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Vorlage eines gefälschten Impfbuches – Urkundenfälschung

LG Offenburg – Az.: 3 Qs 9/22 – Beschluss vom 11.05.2022

1. Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Offenburg gegen den Beschluss des Amtsgerichts Gengenbach vom 12.01.2022, Az. 1 Cs 300 Js 21034/21, wird als unbegründet verworfen.

2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die der Angeschuldigten im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe

I.

Die Staatsanwaltschaft Offenburg beantragte am 13.12.2021 beim Amtsgericht Gengenbach den Erlass eines Strafbefehls gegen die Angeschuldigte wegen des Verdachts der Urkundenfälschung nach § 267 Abs. 1 Alt. 3 StGB. Die Angeschuldigte soll am 18.10.2021 gegen 12 Uhr in der A.-Apotheke in Z. gegenüber dem dortigen Apotheker ein gefälschtes Impfbuch vorgelegt haben, das angebliche Impfungen gegen COVID-19 mit dem Impfstoff Comirnaty des Herstellers BioNTech/Pfizer am 02.07.2021 sowie am 10.08.2021 belegen sollte. Tatsächlich sei die Angeschuldigte – wie ihr bewusst gewesen sei – an den genannten Tagen nicht geimpft worden. Sie habe erreichen wollen, dass ihr ein digitaler Impfnachweis mit QR-Code für ihr Mobiltelefon ausgestellt werde, mit dem sie im Rahmen der pandemiebedingten Einschränkungen nach den sogenannten 3G- oder 2G-Regelungen an weiten Teilen des gesellschaftlichen Lebens hätte teilhaben können.

Das Amtsgericht Gengenbach lehnte den Erlass eines Strafbefehls mit Entscheidung vom 12.01.2022 ab, da ein hinreichender Tatverdacht nicht gegeben sei. Das Verhalten der Angeschuldigten stelle in der bis zum 24.11.2021 geltenden Gesetzeslage kein strafbares Verhalten dar. Die Anwendung des § 267 Abs. 1 StGB sei durch die §§ 277, 279 StGB a.F. gesperrt. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Begründung des Beschlusses Bezug genommen.

Gegen den ihr am 18.01.2022 zugestellten Beschluss legte die Staatsanwaltschaft Offenburg mit Telefax vom 20.01.2022 sofortige Beschwerde ein. Eine Sperrwirkung der §§ 277, 279 StGB sei nicht gegeben. Erfasst würden hiervon nur solche Konstellationen, in denen eine Täuschung gegenüber einer Behörde oder einer Versicherungsgesellschaft erfolge. Eine Apotheke als Täuschungsadressat falle dagegen nicht unter die Regelung der §§ 277, 279 StGB a.F., sodass deren Tatbestand nicht erfüllt sei.

Die Angeschuldigte erhielt Gelegenheit zur Stellungnahme. Eine solche ging nicht ein.

II.

Die nach §§ 408 Abs. 2, 210 Abs. 2, 311 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft hat in der Sache keinen Erfolg. Das Amtsgericht Gengenbach hat zu Recht den Erlass des beantragten Strafbefehls abgelehnt, da aufgrund der Sperrwirkung der §§ 277, 279 StGB a.F. kein hinreichender Tatverdacht bezüglich einer strafbaren Urkundenfälschung gegeben ist.

1. In tatsächlicher Hinsicht ergibt sich ein hinreichender Tatverdacht ohne Weiteres aus den gefertigten Lichtbildern des vorgelegten Impfbuchs sowie der Aussage des Zeugen Volkmann, dem Unstimmigkeiten in dem vorgelegten Impfbuch aufgefallen seien.

2. Einem hinreichenden Tatverdacht bezüglich einer Urkundenfälschung nach § 267 Abs. 1 StGB stehen jedoch rechtliche Hindernisse entgegen.

