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Pflichtverteidigerbeiordnung – notwendige Verteidigung bei Bagatelldelikt

LG Dessau-Roßlau, Az.: 8 Qs 393 Js 8013/15 (149/15), Beschluss vom 10.09.2015

Auf die Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss des Amtsgerichts Dessau-Roßlau vom 30.06.2015, Az.: 11 Ds 116/15 (393 Js 8013/15), aufgehoben.

Dem Angeklagten wird ab heute (10.09.2015) Rechtsanwalt … F, Braunschweig, als notwendiger Verteidiger beigeordnet.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens, einschließlich der diesbezüglichen notwendigen Auslagen des Angeklagten, hat die Staatskasse zu tragen.

Gründe

I.

Pflichtverteidigerbeiordnung - notwendige Verteidigung bei Bagatelldelikt
Symbolfoto: Von Rommel Canlas /Shutterstock.com

Dem Angeklagten wird in der Anklage der Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau vom 16.04.2015, Az.: 393 Js 8013/15, zur Last gelegt, am 19.02.2015 gegen 12.15 Uhr in Dessau-Roßlau und anderenorts die Beförderung durch ein Verkehrsmittel in der Absicht erschlichen zu haben, das Entgelt nicht zu entrichten, indem er mit der Regionalbahn 37263 von Dessau nach Marke gefahren sei, ohne im Besitz eines gültigen Fahrausweises zu sein, in der Absicht, den Fahrpreis (2,10 €) zu sparen.

Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 07.05.2015 beantragte der Angeklagte, ihm Rechtsanwalt … F als notwendigen Verteidiger beizuordnen.

Durch den vorgenannten Beschluss vom 30.06.2015 wies das Amtsgericht den Antrag des Angeklagten auf Beiordnung von Rechtsanwalt … F als Pflichtverteidiger zurück. Zur Begründung führte das Amtsgericht im Wesentlichen aus, dass weder die Schwere der Tat noch die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Beiordnung eines Verteidigers geboten erscheinen lasse und auch die Dauer der Reststrafenbewährung in dem Verfahren 431 Js 13602/12 vorliegend keine Verteidigerbeiordnung gebiete, zumal der Wert der angeblich erschlichenen Leistung 2,10 € betrage.

Gegen diesen Beschluss legte der Angeklagte mit anwaltlichem Schriftsatz vom 14.07.2015 Beschwerde ein und führte hierzu aus, dass der Angeklagte in zwei Verfahren unter Bewährung stehe und es nicht auf den Wert der angeblich erschlichenen Leistung ankomme, sondern allein darauf, dass ein Widerruf der bestehenden Bewährungen im Falle einer Verurteilung drohe.

Das Amtsgericht half der Beschwerde des Angeklagten nicht ab und legte die Sache dem Landgericht Dessau-Roßlau – Beschwerdekammer – vor.

II.

Die Beschwerde des Angeklagten ist gemäß § 304 StPO zulässig und hat in der Sache Erfolg.

Dem Angeklagten war vorliegend wegen der Schwere der Tat gemäß § 140 Abs. 2 StPO ab dem heutigen Tag, da eine rückwirkende Bestellung unzulässig ist, Rechtsanwalt F. als Verteidiger beizuordnen.

Der Angeklagte ist bereits mehrfach, zum Teil einschlägig, strafrechtlich in Erscheinung getreten. Die ihn betreffende Auskunft aus dem Bundeszentralregister vom 14.04.2015 weist insgesamt sieben Eintragungen aus.

Insbesondere wurde der Angeklagte am 15.10.2012, rechtskräftig seit dem selben Tag, wegen Diebstahls in drei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, Beleidigung in drei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und in weiterer Tateinheit mit Bedrohung, sowie wegen Leistungserschleichung in vier Fällen (Datum der letzten Tat: 26.07.2011) unter Einbeziehung dreier Vorverurteilungen zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und 10 Monaten verurteilt, Az.: 12 Ls 33/12 – 431 Js 13602/12.

Die gegen ihn verhängte Jugendstrafe verbüßte der Angeklagte ab September 2012 in der JA Ra., wobei das Strafende auf den 26.07.2015 notiert wurde. Die Vollstreckung der restlichen Jugendstrafe wurde am 02.12.2014 bis zum 10.12.2016 zur Bewährung ausgesetzt und der Angeklagte aufgrund der Weihnachtsamnestie und anzurechnender Tage sodann bereits am 12.12.2014 aus der Strafhaft entlassen.

Des Weiteren wurde gegen den Angeklagten durch Urteil des Amtsgerichts Dessau-Roßlau vom 26.06.2014, rechtskräftig seit dem 04.07.2014, wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte, Erschleichens von Leistungen, fahrlässiger Körperverletzung, versuchter Körperverletzung, gefährlicher Körperverletzung und Beleidigung in vier Fällen ein Schuldspruch nach § 27 JGG verhängt, Az.: 12 Ls 10/13 (306 Js 17013/12).

Mit Beschluss des Amtsgerichts Dessau-Roßlau vom 26.06.2014, Az.: 12 Ls 10/13 (306 Js 17013/12), wurde die Bewährungszeit auf ein Jahr festgesetzt. Ferner wurden dem Angeklagten unter anderem für die Zeit nach seiner Haftentlassung (aus der JA Ra., in der sich der Angeklagte zum damaligen Zeitpunkt auf Grund des Urteils des Amtsgerichts Dessau-Roßlau vom 15.10.2012 befand) weitere Weisungen erteilt, auf die wegen weiterer Einzelheiten verwiesen wird.

Hinsichtlich der dem Angeklagten zur Last gelegten Taten wird auf das vorgenannte Urteil des Amtsgerichts Dessau Roßlau vom 26.06.2014 Bezug genommen.

