordnungswidrigkeitenrechts (OwiG) verfolgt. Die Sanktionen sind milder. Sie reichen von einem Bußgeld in dreistelliger Höhe bis hin zu Punkten und, je nach Schwere der Gefährdung oder des entstandenen Schadens, einem befristeten Fahrverbot.
Ein passender Vergleich ist der Unterschied zwischen einem unbeabsichtigten Fauxpas und einem geplanten Vergehen. Ein Augenblicksversagen ist wie das versehentliche Umstoßen einer Tasse Kaffee: Ein ärgerlicher Schaden ist entstanden, aber es war keine böse Absicht dahinter. Das Gesetz sieht den Schaden, bewertet aber die Absicht hinter der Handlung radikal unterschiedlich und ahndet den Vorfall daher „nur“ als Verstoß gegen die Straßenverkehrs-Ordnung.
Nehmen Sie die Entwarnung des Gerichts nicht als Freibrief. Rechnen Sie fest damit, dass in Kürze ein Bußgeldbescheid von der zuständigen Behörde folgt. Prüfen Sie diesen Bescheid sofort sorgfältig auf formale Fehler und die korrekte Dokumentation der Gefahrenlage. Wenn der Bußgeldbescheid ein Fahrverbot vorsieht, ist eine erneute juristische Prüfung der Gefahrenlage durch einen Fachanwalt dringend ratsam.
Bin ich wegen fahrlässiger Körperverletzung strafbar, wenn beim Unfall jemand verletzt wurde?
Selbst wenn der Vorwurf der Straßenverkehrsgefährdung (§ 315c StGB) aufgrund eines Augenblicksversagens entfällt, sind Sie wegen fahrlässiger Körperverletzung (§ 229 StGB) weiterhin strafbar, sofern der Unfallgegner verletzt wurde. Dieser Tatbestand erfordert im Gegensatz zur schweren Gefährdung keine kriminelle Rücksichtslosigkeit, sondern lediglich die Verletzung einer einfachen Sorgfaltspflicht. Das Gericht prüft die Strafbarkeit nach § 229 StGB strikt getrennt vom Vorwurf der Rücksichtslosigkeit.
Viele Autofahrer verwechseln die Anforderungen der beiden Straftatbestände miteinander. Juristen nennen den § 315c StGB ein Delikt, das primär das rücksichtslose Verhalten bestrafen soll, welches die Allgemeinheit betrifft. Scheitert dieser Vorwurf am fehlenden subjektiven Element der Rücksichtslosigkeit, weil das Gericht von einem Augenblicksversagen ausgeht, bedeutet das nicht automatisch das Ende des gesamten Strafverfahrens.
Die Regel lautet: Die fahrlässige Körperverletzung (§ 229 StGB) ist deutlich leichter zu erfüllen. Hier zählt einzig und allein, dass Sie eine Verkehrsregel (die Sorgfaltspflicht) verletzt haben und diese Pflichtverletzung kausal zur Verletzung einer anderen Person führte. Ob Sie dabei unachtsam, abgelenkt oder grob fehlerhaft gehandelt haben, spielt im Grundsatz keine Rolle, solange die Fahrlässigkeit feststeht. Ein Augenblicksversagen ist definitionsgemäß eine Form der Fahrlässigkeit.
Denken Sie an die Situation eines Handwerkers. Wenn dieser ein Sicherungsseil vergisst, handelt er fahrlässig und macht einen Fehler. Fällt dadurch ein Kollege von der Leiter, ist die fahrlässige Körperverletzung erfüllt. Für die Verurteilung ist unerheblich, ob der Handwerker den Kollegen vorsätzlich schädigen wollte oder ob er nur in Gedanken war – der Fokus liegt allein auf der unterlassenen Sorgfalt, nicht auf einer bösen Absicht.