Während auch nach Auffassung der Kammer das Impfbuch als Urkunde i.S.d. § 267 StGB und darüber hinaus als Gesundheitszeugnis i.S.d. § 277 StGB a.F. anzusehen sein dürfte (ebenso OLG Stuttgart, Beschluss vom 08.03.2022 – 1 Ws 33/22 m.w.N.), ist ein Rückgriff auf § 267 StGB durch die Privilegierungswirkung der §§ 277, 279 StGB a.F. gesperrt.

a) Die Frage, ob die §§ 277 ff. StGB a.F. gegenüber den Delikten der Urkundenfälschung eine umfassende Privilegierung beim Umgang mit gefälschten Gesundheitszeugnissen darstellen, ist insbesondere seit der zunehmenden Relevanz im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie und dem vermehrten Auftreten gefälschter Impfbücher umstritten.

aa) Das Oberlandesgericht Hamburg und ihm folgend das Oberlandesgericht Stuttgart sowie das Oberlandesgericht Schleswig verneinen eine Sperrwirkung, wenn Adressat der Täuschungshandlung nicht eine Behörde oder eine Versicherungsgesellschaft sei. Die Vorschrift des § 277 StGB a.F. basiere auf einer Übernahme aus dem preußischen Strafgesetzbuch (pStGB) und dort auf § 256 pStGB. Die Funktion der Norm habe darin bestanden, die Strafbarkeit der Urkundenfälschung zu erweitern. Denn der damalige Tatbestand der Urkundenfälschung sei im Vergleich zum heutigen § 267 StGB deutlich eingeschränkt gewesen. Die allgemeine Urkundenfälschung habe nicht alle Fälschungen unter Strafe gestellt, insbesondere seien Gesundheitszeugnisse nicht erfasst worden. Ein allgemeiner Anwendungsvorrang, obgleich nicht alle Voraussetzungen der Norm erfüllt seien, erscheine daher zweifelhaft.

Vorlage eines gefälschten Impfbuches - Urkundenfälschung
(Symbolfoto: perfect-picture-hunter/Shutterstock.com)

Dem Gesetz sei zudem bei systematischer Betrachtung nicht zu entnehmen, dass gefälschte Gesundheitszeugnisse grundsätzlich aus dem Anwendungsbereich der Urkundenfälschung herausfallen sollten. Der Tatbestand der Urkundenfälschung schütze den Rechtsverkehr umfassend vor Herstellung und Gebrauch unechter Urkunden. Eine Beschränkung auf Bereiche, die als besonders bedeutsam oder schützenswert angesehen würden, finde nicht statt. Auch seien keine Gründe dafür ersichtlich, dass das Strafgesetzbuch den Gebrauch falscher Gesundheitszeugnisse gerade gegenüber Behörden und Versicherungen als unrechtserhöhend einstufe. Gegen eine erhöhte Schutzwürdigkeit – und im Ergebnis eine Privilegierung begründend – spreche vielmehr, dass Behörden und Versicherungen häufig die Möglichkeit hätten, Gesundheitszeugnisse durch selbst beauftragte Sachverständige zu überprüfen oder weil gegenüber Versicherungen und Behörden häufig zumindest faktischer Zwang zur Einreichung von gesundheitlichen Zeugnissen bestehe (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 27.01.2022 – 1 Ws 114/21, juris; OLG Stuttgart, Beschluss vom 08.03.2022 – 1 Ws 33/22, BeckRS 2022, 6034; OLG Schleswig, Beschluss vom 31.03.2022 – 1 Ws 19/22, BeckRS 2022, 8590).

bb) Demgegenüber sieht die herrschende Meinung in der Literatur und teilweise auch die Rechtsprechung §§ 277 ff. StGB a.F. vollumfänglich als privilegierende Spezialnormen an (vgl. MüKoStGB/Erb, 4. Auflage 2022, § 277, Rn. 9, 11; Hoyer, SK-StGB, 9. Auflage 2017, § 277 Rn. 5; OLG Bamberg, Beschluss vom 17.01.2022 – 1 Ws 732/21, juris; LG Osnabrück, Beschluss vom 26.10.2021 – 3 Qs 38/21, juris; LG Karlsruhe, Beschluss vom 26.11.2021 -19 Qs 90/21; LG Kaiserslautern, Beschluss vom 23.12.2021 – 5 Qs 107/21, juris; LG Landau, Beschluss vom 13.12.2021 – 5 Qs 93/21).

