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Unterbrechung Hauptverhandlung wegen den Risiken einer Infektion mit dem Corona-Virus

Oberlandesgericht Hamburg – Az.: 5 Ws 20 – 21/20 – 1 OBL 28/20 – Beschluss vom 07.04.2020

Auf die Beschwerden der Angeklagten C. S. und J A. wird der für den 08.04.2020 anberaumte Hauptverhandlungstermin aufgehoben.

Gründe

I.

Am 02.04.2020 beantragte der Verteidiger des Angeklagten C. S., den für den 08.04.2020 festgesetzten Hauptverhandlungstermin in der unter dem Aktenzeichen 630 KLs 3/15 geführten Nichthaftsache vor dem Landgericht Hamburg, Große Strafkammer 30, im Hinblick auf die Infektionsrisiken mit dem Corona-Virus aufzuheben und die Hauptverhandlung – auch unter Hinweis auf die neuen gesetzlichen Unterbrechungsmöglichkeiten „für die höchstmögliche Unterbrechungsfrist zu unterbrechen“. Es ist bereits an 32 Sitzungstagen verhandelt worden, über den 08.04.2020 hinaus sind noch zehn weitere Termine bis zum 22.06.2020 festgesetzt. Neben dem Hinweis auf die allgemeinen Verhaltensregeln und Bemühungen zur Eindämmung der Infektionsrate hat der Verteidiger auch konkrete Risikofaktoren geltend gemacht, so die gesundheitliche Situation seiner Ehefrau und seines Mandanten. Alle – insgesamt vier – Angeklagten gehörten im Übrigen altersbedingt zur Risikogruppe.

Mit Verfügung vom selben Tag hat der Vorsitzende den Antrag zurückgewiesen, da ein „allenfalls geringes Ansteckungsrisiko“ bestehe und die Maßnahmen bereits griffen. Nach seiner Kenntnis habe sich kein Verfahrensbeteiligter in einem Risikogebiet aufgehalten, sei kein Verfahrensbeteiligter an Covid-19 erkrankt oder stehe im Verdacht, sich infiziert zu haben. Das Infektionsrisiko könne zudem durch geeignete Maßnahmen – Sicherheitsabstand, regelmäßige Pausen, den Verfahrensbeteiligten anheimgestellte zusätzliche Schutzkleidung – minimiert werden.

Gegen die Verfügung richtet sich die Beschwerde vom 03.04.2020, mit der die Aufhebung des Termins am 08.04.2020 beantragt wird. Die Kammer hat der Beschwerde mit Verfügung vom 06.04.2020 nicht abgeholfen. Zur Begründung hat der Vorsitzende geltend gemacht, dass angesichts der bisherigen rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerungen – der Dienstaufsichtsbeschwerde des Verteidigers zufolge wurde die Anklage am 30.01.2014 beim Amtsgericht erhoben und nach Vorlage zum Landgericht Hamburg dort am 27.03.2015 eröffnet – die weitere Durchführung der Hauptverhandlung geboten sei, zumal seit Juni 2019 bereits an 32 Sitzungstagen verhandelt worden sei und das Verfahren kurz vor dem Abschluss stehe. Die konkrete Gefahrenlage auch hinsichtlich des Alters und der Vorerkrankungen sei berücksichtigt worden, der notwendige Sicherheitsabstand könne durch die Sitzordnung gewährleistet werden. Im Übrigen sei ein Arzt mit den „notwendigen Fachkenntnissen in Sachen Covid-19“ im Saal.

Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen.

Mit Schriftsatz vom 06.04.2020 seines Verteidigers hat sich der Angeklagte A. der Beschwerde angeschlossen. Auch dieser Beschwerde hat der der Vorsitzende mit Verfügung vom selben Tag nicht abgeholfen. Mit Schreiben vom heutigen Tage wurde die Beschwerde weiter begründet.

II.

Die Beschwerde ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.