Suchen Sie sofort das erste Schreiben der Behörden heraus. Prüfen Sie, ob neben der Straßenverkehrsgefährdung (§ 315c StGB) auch der Vorwurf der fahrlässigen Körperverletzung (§ 229 StGB) separat erwähnt wird. Ist dies der Fall, müssen Sie die Verteidigung neu ausrichten, da Ihnen bei einer Verurteilung eine empfindliche Geldstrafe oder in schweren Fällen sogar eine Freiheitsstrafe drohen kann. Da die Verfolgung von § 229 StGB ein relatives Antragsdelikt ist, sollten Sie unbedingt prüfen lassen, ob der Verletzte den erforderlichen Strafantrag fristgerecht gestellt hat.
Wie geht das Strafverfahren weiter, nachdem der vorläufige Führerscheinentzug abgelehnt wurde?
Die Ablehnung des Antrags auf vorläufigen Führerscheinentzug nach § 111a StPO bedeutet keineswegs das Ende des gesamten Strafverfahrens. Es ist lediglich eine wichtige Zwischenentscheidung. Das eigentliche Hauptverfahren wegen der zugrundeliegenden Straftat (z.B. § 315c StGB) läuft weiter. Die Staatsanwaltschaft kann weiterhin Anklage erheben, allerdings ist die Verteidigungsposition durch das Gerichtsurteil zum Augenblicksversagen erheblich gestärkt.
Gerichte fällen im Verfahren über den vorläufigen Entzug nur eine Prognose. Sie prüfen einzig und allein, ob es „dringende Gründe“ für die Annahme gibt, dass Ihnen die Fahrerlaubnis später, in der Hauptverhandlung, zwingend entzogen werden muss. Wurde dieser Antrag abgelehnt, hat das Gericht signalisiert, dass die Schwere der Tat und die damit unterstellte charakterliche Ungeeignetheit schwer beweisbar sind. Dieser richterliche Zweifel betrifft aber noch nicht die eigentliche Schuldfrage.
Die Staatsanwaltschaft ist an diese Zwischenentscheidung nicht gebunden. Sie wird nun entscheiden, ob sie trotz der richterlichen Skepsis Anklage erhebt und den Fall zur Hauptverhandlung treibt, oder ob sie das Verfahren einstellt. Im Falle einer Anklage wird das Verfahren vor dem zuständigen Amtsgericht weitergeführt. Dort wird die tatsächliche strafrechtliche Verantwortlichkeit im vollen Umfang verhandelt. Der Fokus verschiebt sich jetzt von der schnellen Wegnahme des Führerscheins hin zur Klärung der konkreten Tatbestände.
Denken Sie an die Situation eines Fußballspiels: Die Ablehnung des § 111a StPO ist wie das Zurücknehmen einer Roten Karte durch den Video-Assistenten. Sie dürfen weiterspielen und sind nicht sofort vom Feld. Das Spiel (das eigentliche Verfahren) ist damit aber noch nicht gewonnen. Sie müssen sich weiterhin gegen den Vorwurf des Foulspiels (die Straftat nach § 315c StGB oder § 229 StGB) verteidigen.
Nutzen Sie diese gewonnene Zeit strategisch. Die positive Gerichtsentscheidung liefert Ihnen eine extrem starke argumentative Vorlage. Erarbeiten Sie gemeinsam mit Ihrem Anwalt eine detaillierte Strategie für die Hauptverhandlung. Konzentrieren Sie sich darauf, die Argumente des Gerichts – insbesondere die Feststellung des Augenblicksversagens statt der Rücksichtslosigkeit – im Hauptverfahren zu zementieren.
Welche Beweise muss ich vorlegen, um Augenblicksversagen erfolgreich nachzuweisen?