Die §§ 277 ff. StGB a.F. verdrängten die Anwendung des § 267 StGB nicht nur, wenn alle Tatbestandsvoraussetzungen etwa des § 277 StGB a.F. erfüllt seien, sondern bereits dann, wenn das gefälschte Gesundheitszeugnis gegenüber einem anderen Adressaten als den in §§ 277, 279 StGB genannten Stellen verwendet werde. Das Tatbestandsmerkmal „Behörde oder Versicherungsgesellschaft“ müsse nicht gegeben sein, um die Privilegierungswirkung eintreten zu lassen. Begründet wird dies mit einem Wertungswiderspruch, da die Fälle, die unter die allgemeine Regelung des § 267 StGB fallen würden, geringere Voraussetzungen hätten, jedoch einen weiteren Strafrahmen aufwiesen. Auch führe die unterschiedliche Ausgestaltung der Straftatbestände – § 267 StGB als einaktiges, § 277 StGB a.F. als zweiaktiges Delikt – ansonsten zu Widersprüchen. Wenn ein Gesundheitszeugnis gefälscht würde, um es einer Behörde oder Versicherungsgesellschaft vorzulegen, es aber noch nicht zur Vorlage gekommen sei, wäre diese Handlung nicht nach § 277 StGB a.F. strafbar. Hingegen sei eine Strafbarkeit nach § 267 StGB gegeben, da aufgrund der Einaktigkeit dieser Strafnorm bereits das Erstellen der unechten Urkunde den Tatbestand der Urkundenfälschung vollende. Ginge man nicht von einer Sperrwirkung aus, sei die bloße Fälschung eines Gesundheitszeugnisses schwerer bestraft als die tatsächliche – für die Allgemeinheit gefährlichere – Vorlage zur Täuschung (vgl. LG Kaiserslautern, Beschluss vom 23.12.2021 – 5 Qs 107/21, a.a.O.).

b) Die Kammer schließt sich der letztgenannten Auffassung an.

Obgleich die Annahme einer umfassenden Sperrwirkung trotz Nichtvorliegens aller Tatbestandsmerkmale der die Sperrwirkung auslösenden Norm mit allgemeinen strafdogmatischen Erwägungen, wonach eine solche nur dann bestehen kann, wenn das privilegierende Delikt tatsächlich erfüllt ist (so etwa im Fall des § 216 StGB), schwer zu vereinbaren ist, ist dies im Falle des Verhältnisses von § 267 StGB zu §§ 277 ff. StGB a.F. die zu bevorzugende Lösung.

aa) Zunächst sind nach Ansicht der Kammer die Tatbestandsmerkmale des § 279 StGB a.F. nicht erfüllt. Es mangelt an einem Gebrauch des gefälschten Impfbuches gegenüber einer Behörde. Soweit das Landgericht Kempten in einer neueren Entscheidung den Mitarbeiter einer Apotheke als Vermittler zwischen dem Bürger und dem Robert-Koch-Institut, welches eine Bundesbehörde ist, ansieht und somit das Tatbestandsmerkmal „Behörde“ i.S.d. § 279 StGB a.F. ohne nähere Begründung bejaht hat (LG Kempten, Beschluss vom 28.02.2022 – 2 Qs 27/22, BeckRS 2022, 3507), ist dies nicht überzeugend.

Der Gesetzgeber hat in § 22a Abs. 5 IfSG die Voraussetzungen und den Vorgang für den Erhalt eines digitalen Impfnachweises geregelt. Danach ist jeder gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 geimpften Person auf Wunsch die Durchführung der Schutzimpfung in einem digitalen Zertifikat zu bescheinigen. Die Bescheinigung kann durch eine zur Durchführung der Schutzimpfung berechtigte Person oder nachträglich durch jeden Arzt oder Apotheker erfolgen. Voraussetzung für die Bescheinigung durch einen Arzt oder Apotheker ist jedoch nach § 22a Abs. 5 Satz 2 IfSG, dass diese Person sich zum Nachtrag unter Verwendung geeigneter Maßnahmen zur Vermeidung der Ausstellung eines unrichtigen COVID-19-Impfzertifikats, insbesondere um die Identität der geimpften Person und die Authentizität der Impfdokumentation nachzuprüfen, bereit erklärt hat. Zur Erstellung des COVID-19-Impfzertifikats übermittelt die zur Bescheinigung der Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 verpflichtete Person die in § 22 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 4 IfSG genannten personenbezogenen Daten an das Robert Koch-Institut, das das COVID-19-Impfzertifikat technisch generiert. Das Robert-Koch-Institut ist gemäß § 22a Abs. 5 Satz 4 IfSG sodann befugt, die zur Erstellung und Bescheinigung des COVID-19-Impfzertifikats erforderlichen personenbezogenen Daten zu verarbeiten. Aus diesem vorgezeichneten Verfahrensgang ergibt sich eine eigenständige Prüfbefugnis und -pflicht einer jeden Apotheke und eines jeden Arztes. Diese haben in eigener Verantwortung „geeignete Maßnahmen“ zum Schutz vor der Ausstellung unrichtiger Impfzertifikate zu treffen. Von Seiten des Robert-Koch-Instituts erfolgen keine spezifischen Anweisungen, dieses digitalisiert lediglich die durch die Apotheken oder Ärzte zur Verfügung gestellten personenbezogenen Daten. Die Tätigkeit der Apotheken und Ärzte geht somit deutlich über eine reine Vermittlertätigkeit hinaus.