Bezüglich der verhängten Sanktion ist im Urteil des Amtsgerichts Dessau-Roßlau vom 26.06.2014 folgendes ausgeführt:

„Der Angeklagte ist wegen seiner Taten zu bestrafen, dies nach Jugendrecht. Der Angeklagte war zum Zeitpunkt der Begehung der Taten zwar um 20 Jahre alt, dennoch ist das Gericht zu der Auffassung gelangt, dass es beim Angeklagten aufgrund seiner Persönlichkeitsentwicklung angemessen ist, für die Sanktionierung Jugendrecht anzuwenden. Beim Angeklagten liegen eindeutig Entwicklungsverzögerungen vor, diese gründen sich zum einen darin, dass es bei ihm früh zu erzieherischen Problemen kam, zum anderen gründen sie sich darin, dass der Angeklagte sehr früh anfing, massiv Drogen zu nehmen, was sich wiederum auf seine soziale Entwicklung massiv negativ auswirkte.

Zum Zeitpunkt der Begehung der Taten waren beim Angeklagten schädliche Neigungen vorhanden. Dies zeigt sich zum einen in der Vielzahl von Straftaten, die im jetzigen Urteil abzuurteilen sind. Des Weiteren ist es so, dass der Angeklagte zum Zeitpunkt der Begehung der Straftaten schon massiv vorbelastet war. Ob bei dem Angeklagten im momentanen Stadium jedoch noch schädliche Neigungen vorliegen, ist gerade nicht sicher. Der Angeklagte hat nunmehr geraume Zeit in der Jugendanstalt zugebracht, er hat sich dort positiv entwickelt. Beim Angeklagten ist es offensichtlich so, dass er verstanden hat, dass er sein Leben ordnen muss und dass er insbesondere auch versuchen muss, drogenfrei zu leben. Diese Entwicklung des Angeklagten bietet Anlass zu der Hoffnung, dass bei ihm im momentanen Stadium und auch in der Zukunft keine schädlichen Neigungen mehr vorhanden sind bzw. vorhanden sein werden. Sicher ist dies aber nicht, insbesondere besteht beim Angeklagten, der massiv drogenabhängig war, die Gefahr, dass er nach seiner Haftentlassung wieder in alte Verhaltensmuster zurückfällt und wieder drogenabhängig wird, was dann mit ziemlicher Sicherheit auch zur Folge hätte, dass er wieder Straftaten begeht. Bei allen diesen Gegebenheiten war hier die Entscheidung über die Verhängung einer Jugendstrafe gemäß § 27 JGG zur Bewährung auszureizen. Der Angeklagte soll die Chance und die Gelegenheit haben, zu beweisen, dass bei ihm schädliche Neigungen tatsächlich nicht mehr vorliegen. Insofern war es gemäß § 31 III JGG dann auch gerechtfertigt, die Verurteilung vom 15.10.2012 in die jetzige Verurteilung nicht einzubeziehen und hier eine isolierte Sanktion anzuordnen.“

Die im vorliegenden Verfahren in Rede stehende Tat soll sich am 19.02.2015, also gerade etwa zwei Monate nach der am 12.12.2014 erfolgten Entlassung des Angeklagten aus der Strafhaft, ereignet haben, mithin innerhalb zweier laufender Bewährungszeiten.

Würde sich dieses Tatgeschehen, welches der Angeklagte leugnet, im Rahmen der noch durchzuführenden Beweisaufnahme bestätigen, so hätte der Angeklagte hiermit zum Ausdruck gebracht, dass ihn der Umstand, sich nur wenige Monate zuvor in Strafhaft befunden zu haben, nicht nachhaltig zu beeindrucken vermochte. Dies würde mithin auch darauf hindeuten, dass die von dem Amtsgericht für die Taten, die Gegenstand des Urteils des Amtsgerichts vom 26.06.2014 waren, angenommenen schädlichen Neigungen des Angeklagten nicht überwunden sind.

Das Kriterium der Schwere der Tat im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO beurteilt sich nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung.

Vorliegend steht zwar für sich alleine genommen ein Bagatelldelikt zur Verhandlung. Im Rahmen des Kriteriums der Schwere der Tat sind aber nicht nur die Straferwartung, sondern auch sonstige schwerwiegende Nachteile zu berücksichtigen, die der Angeklagte infolge einer Verurteilung zu gewärtigen hätte, so zum Beispiel ein drohender Bewährungswiderruf.

Aufgrund des Umstandes, dass der Verurteilte mit einem kurzen Rückfallintervall innerhalb zweier laufender Bewährungszeiten, eine Verurteilung im vorliegenden Fall unterstellt, erneut strafrechtlich und zwar auch einschlägig in Erscheinung getreten wäre, dürfte ihm nach gegenwärtiger Sachlage der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung in dem Verfahren zu dem Az.: 431 Js 13602/12 drohen, so dass bei rechtskräftigem Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung eine restliche Jugendstrafe von etwa sieben Monaten zu verbüßen wäre.

In dem Verfahren zu dem Az.: 306 Js 17013/12 hätte er gemäß § 30 JGG zudem damit zu rechnen, dass ihm im Nachverfahren die Verhängung einer zumindest mehrmonatigen Einheitsjugendstrafe droht, so dass er in Zusammenschau der zu erwartenden Sanktionen durchaus mit einer Straferwartung von mehr als einem Jahr Jugendstrafe und einer weiteren Sanktion nach allgemeinem Strafrecht für die hier in Rede stehende Tat zu rechnen hätte.

Auf Grund dieser besonderen Gegebenheiten des Einzelfalls war dem Angeklagten daher ein Pflichtverteidiger zu bestellen.

Die Kostentscheidung beruht auf § 467 Abs. 1 StPO analog.

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