Um Augenblicksversagen juristisch zu etablieren, müssen Sie die von der Staatsanwaltschaft unterstellte Rücksichtslosigkeit gezielt widerlegen. Entscheidend sind Beweise, die Ihre gewissenhafte Fahrweise unmittelbar vor dem Fehler belegen. Dokumentieren Sie jede Handlung, die gegen pure Gleichgültigkeit spricht, etwa dass Sie geblinkt, die Geschwindigkeit reduziert oder den Verkehr beobachtet haben. Diese Fakten überführen den Vorwurf der kriminellen Fahrlässigkeit in den Bereich der menschlichen Unachtsamkeit. Ein solcher Nachweis ist die Grundlage, um einen schweren Straftatbestand (§ 315c StGB) abzuwenden.
Juristen legen bei der Abgrenzung von Straftat und Ordnungswidrigkeit großen Wert auf die innere Haltung des Fahrers. Bei der Straßenverkehrsgefährdung (§ 315c StGB) muss das Verhalten nicht nur objektiv gefährlich sein („grob verkehrswidrig“), sondern auch subjektiv tadelnswert („rücksichtslos“). Die Regel lautet: Rücksichtslosigkeit bedeutet, dass Sie entweder bewusst eine Gefährdung in Kauf genommen oder aus eigensüchtigen Gründen (zum Beispiel, weil Sie Zeit sparen wollten) gehandelt haben. Genau hier setzt Ihre Verteidigungsstrategie an.
Ihre Aufgabe ist es, aktiv nachzuweisen, dass kein eigensüchtiges Motiv vorlag. Dokumentieren Sie, dass das Manöver nicht von überhöhter Geschwindigkeit oder einem aggressiven Fahrstil begleitet wurde. Zeugenaussagen spielen hierbei eine Schlüsselrolle. Sie müssen bestätigen, dass Sie im Grunde alle Sorgfaltspflichten beachtet haben, nur in der entscheidenden Sekunde einen Fehler bei der Wahrnehmung gemacht haben. Der Fehler war nicht die Folge von Gleichgültigkeit, sondern einer Unachtsamkeit.
Ein passender Vergleich ist dieser: Der Staatsanwalt wirft Ihnen vor, aggressiv und vorsätzlich gehandelt zu haben (Rücksichtslosigkeit). Sie müssen mit entlastenden Beweisen zeigen, dass Sie lediglich kurz abgelenkt oder in der Fehleinschätzung begriffen waren (Augenblicksversagen). Der Fokus muss stets darauf liegen, dass Sie sich nicht „aus eigensüchtigen Motiven über Ihre Pflichten hinweggesetzt“ haben, wie es das Gesetz verlangt.
Erstellen Sie sofort eine detaillierte Chronologie der zehn Sekunden vor dem Unfall. Markieren Sie penibel jede Handlung, die Ihre Sorgfaltspflicht unterstreicht: Blinken, Bremsen, Beobachten links oder rechts, Hand am Lenkrad. Nutzen Sie diese präzise Dokumentation, um jedes Argument der Staatsanwaltschaft, Sie hätten „pur gleichgültig“ gehandelt, mit Fakten zu pulverisieren.
Wann gilt Fahren juristisch als rücksichtslos und wann nur als grob verkehrswidrig?
Grob verkehrswidrig und rücksichtslos sind die beiden zentralen und kumulativ erforderlichen Bausteine für die schwere Straftat der Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315c StGB). Grob verkehrswidrig ist der objektive, schwerwiegende Verstoß gegen Verkehrsregeln (die Tat selbst). Rücksichtslos hingegen beschreibt die subjektive Komponente: das Handeln aus purer Gleichgültigkeit oder eigensüchtigen Motiven (die Gesinnung des Täters). Für eine Verurteilung nach § 315c StGB müssen beide Komponenten zwingend vorliegen.
Juristen nennen die Differenzierung die Trennung von Tat und Täter. Grob verkehrswidrig ist ein Verhalten, das objektiv besonders gefährlich ist und eine grobe Missachtung der Pflichten darstellt. Dies sind die berühmten „sieben Todsünden“ des § 315c StGB, wie die Missachtung der Vorfahrt, Fahren unter Alkohol oder das falsche Überholen an unübersichtlichen Stellen. Entscheidend ist hier, dass die Gefährdung objektiv groß war.