Auch ein „Gebrauchen“ des verfälschten Impfnachweises gegenüber dem Robert-Koch-Institut ist durch die Vorlage bei der Apotheke nicht gegeben (so auch OLG Stuttgart, Beschluss vom 08.03.2022 – 1 Ws 33/22, Rn. 17, BeckRS 2022, 6034). In Anlehnung an § 267 StGB ist für den Gebrauch eines Gesundheitszeugnisses bei § 279 StGB a.F. zu verlangen, dass das Gesundheitszeugnis dem zu Täuschenden mit der Möglichkeit der Wahrnehmung zugänglich gemacht wird (vgl. BeckOK StGB/Weidemann, StGB, 52. Ed. 2022, § 279 Rn. 3; zum Ganzen im Fall der Vorlage gefälschter Therapiebescheinigungen beim TÜV: Leifeld, NZV 2013, 422). Erforderlich ist dabei eine tatsächliche sinnliche Wahrnehmungsmöglichkeit durch den Adressaten. Nicht ausreichend ist es, wenn dieser lediglich mittelbar durch eine weitere Person, der das Gesundheitszeugnis tatsächlich sinnlich wahrnehmbar gemacht wurde, über den Inhalt des Gesundheitszeugnisses in Kenntnis gesetzt und dieser Inhalt sodann Entscheidungsgrundlage für die Behörde ist (vgl. Leifeld, a.a.O.). Eine solche eigene Wahrnehmungsmöglichkeit des Robert-Koch-Instituts von dem in der Apotheke vorgelegten Impfbuch bestand hier jedoch nicht, da nicht das Impfbuch an sich, sondern lediglich die hierin enthaltenen personenbezogenen Daten weitergegeben werden sollten. Im Übrigen lässt der oben aufgezeigte Verfahrensgang gemäß § 22a Abs. 5 IfSG ohnehin nicht auf eine eigene Entscheidungskompetenz des Robert-Koch-Instituts dahingehend, ob ein COVID-19-Impfzertifikat technisch generiert wird, schließen, sofern eine verlässliche Überprüfung durch eine Apotheke oder einen Arzt erfolgt ist.

bb) Bezüglich einer Sperrwirkung der §§ 277 ff. StGB a.F. ergibt sich neben den bereits genannten Wertungswidersprüchen im Übrigen bei der hier spezifischen Konstellation der Impfbücher mit unrichtigen Eintragungen ein weiteres Problem auf der Ebene der Konkurrenzen. Wenn ein gefälschtes Gesundheitszeugnis bei einer Apotheke vorgelegt wird, um ein digitales Impfzertifikat zu erlangen, dabei bereits mit dem subjektiven Willen gehandelt wird, das so erlangte Impfzertifikat künftig jedenfalls auch gegenüber einer Behörde – beispielsweise nach Auslandsreisen oder um Zutritt in behördliche Gebäude, in denen die sogenannte 3G- oder 2G Regelung gilt, zu erlangen – einzusetzen, und eine Vorlage im Anschluss tatsächlich erfolgt, könnte aufgrund des einheitlichen Willens ein Fall der natürlichen Handlungseinheit vorliegen. Tateinheit zwischen den Delikten des § 267 StGB und § 277 StGB a.F. müsste in diesen Fällen jedoch ausscheiden und eine Sanktionierung – entgegen § 52 Abs. 2 StGB – einzig aus dem milderen Strafrahmen des § 277 StGB a.F. vorzunehmen sein. Anderenfalls würde die Privilegierung des § 277 StGB a.F. ins Leere laufen. Denn in Fällen, in denen von vorneherein der spätere Gebrauch einer verfälschten Urkunde schon zum Zeitpunkt der Erstellung der Urkunde vom Vorsatz umfasst ist, tritt auch eine mehrfache Verwendung der verfälschten Urkunde bei § 267 StGB im Wege der Konkurrenzen zurück. Die Besonderheiten einer Privilegierung können dann allerdings nicht dazu führen, dass nunmehr mehrere Delikte tateinheitlich nebeneinander stehen. Im Zweifel dürfte auch davon auszugehen sein, dass der Betroffene eine Verwendung gegenüber Behörden schon zum Zeitpunkt der Vorlage des gefälschten Impfbuches in seinen Vorsatz mit aufgenommen hat.