1. § 305 Abs. 1 Satz 1 StPO steht der Anfechtung nicht entgegen. Zwar unterliegen nach dieser Vorschrift Entscheidungen, die der Urteilsfällung vorausgehen, insbesondere auch Terminsverfügungen des Vorsitzenden, grundsätzlich nicht der Beschwerde. Damit sind aber nur solche Entscheidungen gemeint, die im inneren Zusammenhang mit dem nachfolgenden Urteil stehen, ausschließlich seiner Vorbereitung dienen und keine weiteren Verfahrenswirkungen erzeugen (OLG Frankfurt StV 1990, 201; OLG Braunschweig StraFo 1996, 59 mwN). Maßnahmen, die eine vom Urteil nicht umfasste, selbständige Beschwer eines Verfahrensbeteiligten bewirken sowie vom erkennenden Gericht nicht bei Erlass des Urteils und auch nicht im Rahmen einer Urteilsanfechtung nachprüfbar sind, bleiben selbständig anfechtbar. Überprüfbar ist im Rahmen einer Terminsverfügung aber nur die Frage, ob der Vorsitzende sein Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt und dadurch eine selbständige Beschwer für Prozessbeteiligte bewirkt hat, dagegen nicht die Zweckmäßigkeit einer Terminsbestimmung (vgl. OLG Braunschweig aaO; KG Berlin, Beschlüsse vom 5. Juni 2001 – 4 Ws 80/01 – und 9.12.2016 – 4 Ws 191/16 – , jeweils m.w.N.).

Bei der dem Vorsitzenden obliegenden Prüfung hat dieser sämtliche Gesichtspunkte erkennbar in Betracht zu ziehen und sachgerecht zu gewichten, die für die Abwägung der Interessen aller Prozessbeteiligten mit den Interessen der Strafrechtspflege bedeutsam sind (vgl. Senat, Beschluss vom 20. Februar 2013 – 4 Ws 28/13 – m.w.N.). Insbesondere hat er den im Strafverfahren im Allgemeinen, nicht nur in Untersuchungshaftfällen, geltenden Beschleunigungsgrundsatz (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK) zu beachten, der nicht nur dem Schutz des Angeklagten dient, sondern auch im öffentlichen Interesse liegt (vgl. dazu näher OLG Braunschweig aaO; KG Berlin, Beschluss vom 5. Juni 2001 – 4 Ws 80/01 -, jeweils m.w.N.).

2. Nach diesem Maßstab ist die Entscheidung des Vorsitzenden ermessensfehlerhaft, die Beschwerde demnach zulässig und begründet.

Die konkrete Risikosituation hat keine ausreichende Berücksichtigung gefunden: Zu berücksichtigen gewesen wären nicht nur die Infektionsrisiken der – altersbedingt – der Risikogruppe zuzurechnenden Angeklagten, sondern auch die erheblichen Risiken im familiären Umfeld des Verteidigers des Angeklagten C. S.. Eine angemessene Risikobewertung setzt in diesem Zusammenhang vor allem voraus, dass der dem Senat bekanntgewordene Umstand weiter aufgeklärt wird, dass ein – allerdings nicht der Sitzgruppe zugehöriges und damit nicht verfahrensbeteiligtes – Mitglied der Kammer an Covid-19 erkrankt ist. Insoweit wären die möglichen Infektionsketten zu überprüfen. Dass die Risiken durch anheimgestellte Sicherungsmaßnahmen der Verfahrensbeteiligten weiter reduziert werden könnten, geht mangels einer verbindlichen Regelung und unklarer Verfügbarkeit von Schutzkleidungen fehl. Der Hinweis auf einen in der Sitzung anwesenden Intensivmediziner spricht nicht für die geltend gemachte Einschätzung der Kammer, es handele sich nur um ein geringes Risiko.

Die Berufung auf das Beschleunigungsgebot verfängt vorliegend offensichtlich nicht: Es handelt sich nicht um eine Haftsache. Das Verfahren ist ohnehin bereits erheblich und in rechtsstaatswidriger Weise verzögert worden. Verzögerungen aus den hier in Rede stehenden Gründen sind nicht rechtsstaatswidrig und es ist nicht ersichtlich, warum eine vorangegangene rechtsstaatswidrige Verzögerung eine rechtsstaatskonforme Verzögerung hindern könnte. Die Erwartung von vollstreckbaren Freiheitsstrafen, die mit der Nichtabhilfeentscheidung geltend gemacht wird, mag eine gewisse Bedeutung des Verfahrens indizieren, steht aber in keinem ersichtlichen Zusammenhang zur Beschleunigung und zur oben genannten Risikobewertung.

Der Hauptverhandlungstermin vom 08.04.2020 war danach aufzuheben.

Vor weiteren Hauptverhandlungsterminen werden die Situation des erkrankten Kammermitgliedes und ihre Auswirkungen auf die Infektionsrisiken aufzuklären sein. Bei der weiteren Terminierung wird die Kammer im Übrigen neben dem jeweiligen Stand der allgemeinen Anordnungen zur Eindämmung der Infektionsrisiken die erwähnten konkreten Risiken für die Verfahrensbeteiligten zu berücksichtigen haben.

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