Rücksichtslosigkeit stellt die Hürde jedoch deutlich höher. Hier geht es nicht nur um den Fehler, sondern um die Geisteshaltung dahinter. Wer zum Beispiel rast, weil er einen wichtigen Termin erreichen will (eigensüchtiges Motiv), oder die Gefahr eines Rotlichtverstoßes bewusst in Kauf nimmt (Gleichgültigkeit), handelt rücksichtslos. Fehlt dieses subjektive Element – liegt also nur eine bloße Unachtsamkeit vor, ein sogenanntes Augenblicksversagen – kann der Verstoß zwar objektiv schwer gewesen sein, die Strafbarkeit nach § 315c StGB scheidet aber aus.
Ein passender Vergleich ist das Missachten einer roten Ampel. Wenn Sie das Rotlicht überfahren, ist das objektiv grob verkehrswidrig. Haben Sie es schlicht übersehen, weil Sie für eine Sekunde abgelenkt waren, liegt Unachtsamkeit vor. Überfahren Sie es aber in dem Wissen, dass es rot ist, weil Sie wütend über den Verkehr sind und schnellstmöglich nach Hause wollen, handeln Sie rücksichtslos.
Wenn die Staatsanwaltschaft Ihnen Rücksichtslosigkeit vorwirft, konzentrieren Sie sich in der Verteidigung darauf, das angebliche eigensüchtige Motiv zu entkräften. Fragen Sie sich: Welche Motivation (Zeitdruck, Wut, Bequemlichkeit) wird mir unterstellt? Dokumentieren Sie alle Handlungen unmittelbar vor dem Fehler (wie Blinken oder Bremsversuche), die belegen, dass Sie sich nicht aus purer Gleichgültigkeit über die Verkehrsregeln hinweggesetzt haben.
Hinweis: Bitte beachten Sie, dass die Beantwortung der FAQ Fragen keine individuelle Rechtsberatung darstellt und ersetzen kann. Alle Angaben im gesamten Artikel sind ohne Gewähr. Haben Sie einen ähnlichen Fall und konkrete Fragen oder Anliegen? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren. Wir klären Ihre individuelle Situation und die aktuelle Rechtslage.
Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
Augenblicksversagen
Augenblicksversagen beschreibt eine menschliche Unachtsamkeit oder Fehleinschätzung im Straßenverkehr, die nicht auf bösem Willen oder purer Gleichgültigkeit beruht.
Das Gesetz trennt damit den einfachen, unachtsamen Fehler von der kriminellen Rücksichtslosigkeit und verhindert, dass jeder Fahrfehler sofort zu einer schweren Straftat führt.
Beispiel: Das Gericht stufte das Übersehen des Radfahrers als typisches Augenblicksversagen ein, da der Fahrer unmittelbar vor dem Fehler gewissenhaft den Verkehr beobachtet hatte.
Fahrlässige Körperverletzung (§ 229 StGB)
Fahrlässige Körperverletzung (§ 229 StGB) liegt vor, wenn eine Person durch die Verletzung ihrer allgemeinen Sorgfaltspflichten die körperliche Unversehrtheit eines anderen schädigt.
Dieser Straftatbestand stellt sicher, dass jeder, der einen Unfall verursacht und dabei jemanden verletzt, auch ohne vorsätzliche Absicht für den entstandenen Schaden strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird.
Beispiel: Selbst wenn der schwere Vorwurf der Straßenverkehrsgefährdung entfällt, ist eine Verurteilung wegen fahrlässiger Körperverletzung möglich, falls der Radfahrer bei dem Zusammenstoß tatsächlich Verletzungen erlitt.