Wesentliches Argument für die von der Kammer vertretene Auffassung ist jedoch, dass eine andere Ansicht gegen das verfassungsrechtlich normierte Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 GG verstieße. Nach Art. 103 Abs. 2 GG kann eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Bei der Auslegung und Anwendung von Straftatbeständen ist dem Rechnung zu tragen. Geboten ist eine Auslegung, die das strafrechtlich vorwerfbare Verhalten vorhersehbar macht und nicht im Ungewissen lässt (BGHSt 50, 114 f.). Unklarheiten über den Anwendungsbereich von Strafnormen sind von der Rechtsprechung der Strafgerichte durch Präzisierung und Konkretisierung im Wege der Auslegung möglichst auszuräumen. Unzulässig ist dabei jede Rechtsanwendung, die – tatbestandsergänzend oder -erweiternd – über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht. Der Wortlaut der fraglichen Norm bildet die äußerste Grenze zulässiger Interpretation. Auslegung und Anwendung einer Strafvorschrift halten weiter allerdings auch dann verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht stand, wenn die Gerichte mit ihnen das gesetzgeberische Ziel der Norm in einem wesentlichen Punkt verfehlen oder verfälschen, an die Stelle der gesetzlichen Regelung inhaltlich eine andere setzen oder den Regelungsgehalt erstmals schaffen (Hömig/Wolff/Heinrich Amadeus Wolff, GG Art. 103 Rn. 17 m.w.N.). So liegt der Fall hier.

Zwar enthält der Wortlaut des § 277 StGB a.F. keinen ausdrücklichen Hinweis auf einen Anwendungsvorrang (so auch OLG Hamburg a.a.O; OLG Stuttgart a.a.O.), die Wertungswidersprüche, die sich im Verhältnis von § 267 StGB zu §§ 277 ff. StGB a.F. ergeben, waren dem Gesetzgeber jedoch bereits seit längerer Zeit bekannt. Das Amtsgericht Gengenbach hat zutreffend darauf hingewiesen, dass schon 1962 ein konkreter Gesetzesvorschlag vorgelegt wurde, um die Unstimmigkeiten zu beseitigen. Der E 62 vom 04.10.1962 beinhaltete mit dem dortigen § 309 eine Norm, die sich mit unwahren Gesundheitszeugnissen befasste. Dort heißt es in Abs. 1: „Wer zur Täuschung im Rechtsverkehr als Arzt […] wider besseres Wissen ein unwahres Zeugnis über den Körper- oder Gesundheitszustand […] ausstellt, wird […] bestraft“. Abs. 4 enthielt folgenden Vorschlag: „Wer ein wider besseres Wissen unwahr ausgestelltes Zeugnis der in den Absätzen 1 bis 3 bezeichneten Art zur Täuschung im Rechtsverkehr gebraucht, wird […] bestraft.“ In der Begründung wird sodann aufgeführt, es fehle an ausreichenden Gründen, den Strafschutz, wie es in §§ 277 bis 279 StGB geschehe, nur auf solche Gesundheitszeugnisse zu beschränken, die zum Gebrauch bei einer Behörde oder einer Versicherungsgesellschaft bestimmt seien. Gefälschte oder unwahre Gesundheitszeugnisse könnten auch auf anderen Lebensgebieten schwere Folgen nach sich ziehen (vgl. Bundestags-Drucksache IV/650, S. 486). Inhaltlich sollte daher durch die Formulierung „zur Täuschung im Rechtsverkehr“ eine Anpassung an § 267 StGB erfolgen. Es muss somit davon ausgegangen werden, dass jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt der bundesrepublikanische Gesetzgeber davon ausging, dass die Verwendung unwahrer Gesundheitszeugnisse gegenüber anderen als den genannten Stellen nicht strafbar sei. Die ansonsten in sich überzeugende systematische und teleologische Auslegung des Oberlandesgerichts Hamburg (vgl. OLG Hamburg, a.a.O.) hat diesen bedeutenden Umstand soweit erkennbar nicht bedacht.

Die Entstehung der jetzt zum 24.11.2021 in Kraft getretenen Neuregelung der §§ 277 ff. StGB deutet darauf hin, dass der Gesetzgeber auch weiterhin von einem straffreien Verhalten bei der Vorlage von Gesundheitszeugnissen bei anderen Stellen als Behörden und Versicherungsgesellschaften ausging (entgegen der Auffassung des LG Heilbronn, Beschluss vom 11.01.2022 – 1 Qs 95/21, juris). Zwar wird der Gesetzesentwurf der Fraktionen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP (Bundestags-Drucksache 20/15) damit begründet, dass einzelne strafwürdige Verhaltensweisen im Zusammenhang mit Gesundheitszeugnissen noch nicht hinreichend klar strafrechtlich erfasst seien und Unsicherheiten bestünden, sodass als Intention lediglich eine Klarstellung der Rechtslage in Betracht kommt. Allerdings geht dieser Gesetzesentwurf auch davon aus, dass nach damaliger Gesetzeslage nur die Vorlage von Gesundheitszeugnissen gegenüber Behörden und Versicherungsgesellschaften strafbar war (vgl. Bundestags-Drucksache 20/15, S. 34 vorletzter Absatz). Deutlicher ist dem Entwurf der Fraktion CDU/CSU zu entnehmen, dass jedenfalls diese unter Berufung auf die überwiegende Auffassung in der Rechtswissenschaft von einer Privilegierung bei der Fälschung von Gesundheitszeugnissen ausging. Ziel des Gesetzesentwurfs sei es, die bestehende Privilegierung abzuschaffen und Strafbarkeitslücken zu schließen, um die Besserstellung von Tätern von Urkundenfälschungen in Bezug auf Gesundheitszeugnisse zu beenden (Bundestags-Drucksache 20/27, S. 2). Durch die Neufassung solle die Strafbarkeitsschwelle herabgesetzt werden und weitere Verhaltensweisen – insbesondere im Hinblick auf Impfnachweise – pönalisiert werden (Bundestags-Drucksache 20/27, S. 11).

Auch die Tatsache, dass die Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister bereits mit Beschluss vom 16.06.2021 – und damit bevor die erste gerichtliche Entscheidung durch das Amtsgericht Osnabrück am 12.10.2021 (Az. 247 Gs 246/21) und dem folgend durch das Landgericht Osnabrück am 26.10.2021 (Az. 3 Qs 37/21) erging, die jeweils eine Strafbarkeit nach § 267 Abs. 1 StGB bei der hier vorliegenden Fallkonstellation verneint haben – die Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz aufforderte, eine entsprechende Gesetzesreform vorzulegen, lässt darauf schließen, dass zu diesem Zeitpunkt eine Strafbarkeit zumindest als zweifelhaft angesehen wurde. Schließlich wurde in die Neuregelung des §§ 277 ff. StGB mit der Formulierung „zur Täuschung im Rechtsverkehr“ nunmehr genau jene Formulierung eingeführt, die bereits dem Vorschlag E 62 zugrunde lag.

Wenn somit – wie hier – dem Gesetzgeber die Problematik seit längerer Zeit bekannt ist, er aber trotz eines konkreten Vorschlags zu deren Bereinigung untätig bleibt, wird den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG nicht Genüge getan, wenn Gerichte im Anschluss eine Auslegung der betroffenen Norm vornehmen, die zur Strafbarkeit des in Rede stehenden Handelns führt. Die Schließung von bewusst über mehrere Jahrzehnte in Kauf genommenen Strafbarkeitslücken kann nicht durch Auslegung von Strafnormen erfolgen, sobald ein tatsächliches Bedürfnis für die Pönalisierung erkannt wird, sondern ist allein Sache des Gesetzgebers. Die vorhandene Strafbarkeitslücke hat dieser erst durch das Gesetz vom 22.11.2021, in Kraft getreten am 24.11.2021, beseitigt.

3. Ein hinreichender Tatverdacht für die Erfüllung sonstiger Straftatbestände besteht nicht. Die Anwendung von §§ 74 Abs. 2, 73 Abs. 1a Nr. 8, 22 IfSG kommt nicht in Betracht, da keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Angeschuldigte berechtigt ist, Schutzimpfungen durchzuführen. Hinweise darauf, dass die Eintragungen in dem von der Angeschuldigten vorgelegten Impfbuch von einer berechtigten Person i.S.d. §§ 74 Abs. 2, 73 Abs. 1a Nr. 8, 22 IfSG erstellt wurden, und sich die Angeschuldigte daher wegen des Gebrauchs des Impfbuchs nach § 75a Abs. 3 IfSG strafbar gemacht haben könnte, ergeben sich aus dem Akteninhalt ebenfalls nicht.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 StPO.

 

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