Grob verkehrswidrig
Juristen bezeichnen ein Fahrverhalten als grob verkehrswidrig, wenn es objektiv einen schwerwiegenden Verstoß gegen grundlegende Verkehrsregeln darstellt, wie zum Beispiel die eklatante Missachtung der Vorfahrt.
Dies ist die objektive Mindestanforderung für eine Straßenverkehrsgefährdung (§ 315c StGB) und markiert Handlungen, die das übliche Gefahrenrisiko im Verkehr massiv übersteigen.
Beispiel: Die Staatsanwaltschaft argumentierte, dass die Missachtung der Vorfahrt an der Einmündung klar als grob verkehrswidrig zu werten sei, da eine konkrete Gefahr für Leib und Leben entstand.
Ordnungswidrigkeit (OwiG)
Eine Ordnungswidrigkeit ist eine geringfügige Verletzung der Rechtsordnung, die im Gegensatz zu einer Straftat nur mit einem Bußgeld oder einem Fahrverbot, aber nicht mit Freiheitsstrafe geahndet wird.
Das Ordnungswidrigkeitengesetz (OwiG) dient dazu, kleinere Pflichtverletzungen zu sanktionieren und allgemeine Verhaltensregeln durchzusetzen, ohne sofort das scharfe Schwert des Strafrechts bemühen zu müssen.
Beispiel: Wird ein Vorfahrtsverstoß nicht als rücksichtslose Straftat, sondern lediglich als Augenblicksversagen eingestuft, folgt die Ahndung des Fahrfehlers als einfache Ordnungswidrigkeit.
Rücksichtslosigkeit
Rücksichtslosigkeit ist das notwendige subjektive Element der schweren Straßenverkehrsgefährdung (§ 315c StGB), welches vorliegt, wenn der Täter aus eigensüchtigen Motiven oder purer Gleichgültigkeit handelt.
Der Gesetzgeber will damit sicherstellen, dass nur Taten bestraft werden, bei denen eine besonders verwerfliche Gesinnung des Fahrers hinzukommt, die auf eine charakterliche Ungeeignetheit schließen lässt.
Beispiel: Die Verteidigung widerlegte die unterstellte Rücksichtslosigkeit erfolgreich, indem sie Zeugenaussagen vorlegte, die belegten, dass der Autofahrer vor dem Abbiegen angehalten und geblinkt hatte.
Straßenverkehrsgefährdung (§ 315c StGB)
Straßenverkehrsgefährdung (§ 315c StGB) ist ein schwerer Straftatbestand, der Fahrer sanktioniert, die durch besonders gefährliche Manöver Leib oder Leben anderer konkret gefährden und dabei grob verkehrswidrig sowie rücksichtslos handeln.
Dieser Paragraph schützt die Sicherheit des gesamten Straßenverkehrs und soll verhindern, dass Fahrer durch die „sieben Todsünden“ des Verkehrsrechts massiv die Rechte anderer verletzen.
Beispiel: Die Staatsanwaltschaft klagte den Autofahrer wegen vorsätzlicher Straßenverkehrsgefährdung an, weil sie annahm, die Missachtung der Vorfahrt sei rücksichtslos erfolgt.
Vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 111a StPO)
Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis ist eine Zwischenentscheidung im Strafverfahren, bei der das Gericht den Führerschein sofort einzieht, wenn „dringende Gründe“ für die spätere, zwingende Entziehung in der Hauptverhandlung sprechen.
Diese gerichtliche Maßnahme soll die Öffentlichkeit umgehend vor einem Fahrer schützen, der als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen gilt, noch bevor das eigentliche Strafurteil ergeht.
Beispiel: Weil das Amtsgericht Dülmen die kriminelle Rücksichtslosigkeit verneinte, lehnte es den Antrag der Staatsanwaltschaft auf vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a StPO ab.
Das vorliegende Urteil
Amtsgericht Dülmen – Az.: 42 Ds-82 Js 12374/24-36/25 – Beschluss vom 17.04.2025
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